64 . Kapitel

H enning Stahls Verwandlung war bemerkenswert. Das Erste, was Poe auffiel, war, dass man ihn sah, bevor man ihn roch. Das allein war schon die exorbitanten Kosten für die Entzugsklinik wert gewesen. Er trug saubere Sachen und hatte sich rasiert. Sein Haar war gewaschen und gekämmt. Und auch wenn er noch nicht aussah wie das blühende Leben, so sah er zumindest nicht mehr grau und fleckig aus.

Poe gab ihm die Hand. Stahls Hand war trocken.

»Sie sehen besser aus, Henning«, bemerkte er.

»Wir müssen reden«, sagte Stahl.

»Wie meinen Sie das, ›der alte Preis ist der neue Preis‹?«, fragte Poe.

Sie waren auf der Rückfahrt nach London, und Poe saß seit zwanzig Minuten im ersten Gang fest. Er dachte, vor ihnen hätte es vielleicht einen Unfall gegeben, doch der Berufsverkehr war noch nicht ganz vorbei, also war der Grund für die Verzögerung völlig offen.

»Ich will etwas«, sagte Stahl.

»Na klar wollen Sie etwas.«

»Hören Sie, mir ist klar, dass Ihr Einschreiten mir wahrscheinlich das Leben gerettet hat, Poe, aber ich habe das Gefühl, dass ich jetzt ein paar Karten mehr in der Hand halte.«

»Das hier ist kein Spiel, Henning.«

»Nein, ist es nicht. Und deshalb verdiene ich auch mehr.«

»Also, was wollen Sie?«, seufzte Poe.

»Exklusiven Zugriff auf die Ermittlungen.«

»Und warum sollten wir das zulassen?«

»Weil es richtig ist.«

»Ach ja?«

»Dieser Mann hat bisher zwei Menschen umgebracht, und …«

»Drei«, verbesserte Poe. »Karen Royal-Cross ist heute Morgen gestorben.«

»Er ist im Krankenhaus an sie rangekommen? Trotz all der Sicherungsvorkehrungen, die Sie getroffen hatten?«

»Jep.«

»Das tut mir leid«, sagte Stahl, »aber ich finde, es macht meine Forderung noch realistischer.«

»Weiter.«

»Sie sagen, Sie wissen nicht, warum er mich ausgesucht hat.«

»Wissen wir auch nicht.«

»Aber Sie stimmen mir zu, dass es andere, weniger … kompromittierte Journalisten gibt, an die er sich hätte wenden können?«

»Das ist eine Untertreibung«, knurrte Poe.

»Wenn er sich also jemanden hätte aussuchen können, der …«

»Der kein Arschloch ist?«

»Ich wollte sagen, passender ist, aber wir bleiben bei Ihrer Definition, wenn Ihnen das lieber ist. Wenn er sich jemanden hätte aussuchen können, der kein Arschloch ist, dann hätte er das getan, und das heißt, entweder kennt er mich oder er will mich umbringen. Sie sind ein intelligenter Mann. Ich weiß, dass Sie bereits zu diesem Schluss gekommen sind. Und trotzdem wollen Sie, dass ich mich mit ihm treffe. Das heißt, bis zu einem gewissen Grad halten Sie mich für entbehrlich.«

»Das ist jetzt ein bisschen krass.«

»Würden Sie zulassen, dass Tilly sich mit ihm trifft?«

Poe antwortete nicht.

»Ich mache mir keinerlei Illusionen darüber, dass niemand mir eine Träne nachweinen würde«, fuhr Stahl fort, »aber ich habe hier eine zweite Chance, Poe. Wie viele Leute können das von sich behaupten? Die Ärzte haben mich ausgenüchtert, und ich nehme Antabuse. Ich packe das Leben mit beiden Händen.«

»Was ist Antabuse?«

»Mein Medikament. Wenn ich Alkohol trinke, auch wenn’s nur ganz wenig ist, wird mir sehr schnell sehr schlecht. Das ist sowohl ein physisches als auch ein psychologisches Abschreckungsmittel. Ich nehme es morgens, wenn ich am motiviertesten bin, und es hält den ganzen Tag an.«

Poe schaute kurz zu Stahl hinüber; er war sich nicht sicher, ob er ihm glauben sollte. Antabuse hörte sich zu gut an, um wahr zu sein. Er würde Bradshaw das später überprüfen lassen. Es war wichtig, dass Stahl am Sonntag nüchtern war. Ein betrunkener Stahl könnte sich verplappern, und obgleich der größte Teil der Polizeioperation vor ihm geheim gehalten werden würde, gab es doch bestimmte Dinge, die man ihm würde sagen müssen.

»Und was haben Sie mit dieser neu verhandelten Exklusivität vor?«, wollte er wissen.

»Ich schreibe ein Buch über diesen Fall. Ich werde ein Buch schreiben, und dieses Buch wird Preise absahnen. Und mit dem Geld und der Anerkennung, die mit besagtem Buch und besagten Auszeichnungen einhergehen, baue ich meine Karriere neu auf. Und als Gegenleistung bekommen Sie meine volle Kooperation. Von jetzt an, bis es vorbei ist.«

Obwohl das kein attraktives Angebot war, wusste Poe, dass Mathers es annehmen würde. Es war möglich, dass der Botaniker Stahl persönlich kannte, also konnte sie es nicht riskieren, ein Double zu schicken und zu hoffen, dass er es erst merkte, wenn es zu spät war. Und sie konnten Stahl nicht zwingen, sich mit ihm zu treffen – wie er ganz richtig gesagt hatte, könnte der Botaniker versuchen, ihn umzubringen.

»Ich frage Detective Chief Superintendent Mathers«, brummte Poe. »Mal sehen, was sie sagt. Sie bekommen allerdings keinen direkten Zugriff auf die Ermittlungen; Sie bekommen nur Zugriff, wenn dadurch nichts kompromittiert wird. Aber ich denke, in Sachen Exklusivität können wir uns einigen.«

»Soll mir recht sein«, antwortete Stahl. »Solange ich das Buch schreiben kann, bevor es irgendjemand anders tut.«