80 . Kapitel

D er Zwischenfall mit James hatte keine zehn Minuten gedauert, doch während dieser Zeit hatte die Abstimmung Fahrt aufgenommen.

Douglas Salt: 00000467

Chrissie Stringer: 00000489

»Chrissie Stringer liegt immer noch in Führung, Tilly«, bemerkte Poe.

»Warte ab bis heute Nacht, Poe.«

»Warum? Was passiert denn dann?«

»Die amerikanischen Pendler sind unterwegs. Dann ist in den sozialen Medien immer am meisten los. Bis Mitternacht liegt Douglas Salt locker vorn.«

Henning Stahl spähte in einen der Kartons, die Kurier James geliefert hatte.

»Was ist das?«, wollte er wissen.

»Ein bisschen leichte Lektüre«, antwortete Poe. »Die Leute, die in den letzten fünf Jahren große Mengen Azeton gekauft haben.«

»Aber das müssen ja Tausende sein.«

»Das hier macht neunundneunzig Prozent meiner Arbeit aus.« Bradshaw räusperte sich. »Das hier macht neunundneunzig Prozent von Tillys Arbeit aus«, fuhr er fort, ohne aus dem Tritt zu kommen.

»Darf ich mal sehen?«

»Warten Sie erst ab, bis Tilly die zu Stapeln sortiert hat. Und bitte verwenden Sie keinen von den Namen in Ihrem Buch. Azeton wird häufig benutzt, und ich bezweifele, dass unser Täter blöd genug war, seinen richtigen Namen anzugeben, als er das Zeug gekauft hat.«

»Warum machen Sie sich dann die Mühe?«

»Ermittlungen sind wie Haie, Mr Stahl. Wenn sie nicht immer weiterschwimmen, sterben sie.«

Stahl öffnete sein Notizbuch und schrieb etwas hinein. »Sie sind ein Geschenk, das immer weiter schenkt, Sergeant Poe.«

»Wenn Sie wollen, können Sie mir helfen, die Listen zu Stapeln zu sortieren, Henning Stahl«, sagte Bradshaw. »Nachdem ich sie priorisiert habe, sehen Poe und DI Flynn sie sich an.«

»Und wie wollen Sie das machen, Tilly?«

»Da der Botaniker nicht viel gebraucht hätte und bisher jedes Mal ein anderes Gift benutzt hat, würde ich mit denen anfangen, die nur einen einzigen Großeinkauf getätigt haben, und sie von der kleinsten bis zur größten Menge sortieren. Den Rest trenne ich in Individuen und Firmen, die mehr als einmal große Mengen Azeton gekauft haben. Natürlich gibt es dann Sub-Listen, die sich auf Daten und Logistik beziehen, aber ich glaube, das werden die drei Hauptkriterien sein.«

»Ich vermute, die Firmen, die das Zeug mehr als einmal gekauft haben, werden Unternehmen sein, die es für irgendwelche Fertigungsprozesse benutzen?«

»Ja, aber Poe wollte, dass sie drinbleiben.«

»Was wollte Poe, Tilly?«, fragte Flynn, die gerade ins Zimmer kam. Douglas Salt folgte ihr dicht auf den Fersen. Salt sah wütend aus, Flynn gelangweilt.

Bradshaw erklärte ihr, wie sie die Azeton-Listen zu triagieren gedachte.

»Was haben Sie beide denn so getrieben?«, erkundigte sich Poe. Er hatte darauf bestanden, dass Salt nie allein war. Flynn hatte die erste Schicht gezogen. Gamble, Nightingale und die anderen relaxten in den zahllosen unterirdischen Räumen. Hin und wieder hörte Poe das Klacken von Billardkugeln und gelegentlich ein Johlen. Vermutlich hatte Salt ein Spielzimmer, das er noch nicht gesehen hatte.

»Wir haben uns gerade den neuen James-Bond-Film angesehen, und jetzt sagt Mr Salt, er hätte Hunger.«

»Ich habe ein côte de boeuf im Kühlschrank«, verkündete Salt.

»Und was ist das?«, wollte Poe wissen.

»Eine Scheibe Vintage-Rindfleisch, das seit 1998 bei Minustemperaturen in einer belüfteten Kühlzelle gelagert wurde. Ich schmeiße den Grill an, während ich es auf Zimmertemperatur bringe. Tut mir leid, aber ich habe nur die eine Scheibe.«

»Nein«, sagte Poe.

Salt runzelte die Stirn. »Okay, in der Tiefkühltruhe sind noch mehr, aber die sind aus Saint-Mihiel importiert, für achttausend Euro das Kilo. Bitte fassen Sie’s nicht falsch auf, aber der Gaumen eines gewöhnlichen Polizisten dürfte nicht ausreichend geschult sein, um ein Steak von dieser Qualität zu schätzen zu wissen.«

»Wieso in aller Welt sollte ich das falsch auffassen?«, fragte Poe. »Und ich habe Nein gesagt, weil Sie kein extrem überteuertes Ribeye-Steak im Kühlschrank haben. Und auch nicht in Ihrer Tiefkühltruhe. Jetzt nicht mehr. Die sind weggeschmissen worden, zusammen mit allem anderen.«

»Was unterstehen …«

»Ein Giftmörder hat Sie bedroht, Mr Salt, und niemand hier kann Sie gut genug leiden, um Ihr Essen vorzukosten.«

»Fleischessen ist ungesund, Douglas Salt«, erklärte Bradshaw.

»Aber so schlimm ist die Lage auch wieder nicht«, fuhr Poe fort. »Ich lade später alle zu einer am Stück gebratenen Ziege ein. Hier gibt’s einen Marokkaner in der Nähe, da reiben sie eine ganze Ziege mit fünf verschiedenen Chilisorten ein, bevor sie sie vierundzwanzig Stunden lang im eigenen Fett garen. Dazu gibt’s das volle Programm: eingelegte Zitronen, geröstete Mandeln, alles dabei. Wenn Sie aufhören zu jammern, kriegen Sie eins von den Augen.«

»Sie sind widerwärtig«, stieß Salt hervor. Er machte auf dem Absatz kehrt und stampfte die Treppe wieder hinunter. Flynn folgte ihm und verkniff sich dabei ein Grinsen.

Poe lächelte. Das hatte Spaß gemacht.

»Er hat recht, Poe. Du bist wirklich widerwärtig«, stellte Bradshaw fest.

»Hast du schon mal eine Ziege gesehen, Tilly?«

»Natürlich.«

»In echt, meine ich.«

»Mein Gott, nein. Das wäre bestimmt voll gruselig.«

»Also, die sind widerwärtig, nicht ich. Wusstest du, dass Ziegenböcke masturbieren und auf ihren eigenen Bauch und in ihren Bart ejakulieren?«

»Wer hat dir denn das erzählt?«, fragte Bradshaw skeptisch.

»Victoria Hume. Sie hat mal versucht, welche zu halten. Sagt, das sind die Triebtäter des Bauernhofs, und man sollte die Leute dafür bezahlen, dass sie sie essen.«

Poe machte sich einen Kaffee und nahm dann Doyles Akte zur Hand. Während der nächsten Stunde las er alles darin noch einmal durch, sogar seine eigenen Notizen. Bradshaw und Stahl hockten auf allen vieren und wühlten sich durch die Azeton-Listen. Sie unterhielten sich leise, um ihn nicht zu stören.

Im letzten Teil der Akte hatte er die Kopien von den Fotos der Spurensicherung abgelegt. Sein Handy klingelte. Es war Doyles Anwältin Ania Kierczynska.

»Estelle hat darum gebeten, Sie zu sehen, Sergeant Poe«, sagte sie, nachdem sie Nettigkeiten ausgetauscht hatten.

»Wirklich? Warum denn?«

»Das wollte sie nicht sagen. Nur dass es wichtig wäre.«

»Ich werde es schwer haben, von hier wegzukommen«, meinte Poe.

»Ich dachte, sie hätte für Sie Priorität?«

»Hat sie auch. Ich schaue mir gerade ihre Akte noch mal an.«

»Und wo ist dann das Problem?«

»Haben Sie den Zeitungsartikel über meinen letzten Besuch gesehen?«

»Ja, aber Estelle hat gesagt, davon würden Sie sich nicht abschrecken lassen. Sagen Sie mir nicht, sie hat sich geirrt.«

»Sie hat sich nicht geirrt, Ania, aber ich habe strikte Anweisung, mich fürs Erste von Northumberland fernzuhalten. Das wirkt sich allmählich negativ auf den Fall hier unten aus. Und ich habe erst einmal alles gesehen, was ich brauche. Wenn es eine Antwort gibt, ist sie in meiner Akte.«

Ania antwortete nicht.

»Haben Sie ihr die Autopsieberichte zukommen lassen?«

»Ja. Glauben Sie, sie will Sie deswegen sehen?«

»Möglich wär’s. Können Sie sie fragen? Damit könnte ich einen Besuch bei ihr begründen.«

»Ich geb’s weiter«, versprach Ania. »Sie halten mich auf dem Laufenden?«

»Na klar.«

Wieder nahm Poe die Akte zur Hand. Kehrte zu den Fotos von dem Arbeitszimmer zurück. Von Elcid Doyle, tot auf seinem Stuhl. Von dem frisch gefallenen Schnee mit nur einer Spur darin. Estelle Doyles Verhaftungsfotos. Von vorn und im Profil. Sie sah trotzig, aber verletzlich aus. Es gab auch Fotos von ihren Händen, darunter ein paar, die gemacht worden waren, nachdem man Tüten darübergezogen hatte, um die Schießpulverrückstände zu bewahren. Er hielt bei dem Foto inne, das gemacht worden war, bevor die Asservatentüten aus Papier über ihre Hände gestülpt worden waren. Irgendetwas stimmte daran nicht, doch er kam nicht darauf, was es war. Es war einfach nur eine Hand. Eine zarte Hand. Eine Hand, die ein Skalpell zu führen wusste. Blass, mit blauen Adern. Roter Nagellack, makellos aufgetragen. Er blätterte zu einem Foto ihres Gesichts zurück und bestätigte im Geiste, dass der Nagellack dieselbe Farbe hatte wie ihr Lippenstift.

»Habt ihr mal einen Moment Zeit, ihr zwei?«, fragte er Bradshaw und Stahl.

Die beiden kamen von den Knien hoch. Er zeigte ihnen das Foto von Doyles Händen.

»Fällt euch daran irgendwas Komisches auf?«

»Wessen Hände sind das?«, wollte Stahl wissen.

»Das sind Estelle Doyles Hände, Henning Stahl«, erklärte Bradshaw. »Das ist eine Pathologin, mit der Poe gern arbeitet. Sie sitzt wegen des Mordes an ihrem Vater in Untersuchungshaft, aber Poe sagt, sie war’s nicht. Er hat mich gebeten, zu klären, wie jemand sich über frisch gefallenen Schnee fortbewegen könnte, ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn ich das nicht kann, wird Estelle Doyle schuldig gesprochen.«

»Schau dir mal das Foto hier an«, bat Poe. »Sag mir, was du siehst.«

Bradshaw studierte das Bild. Stahl wandte sich wieder den Azeton-Listen zu.

»Nichts Besonderes, Poe«, stellte Bradshaw nach einigen Momenten fest. »Meinst du, das sind vielleicht die Hände von jemand anderem?«

Poe furchte die Stirn. Er glaubte nicht, dass es das war. Er hatte viel Zeit damit verbracht, Doyles Hände zu beobachten, während sie die Leichen aufschnitt, die er ihr schickte. Es waren definitiv ihre. Und obgleich er sich sicher war, dass ihr jemand den Mord anhängen wollte, hatte er keinen Grund zu der Annahme, dass ein Polizeibeamter aus Northumbria dahintersteckte.

»Das sind ihre Hände, Tilly«, sagte er. »Da gibt’s gar keinen Zweifel.« Er schob das Foto wieder in die Akte und klappte sie zu. »Ich bin müde, wahrscheinlich ist es nichts weiter.«

»Du hast gute Instinkte, Poe«, meinte Bradshaw. »Wir schauen es uns noch mal an, wenn wir mit den Azetonkäufen fertig sind, nicht wahr, Henning Stahl?«

Doch Stahl antwortete nicht. Rasch blickte Poe zu ihm hinüber. Stahl schien von einem der Ausdrucke wie gebannt zu sein. Er hielt ihn in der Hand, als wäre er radioaktiv.

»Was haben Sie da, Henning?«, fragte Poe leise.

Stahl sah ihn mit ausdrucksloser Miene an.

»Was hat Mr Stahl da in der Hand, Tilly?«, fragte Poe.

»Das ist eine Seite aus dem Karton mit den Leuten, die nur einmal Azeton gekauft haben.«

»Und?«

Stahl tauchte aus seiner Trance auf und stach mit dem Zeigefinger nach einem der Namen auf der Liste.

»Ich kenne diesen Mann«, verkündete er.