81 . Kapitel

P oe drehte sich auf dem Beifahrersitz zu Henning Stahl herum. »Erzählen Sie’s mir noch mal«, sagte er. »Von Anfang an; lassen Sie nichts aus.«

Sie saßen in einem schwarzen Range Rover und rasten durch die Außenbezirke von Hemel Hempstead. Stahl saß hinten neben Mathers. Mathers’ Fahrerin, eine Zivilpolizistin namens Cat Baker, hatte das Blaulicht angeschaltet, brauchte die Sirene jedoch bis jetzt nicht. Das würde sich ändern, wenn sie den Norden von London erreichten. Mathers’ Handy klebte quasi an ihrem Ohr; sie bekam laufend Updates von ihrem Team vor Ort. Flynn und der Rest des Wachteams waren bei Douglas Salt geblieben. Poe wollte ihn nicht gefährden.

»Er heißt Dr. Frederick Beck«, sagte Stahl, »und war Pharmazieforscher bei Straikland Industries.«

»Was hat er da gemacht?«

»Neue Präparate gefunden, mit denen man Krankheiten behandeln konnte. Medikamente entwickelt, vom Labor bis zur Apotheke. So was eben.«

»Und er war gut?«

»Allem Anschein nach brillant. Er wird bei mindestens drei heute gebräuchlichen Medikamenten als wesentlicher Mitwirkender genannt.«

»Sie haben gesagt, er ›war‹ Pharmazieforscher. Was ist passiert?«

»Ich denke mal, hier komme ich ins Spiel«, meinte Stahl. »Ich war dazu verdonnert worden, bei Hintergrundrecherchen zu Straikland Industries mitzuhelfen. Die Tiefseetaucherin, die die Zeitung eingeschleust hatte …«

»Tiefseetaucher?«

»Ein Enthüllungsjournalist, der ganz und gar in die Materie einsteigt. Spielt seine Rolle manchmal monatelang, sogar jahrelang.«

»So nennen wir unsere Undercover-Leute auch, Poe«, warf Mathers ein. Noch immer hielt sie das Handy ans Ohr gedrückt. »Ich hänge in der Warteschleife, ist das zu glauben? Die wichtigste Großfahndung seit dem Yorkshire Ripper, und irgend so ein Vollidiot bei der UK Border Agency dudelt mir ›Copacabana‹ vor.«

»Die Border Agency?«

»Laut dem Computer hat Beck seinen Pass in letzter Zeit nicht benutzt, aber ich möchte das von jemand Ranghohem bestätigt bekommen. Seine Bewegungen nachzuverfolgen wird leichter sein, wenn wir wissen, dass er nicht im Ausland war. Mit anderen … Ja, hallo, kein Problem.« Lautlos formte sie mit den Lippen eine Entschuldigung und wandte sich wieder ihrem Telefonat zu.

»Weiter«, forderte Poe Stahl auf.

»Unsere Undercover-Journalistin hieß Fiona Musgrave, und sie war bei Straikland bis in die oberste Führungsebene vorgedrungen. Hat systematisches unethisches Verhalten vorgefunden.«

»Zum Beispiel?«

»Wissenschaftler, die bei Humanversuchen an allen Ecken und Enden gespart haben, Daten gefälscht haben und noch ein paar andere Sachen. In dieser Branche herrscht ein beinharter Konkurrenzkampf, und so was kommt gelegentlich vor, aber das hier war etwas anderes.«

»Inwiefern?«

»Weil es nicht auf ehrgeizige Wissenschaftler beschränkt war. Fiona hat herausgefunden, dass das Management von Straikland den verantwortlichen Mitarbeiter still und heimlich entlassen hat, wenn sie von irgendwelchen illegalen Praktiken erfahren haben, anstatt Verfahren und Sicherheitsmaßnahmen gründlichst auf den Prüfstand zu stellen. Und zwar, nachdem er oder sie dazu gebracht worden war, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. Fiona hat herausgefunden, dass das mindestens sechsmal vorgekommen ist.«

»Frederick Beck eingeschlossen?«

»Ja, weil er nicht genehmigte Menschenversuche durchgeführt hatte. Er hatte bei einer randomisierten klinischen Studie für ein Medikament gegen Adipositas das Placebo gegen ein Mittel ausgetauscht, das er in seiner Freizeit entwickelt hatte.«

»Und das ist Straikland gemeldet worden?«

»Einer von Becks Assistenten ist zum Whistleblower geworden.«

»Was hat Straikland gemacht, als sie’s erfahren haben?«

»Was sie immer gemacht haben«, antwortete Stahl. »Ihn abgefunden, ihn unterschreiben lassen, dass er die Klappe hält, und dann so getan, als wäre nichts passiert. Hat ’ne siebenstellige Abfindung kassiert.«

»Warum so viel?«

»Das Mittel, das er privat entwickelt hatte, das er gegen das Scheinmedikament ausgetauscht hat, das hat tatsächlich gewirkt. Er hat einen siebenstelligen Betrag bekommen und Straikland hat seine Forschungsergebnisse behalten.«

»Wofür ist denn dieses Mittel verwendet worden?«, wollte Poe wissen.

»Das weiß ich nicht mehr«, antwortete Stahl. »Hatte wahrscheinlich was mit seiner Frau zu tun. Sie war extrem krank und er war schließlich ganz besessen davon, ein Heilmittel zu finden. Ich weiß noch, als die Story veröffentlicht wurde, da kam er total sympathisch rüber. Seine Forschungen hatten massiv gegen die Medizinethik verstoßen, aber er hatte es mit guten Absichten getan.«

»Was hat er nach Straikland gemacht?«

»Hat eine Stelle bei einem der anderen großen Unternehmen gekriegt. Die haben ihn auch wieder entlassen, haben gesagt, sie hätten nicht gewusst, was er getan hatte. Haben sogar Klage gegen Straikland eingereicht, weil die es ihnen nicht gesagt hatten, dabei haben alle gewusst, dass das bloß ein PR -Stunt war. Big Pharma ist ’ne Drehtür, wenn’s um Top-Wissenschaftler geht – die wussten, warum Straikland sich von ihm getrennt hatte. Sie wussten es, und es war ihnen egal.«

»Und nachdem die Story veröffentlicht worden war? Wo hat er dann gearbeitet?«

»Keine Ahnung. Aber irgendwer hat ihn sich bestimmt geschnappt.«

»Echt jetzt? Er hat kein Berufsverbot bekommen oder so?«

»Wie gesagt, Beck war brillant«, sagte Stahl. »Und dank des Autonomieprinzips und der Einwilligungs-Rechtsprechung werden Tiere mehr geschützt als Menschen, wenn es um Gesundheitsleistungen geht. Man muss approbierter Tierarzt sein, um ein Tier zu behandeln, aber es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, wer Menschen behandeln darf. Und dazu gehört auch Chirurgie. Deswegen ist es auch nicht illegal, wenn sich irgendein windiger Betrüger eine Adresse in der Harley Street zulegt und kosmetische Chirurgie oder Augenlasern anbietet.«

»Ich hoffe wirklich, dass das nicht stimmt«, brummte Poe. »Aber was ich …«

»Es stimmt. Sie können’s nachprüfen.«

»Aber was ich nicht verstehe, Henning, ist, warum Tilly nicht darauf gestoßen ist, als sie darüber recherchiert hat, in was für Storys Sie involviert gewesen sind. Das wäre doch ein logischer Ansatzpunkt gewesen.«

»Das ist ganz leicht zu erklären«, erwiderte Stahl. »Mein Name wurde nie mit der Story in Verbindung gebracht, als sie rauskam.«

»Wieso nicht?«

»Wie gesagt, ich war nur an der Hintergrundrecherche zu Straikland Industries beteiligt.«

Poe ließ sich das, was er über Journalisten wusste, durch den Kopf gehen. Jemand von Stahls Kaliber hätte doch darauf bestanden, dass sein Name irgendwo in der Story genannt wurde. Vielleicht nicht im Exklusivbericht am ersten Tag, aber doch definitiv in einem der Folgeartikel.

»Nein«, knurrte er. »Da gibt’s noch was, das Sie mir nicht erzählen.«

Stahl schwieg.

»Henning?«

»Okay!«, blaffte Stahl. »Da ging das mit dem Hacking-Skandal gerade los. Die Zeitung wollte meinen Namen nirgends drinhaben. Ich war persona non grata, als die Story veröffentlicht wurde, also wurden meine Rechercheergebnisse Mark Dare zugeschrieben. Mark gab’s gar nicht, das war nur der Name, den sie verwendet haben, wenn der Name eines echten Journalisten vertraulich bleiben musste.«

Poe nickte. Das atmete den raren Dunst der Wahrheit. Ihm fiel etwas ein. »Was glauben Sie, warum er Sie für das Treffen im Chance’s Park ausgesucht hat?«, fragte er. »Wenn es hier um Rache geht, wäre die Frau, die die Story rausgebracht hat, doch bestimmt die logischere Wahl gewesen?«

Stahl dachte darüber nach. »Ja, das ergibt keinen Sinn«, meinte er. »Fiona war diejenige, die Beck bloßgestellt hat, die ihn daran gehindert hat, seiner Lebensaufgabe weiter nachzugehen. Aber die ist so ein bisschen der Typ Pfadfinderin. Eine nervtötende Streberin, aber im Großen und Ganzen ein guter Mensch. Sie umzubringen hätte die Öffentlichkeit wohl gegen ihn aufgebracht. Ich dagegen hätte durchaus ein akzeptables Opfer abgegeben, aber ich war nicht substanziell an der Story beteiligt.«

Mathers beendete ihr Telefonat. »Die Kollegen von der SCO 19 sind in Position«, verkündete sie. »Warten nur noch auf grünes Licht.«

»Werden Sie ihnen das geben?«

Die SCO 19 war die bewaffnete Spezialeinheit der Londoner Polizei. Mathers ging kein Risiko ein.

»Wann sind wir da, Cat?«, fragte sie ihre Fahrerin.

»Jetzt, Ma’am.«