60 . Kapitel

P oe hatte schon öfter Menschen sterben sehen. Zu viele Male. In der allgemeinen Wahrnehmung galt es als selbstverständlich, dass Polizisten in Sachen Tod desensibilisiert wurden, doch er war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Bei ihm jedenfalls nicht. Die Toten blieben ihm. Suchten seine Träume heim und beschäftigten seine wachen Stunden. Sie waren der Soundtrack seines Lebens, und der Tag, an dem er sie nicht mehr hören konnte, würde der Tag sein, an dem er seinen Dienstausweis zurückgab. Poe musste inmitten der Toten leben. So beschützte er die Lebenden.

Ärzte jedoch, vor allem solche, die bereits ein paar Jahre auf dem Buckel hatten wie Dr. Mukherjee, begegneten dem Tod jeden Tag. Desensibilisierung war bestimmt die einzige Möglichkeit, damit zurechtzukommen. Und für Pflegekräfte galt dasselbe.

Nichtsdestotrotz würde dieser Tod die Männer und Frauen, die sich um Karen Royal-Cross’ Bett versammelt hatten, hart treffen. Sie wirkten verstört, aber da war auch noch etwas anderes. Scham vielleicht? Diese Frau, diese widerwärtige Rassistin, war fit und gesund in ihre Obhut gegeben worden, würde die Station jedoch in einem wasserdichten Leichensack verlassen.

Karen Royal-Cross lag nicht mehr in dem Isolierzelt. Das einzige Geräusch rund um das Bett kam von dem Beatmungsgerät. Es hörte sich an, als stünde Darth Vader neben einer tickenden Uhr. Poe betrachtete die Apparate, die ihre Vitalzeichen überwachten. Er kannte die optimalen Werte für Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Atemtiefe nicht, aber er wusste, wann die Körpertemperatur gefährlich hoch und die Herzfrequenz viel zu niedrig war.

Ohne Vorwarnung ging eine ganze Serie Alarme los. Niemand aus dem Team rührte sich. Schließlich trat Mukherjee vor und fühlte Karen Royal-Cross den Puls. Dann hob er ein Augenlid an und leuchtete ihr mit einer kleinen Stablampe ins Auge.

»Eintritt des Todes um genau zehn Uhr«, verkündete er. »Bitte dokumentieren Sie das.«

Assistenzarzt Ben notierte etwas auf einem Formular, während eine Schwester sich daranmachte, Karen Royal-Cross von allem abzukoppeln, womit sie verkabelt gewesen war. Eine andere Schwester schaltete das Beatmungsgerät aus. In der Betteneinheit wurde es still.

Mukherjee füllte die Stille.

»Diese Frau mag unappetitliche Ansichten gehabt haben, Sergeant Poe, aber sie war trotzdem jemandes Tochter. Ich habe vorhin mit ihren Eltern gesprochen, und jetzt muss ich ihnen sagen, dass sie tot ist. Bitte schnappen Sie diesen Mann, bevor ein anderer Arzt sich zu so einem Anruf gezwungen sieht.«

»Ich kriege ihn«, versprach Poe.

Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Eine SMS von Bradshaw.

»Wenn man vom Teufel spricht«, brummte er. »Er ist gerade am Telefon.«