D as hier haben wir in Wohnung Bravo gefunden«, sagte Mathers und zeigte auf ein Blatt Papier. »Es ist noch nicht untersucht worden, also fassen Sie’s nicht an.«
Sie erzählte Poe, dass das Blatt in einem billigen Wechselrahmen versteckt gewesen war, so einem mit einer Faserplatte als Rücken und Plexiglas vorne, die mit vier Edelstahlklammern zusammengehalten wurden. Das Blatt war zwischen die Platte und einen Aquarelldruck von einem Segelboot und einer Boje geschoben worden. Dasselbe Bild hing in Wohnung Alpha an der Wand. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gehörte es zu dem Rahmen, und der Vermieter hatte wahrscheinlich mehrere davon gekauft und alle seine Wohnungen damit dekoriert.
Die Zeichnung auf dem Blatt Papier zeigte einen umgebauten Fogger, einen Vernebler zur Ungezieferbekämpfung. Diese Dosen, manchmal auch »Ungezieferbomben« genannt, waren mit unter Druck stehendem Insektengift gefüllt und dazu gedacht, Innenräume auszuräuchern. Das Diagramm zeigte ein Modell, das für den einmaligen Gebrauch gedacht war. Oben war eine Düse wie bei einer Rasierschaumdose, doch anders als eine Rasierschaumdose entleerte sich der Fogger vollständig, nachdem auf den Knopf gedrückt worden war, wie eine Rauchgranate. Man brauchte den Knopf nicht die ganze Zeit zu drücken.
Die Zeichnung war mit Instruktionen versehen. Poe las sie mit wachsendem Entsetzen.
Mit Dose in den Wald fahren. Sicher entleeren.
Ventil eines Fahrradreifens ausbauen.
1 Loch von 2 mm und 1 Loch von 5 mm Durchmesser in die Seite der Dose bohren.
Fahrradventil in 5 -mm-Loch löten.
200 ml Lösung durch 2 -mm-Loch in Dose injizieren.
Loch zulöten.
Mit Luftpumpe durch Fahrradventil wieder Druck in Dose erzeugen.
Poe schluckte. Mit einem einzigen Druck auf den Knopf der umfunktionierten Sprühdose konnte Beck einen großen Raum mit allem füllen, was er wollte. Und von Bradshaws Ausführungen her wusste Poe, dass Rizin als Nebel absolut tödlich war.
»Wir haben einen Fahrradreifen in seiner Mülltonne gefunden«, berichtete Mathers. »Das Ventil ist weg. Er hat das Ding wirklich gebaut.«
Poe antwortete nicht. Schritt für Schritt hatte Beck geschildert, wie er eine Vorrichtung konstruiert hatte, die Dutzende Menschen töten konnte. Poe verstand nicht, warum. Beck war ein Präzisionskiller; Massenmord passte nicht zu dem, was er zu tun oder zu dem Image, das er zu vermitteln versuchte.
»Ich glaube, jetzt muss ich das CTC ins Boot holen«, sagte Mathers.
Das Counter Terrorism Command war die Anti-Terror-Einheit der Londoner Polizei.
»Bevor Sie das tun, Ma’am, können wir kurz darüber reden, was das hier bedeutet?«
»Worüber?«, fragte sie. »Über die Massenvernichtungswaffe oder über die Tatsache, dass uns dieser Arsch immer noch zehn Schritte voraus ist?«
»Den Fogger-Bauplan«, antwortete Poe. »Wieso haben wir den gefunden?«
»Er hat vergessen, ihn mitzunehmen.«
»Und warum war er dann versteckt? Sonst ist nichts versteckt.«
»Er hat einen Fehler gemacht?«
»Dieser Typ macht keine Fehler«, entgegnete Poe.
»Na, jetzt hat er einen gemacht.«
»Und wenn nicht?«
»Sie sagen, das war so geplant? Er wollte, dass wir den Plan finden?«
»Alles hier drin ist sorgfältig in Szene gesetzt worden«, sagte Poe. »Warum das hier nicht auch? Und wo wir schon mal dabei sind, so eine Sprühdose umzufunktionieren ist nicht gerade eine komplexe Aufgabe. Wie war das gleich? Ausleeren, zwei Löcher reinbohren und in eins davon ein Ventil einbauen. Mit Gift füllen und dann mit einer Luftpumpe aufpumpen. Sogar ein Bild hat er für uns gemalt, Herrgott noch mal.«
»Haben Sie eine Theorie?«
»Ich glaube, das hier ist sein Äquivalent eines Sprengstoffgürtels. Eine Warnung, was passiert, wenn er in die Enge getrieben wird.«
Mathers starrte die Zeichnung an. Las alles noch einmal. »Ich denke, Sie haben recht, Poe«, meinte sie. »Ich muss das CTC trotzdem informieren, aber ich werde darum bitten, die Ermittlungen weiter leiten zu dürfen. Und worüber wollten Sie jetzt mit mir sprechen?«
»Bitte?«
»Als ich angerufen habe, haben Sie gesagt, Sie hätten mich auch gerade anrufen wollen.«
»Beck hat einen zweiten Pass, auf den Namen Stuart Rich. Ist damit nach Rom geflogen. In Italien könnte er sich neue Papiere besorgt haben, damit könnte er überall hingereist sein.«
»Na, ist das heute ein Sahnetag oder was?« Mathers seufzte. »Mailen Sie mir die Details?«
»Hat Tilly schon getan. Und wieso fahren Sie nicht mal für ein paar Stunden nach Hause. Im Moment passiert sowieso nichts, und wir brauchen Sie frisch …« Er vollendete den Satz nicht.
»Was ist denn, Poe?«
Poe hatte einer der Beamtinnen von der Spurensicherung dabei zugesehen, wie sie den Teppich fotografierte. Er hatte angenommen, dass da irgendein Fleck war, doch nachdem sie den Teppich aus diversen Blickwinkeln aufgenommen hatte, pflückte die Frau mit einer Pinzette etwas aus den Fasern. Poe strengte seine Augen an, um zu erkennen, was es war. Pinzetten kamen nur zum Einsatz, wenn etwas zu klein war, um es mit der Hand aufzuheben. Und wenn es so klein war, dann gehörte es vielleicht nicht zu dem inszenierten Tatort.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein paar Fäden«, antwortete die Frau von der Spurensicherung. »Ist wahrscheinlich nichts weiter, aber die haben ein bisschen fehl am Platze gewirkt; der Teppich ist doch blau. Vielleicht hat er die an den Schuhen hier reingeschleppt.«
Die Fäden waren aus Baumwolle. Einer war weiß, der andere war rot. Sie waren etwa zehn Zentimeter lang.
Und sie kamen ihm bekannt vor.
Nicht aus jüngster Zeit, aber solche Fäden hatte er schon einmal gesehen. Erinnerungsfetzen tauchten auf. Ein Detail, Jahre her, das am äußersten Rand seines Gedächtnisses knabberte. Poe dachte an seine Armeezeit zurück; die Antwort musste irgendwo dort liegen.
»Was ist denn, Poe?«, fragte Mathers noch einmal.
Poe beachtete sie nicht. »Darf ich da bitte mal dran riechen?«, fragte er die Frau von der Spurensicherung.
»Dran riechen?«
»Ja.«
Die Frau sah Mathers an. Mathers zuckte die Achseln und nickte dann. Die Beamtin hielt ihm die Pinzette hin.
Poe beugte sich vor und atmete tief ein. Mit einem Ruck riss er die Augen auf. »Kricketschläger«, stieß er hervor.
Ein gewaltiges Puzzleteil war gerade an seinen Platz geglitten.
Und jemand, an dem ihm sehr viel lag, war in unmittelbarer Gefahr.