76 . Kapitel

D as sah ja ganz schön heftig aus, Ma’am«, sagte Poe zu Mathers, nachdem sie endlich aus Scotland Yard weggekommen war.

»Sie haben zugesehen?«

»Tilly hat Zugang zu Ihren Systemen bekommen, als sie die Videos von Jumping Jack analysiert hat. Sie steigt nie aus einem System aus, ohne eine Hintertür einzubauen. Wir haben’s uns live angeschaut.«

»Hätte ich mir denken können.« Sie grinste. »Und es war gar nicht so schlimm. Nicht wirklich. Wir sind hier in einer Organisation, die auf Befehl und Kontrolle basiert, und es ist etwas schiefgelaufen. Zu ermitteln, wieso, ist ein wichtiger Bestandteil dessen, was wir tun.«

»Aber Ratface hätte doch nicht so arschig sein müssen.«

»Wer?«

»Der Typ, der die Fragen gestellt hat.«

»Commander Ratfield? Der ist okay. Wo sind denn die anderen alle?«

»Tilly ist irgendwelches Equipment besorgen gegangen, das sie braucht, und DI Flynn ist mit Douglas Salt unten. Henning Stahl ist auf dem Rückweg von der Fragestunde zum Chance’s Park. Ich dachte, es ist am besten, wenn er bei uns bleibt; ich bezweifle, dass sein Part bei der ganzen Nummer schon erledigt ist.«

»Das glaube ich auch nicht«, stimmte Mathers zu. »Diesen Umschlag hätte doch jeder in Empfang nehmen können. Wie nimmt Salt das Ganze auf?«

»Nicht gut. Quatscht ständig von seinen verdammten Aktionären.«

»Nimmt er’s ernst?«

»Ich musste ihm sagen, wie hoch wir seine Überlebenschancen einschätzen.«

Sie nickte. »Ist Ihre Schutztruppe hier?«

»Ja.«

»Dann sollte ich die Herrschaften wohl mal kennenlernen.«

Poe hatte gesagt, die Definition von »ein Vollpfosten sein« wäre, wieder und wieder dasselbe zu tun und dabei ein anderes Ergebnis zu erwarten. Flynn hatte ihm dazu gratuliert, dass er Einsteins berühmtes Wahnsinn-Zitat verfälscht hätte. Bradshaw hatte angemerkt, das Zitat sei Einstein fälschlicherweise zugeschrieben worden, und inzwischen sei allgemein anerkannt, dass es aus einem Roman von Rita Mae Brown aus dem Jahr 1983 stamme. Poe hatte gefragt, woher sie das wisse.

»Weil ich nicht nur Bücher von Carl Hiaasen lese, Poe, deswegen.«

»Ist ja auch egal«, hatte er zurückgegeben. »Wichtig ist, als Harrison Cummings und Karen Royal-Cross umgekommen sind, sind sie von Leuten geschützt worden, die wir nicht kannten. Wir haben ihnen vertraut, weil man uns gesagt hat, sie wären vertrauenswürdig.«

»Und worauf wollen Sie jetzt hinaus?«, hatte Flynn gefragt.

»Würden Sie eine Fremde als Babysitterin für Scrapper anstellen?«

Scrapper war der Spitzname, mit dem er Flynns Sohn bedacht hatte. Der Kleine war unter absolut fürchterlichen Umständen zur Welt gekommen, und der Name war hängen geblieben. Poe war sich nicht mehr ganz sicher, wie der Junge tatsächlich hieß. Adam vielleicht. Flynns Lebensgefährtin Zoe funkelte ihn jedes Mal böse an, wenn er den Namen Scrapper laut aussprach.

»Zoe und ich bezahlen ab und zu für professionelle Kinderbetreuung«, hatte Flynn geantwortet. »Und wir wissen nicht immer, wen die schicken.«

»Schön. Aber würden Sie sich immer noch einer Agentur anvertrauen, wenn Sie wüssten, dass der Kindesentführer aus Chitty Chitty Bang Bang in der Gegend sein Unwesen treibt?«

»Na ja, nein, dann natürlich nicht. Wenn wir dann einen Babysitter brauchten, würden wir Freunde oder Verwandte fragen … Ah, ich verstehe. An wen haben Sie denn gedacht?«

Poe hatte gegrinst.

»Ma’am, gestatten Sie mir, Ihnen Douglas Salts maßgeschneiderte Schutztruppe vorzustellen«, sagte Poe zu Mathers.

Sie hatten sich in Salts unterirdischem Heimkino versammelt. Hier gab es drei Reihen altmodischer Kinositze und sogar eine Popcornmaschine. Einer aus dem Team hatte gefragt, ob er sie anschalten dürfe.

»Klar«, hatte Poe geantwortet. »Ich meine, der raffinierteste Giftmörder in der Geschichte der Menschheit versucht gerade, Mr Salt umzubringen, aber sicher, nur zu, futtern Sie ruhig sein Popcorn.«

Die Maschine blieb aus.

»Zuerst das Team für’s Haus«, sagte er jetzt. »Detective Superintendent Nightingale kennen Sie ja schon vom Chance’s Park her.«

»Schön, Sie wiederzusehen, Jo«, sagte Mathers.

»Hoffen wir diesmal auf ein besseres Ergebnis, Alice.«

»Das hier sind Ian Gamble, Detective Sergeant Andrew Rigg und Detective Constable Anne Hawthorne«, fuhr Poe fort. »Alle aus Cumbria. Ian war Leiter der Abteilung für Schwerverbrechen, bevor er in Rente gegangen ist. Ich vertraue ihnen voll und ganz.«

»Freut mich«, sagte Mathers. Dann deutete sie auf eine Gruppe Männer in Jeans, T-Shirts und schweren Stiefeln mit Tattoos und Macho-Pose. »Und wer sind diese furchterregenden Desperados?«

»Meine Außentruppe, Ma’am. Das hier ist Jefferson Black. Er und seine Männer waren früher alle bei den Fallschirmjägern, bei den Royal Marines Commandos und sogar beim Regiment.«

»Regiment?«

»Beim SAS . Jeffersons Team wird sich in der näheren Umgebung aufhalten und Nahzielaufklärung betreiben. Zwei von seinen Leuten sind in Salts Garten, aber Sie werden sie nicht sehen. Sie sind unser Frühwarnsystem. Wenn der Botaniker glaubt, er kann sich hier unbemerkt reinschleichen, steht ihm ein sehr hässlicher Schock bevor.«

»Wohnen Sie hier im Haus, wenn Sie dienstfrei haben?«, fragte Mathers Jefferson Black.

»Das hier ist das letzte Mal, dass die beiden Trupps sich begegnen, Ma’am«, erklärte Poe. »Wir wollen die Tür so selten wie möglich öffnen.«

»Wir können sie irgendwo unterbringen, wenn Sie möchten.«

»Nein danke«, antwortete Black.

»Stellen Sie lieber nicht zu viele Fragen, Ma’am«, riet Poe. »Die Antworten könnten Ihnen nicht gefallen. Ich kenne die Männer nicht, aber ich vertraue Jefferson, und er vertraut ihnen.«

»Es gibt da ein Zitat vom Duke of Wellington, das ganz passend erscheint«, bemerkte Mathers. »Irgendwas von wegen ›Ich weiß nicht, welche Wirkung die Männer auf den Feind haben werden, aber bei Gott, mir machen sie Angst‹.«

Poe nickte. Ihm ging es genauso. Black anzuheuern war ein Risiko. Der hatte sich binnen weniger Jahre nahtlos vom Top-Chefkoch zu einem Boss des organisierten Verbrechens gewandelt. Der Konkurrenz hatte er sich in einem völlig unblutigen Coup entledigt, und soweit es möglich war, hatte er das Geschäft mit Drogen und Prostitution in Cumbria zivilisiert. Es wurde nicht mehr in der Nähe von Schulen gedealt, und die Frauen wurden geschützt und gut bezahlt. Doch auch wenn er Poe einen Gefallen schuldete, war er immer noch ein Krimineller, und seine Mitarbeiter ebenfalls. Das Gute daran war, dass der Botaniker einen solchen Schachzug nie im Leben hätte vorhersehen können.

Mathers wandte sich an beide Teams.

»Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig einspringen«, sagte sie. »Sergeant Poe glaubt, dass der Botaniker seine Opfer umbringt, indem er jemanden manipuliert, der sie beschützt. Er glaubt, dass das immer schon im Voraus arrangiert worden ist. Indem wir Leute auswählen, von denen der Botaniker nichts weiß, hoffen wir, zum ersten Mal im Vorteil zu sein. Wenn er niemanden in diesem Raum kompromittieren kann, muss er vielleicht Risiken eingehen, die er bisher vermeiden konnte. Uns ist klar, dass diese Theorie nicht von Anfang bis Ende trägt, aber im Moment ist das alles, was wir haben.«

Während Salt und Flynn in einem Kellerraum hockten und das Hausteam schlief, aß oder fernsah, warteten Poe und Bradshaw darauf, dass der Countdown auf der Beta-Website des Botanikers ablief.

Es war, als warte man darauf, dass ein Fertiggericht in der Mikrowelle gar wurde. Man wusste, es würde grässlich sein, aber man behielt den Timer trotzdem im Auge. Wartete auf das Ping, das einem verkündete, dass die Pferdefleischlasagne fertig war.

Henning Stahl gesellte sich zu ihnen. Er war im Taxi von der Nachbesprechung der Chance’s-Park-Operation gekommen. Poe hatte ihn gefragt, warum er sich nicht von einem Polizisten hatte fahren lassen. Er hätte ein bisschen allein sein müssen, hatte Stahl geantwortet. Sie ließen sich auf dem Sofa nieder und sahen dem Countdown zu. Weniger als eine Minute. Stahl klappte sein Notizbuch auf.

»Wie fühlen Sie sich im Moment, Sergeant Poe?«, fragte er.

Poe beachtete ihn nicht und hielt den Blick fest auf die Uhr gerichtet.

Dreißig Sekunden.

»Sind Sie nervös? Aufgeregt?«

Zwanzig Sekunden.

Zehn.

Fünf.

Null.

Die Website auf Bradshaws Bildschirm löste sich auf. Zwei Worte nahmen ihren Platz ein.

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