L einöl, Boss!«, schrie Poe in sein Telefon. »Tilly weiß, wovon ich rede!« Er rannte zu seinem Auto; er musste unbedingt zurück zu Salts Haus.
»Tja, ich aber nicht, Poe«, fauchte Flynn. »Kriegen Sie sich entweder wieder ein und sagen Sie’s mir oder halten Sie die Klappe, bis Sie hier sind.«
»Sekunde.«
Poe krachte auf den Fahrersitz und fuhr, ohne in den Rückspiegel zu schauen oder zu blinken, auf die Straße hinaus. Per Bluetooth verband er sein Handy mit der Freisprechanlage.
Dann holte er tief Luft und sagte: »Als Tilly und ich Estelle in Low Newton besucht haben, haben wir mit einem der Kollegen gesprochen, die als Erste am Tatort gewesen waren. Ich habe ihn gefragt, ob’s irgendwas gäbe, was er in seinem Bericht nicht erwähnt hätte.«
»Und er hat ›Leinöl‹ gesagt?«
»Also, eigentlich hat er ›Kricketschläger‹ gesagt, aber, ja, wir haben’s dann auf Leinöl eingegrenzt. Tilly hat irgendwas Wissenschaftliches darüber gesagt, warum Gerüche so detaillierte Erinnerungen auslösen.«
»Weiter.«
»In Wohnung Bravo hat eine von der Spurensicherung gerade zwei Fäden aus dem Teppich gezupft. Einen weißen und einen roten. Die haben eine Erinnerung ausgelöst.«
»An Leinöl?«
»Nein«, erwiderte Poe. »An Schusswaffen.«
»Schusswaffen?«
»Ich bin mir sicher, dass die Fäden von einer Rolle Baumwollpatches stammen, mit denen man die Läufe reinigt.«
»Das ist aber merkwürdig spezifisch.«
»Lassen Sie mich ausreden. Das Sturmgewehr sauber zu halten war in der Army von entscheidender Bedeutung. Man hat gelernt, wie man das Ding putzt, bevor man gelernt hat, damit zu schießen. Schmutzige Knarren haben Ladehemmung, saubere nicht. So einfach ist das.«
»Klingt logisch. Moderne Waffen haben ja jede Menge Kleinteile.«
»Genau«, bestätigte Poe. »Und wegen der Karbonablagerungen war der Lauf immer am wichtigsten. Wenn der Lauf verdreckt ist, wird das Gewehr ungenau. Und um den Lauf sauber zu kriegen, benutzt man eine Reinigungsschnur.«
»Eine Reinigungsschnur?«
»Das ist ein Stück Schnur mit einem dünnen Gewicht an einem Ende und einer kleinen Schlinge am anderen. Man fädelt einen Patch durch die Schlinge, lässt das Gewicht durch den Lauf rutschen und zieht die Schnur dann durch. Wenn man das ein paarmal macht, ist der Lauf makellos sauber.«
»Und Sie glauben, diese Fäden stammen von so einem Patch?«
»Ja. Und zwar weil britische Landser ganz schön dämlich sein können. Die benutzen immer wieder Patches, die zu groß sind, und denken, so geht’s schneller. Je größer das Patch, desto schneller ist der Lauf sauber.«
»Aber das funktioniert so nicht?«
»Doch, irgendwie schon. Das Problem ist, wenn man ein zu großes Patch nimmt, bleibt das Ding stecken. Und dann schieben die Jungs Panik. Entweder sie reißen die Schnur ab, oder sie versuchen, das Patch mit einem dünnen Stab aus dem Lauf zu rammen. Stecken gebliebene Putzschnüre können den Lauf ausbeulen oder zerkratzen oder alle möglichen anderen Probleme machen.«
»Ich nehme an, die Army hat eine Möglichkeit gefunden, das zu vermeiden.«
»Stimmt. Die Rollen mit den Stoffpatches sind weiß, aber alle fünf Zentimeter ist ein roter Faden eingezogen. Wenn man ein Patch abreißt und das bleibt stecken, ist man nicht schuld daran. Man hat ja die richtige Größe benutzt. Wenn man mehr als eins benutzt und stecken bleibt, sitzt man mächtig in der Scheiße.«
»Ich sehe die Verbindung immer noch nicht, Poe«, sagte Flynn. »Ihr habt ja wohl für eure Gewehre kein Leinöl benutzt?«
»Nein, wir haben Waffenöl genommen. In so kleinen Plastikflaschen. Aber die Sache ist die, die ganze Waffenindustrie hat angefangen, weiße Patchrollen mit roten Fäden zu verwenden. Oben in Cumbria kriegt man die in allen Angler- und Sportgeschäften.«
»Poe, können Sie zum …«
»Elcid Doyle hat eines der größten Raufußhuhn-Reviere in Nordengland gehört, Boss. In seinem Arbeitszimmer waren überall Gemälde von Vögeln. Ich lasse mir das von Estelles Anwältin bestätigen, aber er hatte eine Schrotflinte. Garantiert. Wahrscheinlich eine ganze Sammlung. Und die wird wertvoll gewesen sein. Wahrscheinlich Hunderttausende Pfund wert.«
Flynn antwortete nicht.
»Ich glaube, er hat gerade seine Schrotflinten gereinigt, als er erschossen wurde«, fuhr Poe fort. »Deswegen hat es in seinem Arbeitszimmer nach Leinöl gerochen. Nicht das Öl, das wir bei der Army benutzt haben, aber bei antiken Schrotflinten für die Holzteile.«
»Und?«
»Elcid Doyle hat bestimmt schon seit Jahrzehnten Schrotflintenläufe gereinigt – er hätte seine Patches nicht mit der Schere abgeschnitten; er hätte sie abgerissen. Deswegen lagen da lose Fäden herum, auf die jemand drauftreten konnte.«
»Jemand wie Frederick Beck? Sie glauben, die beiden Fälle hängen zusammen?«
»Absolut. Aus unbekannten Gründen hat Beck Elcid Doyle umgebracht, während der seine Schrotflinten gereinigt hat. Hat versucht, den Mord Estelle anzuhängen, um zu verbergen, dass er auch im Norden operiert. Während er den Mord begeht, bleiben ein paar Putzpatchfäden an seinen Schuhen hängen, und er schleppt sie mit nach London, ohne es zu merken.«
»Aber warum? Das passt doch überhaupt nicht zu seinem Streben nach Aufmerksamkeit.«
»Nein, nicht wahr? Der Mord an Elcid Doyle gehört zu seinem Plan, aber aus irgendeinem Grund sollte die Öffentlichkeit nichts davon erfahren.«
»Das ist ganz schön dürftig, Poe.«
»Stimmt.«
»Es sind doch nur ein paar Fäden.«
»Richtig.«
»Vielleicht hatte Elcid Doyle ja gar keine Schrotflinten.«
»Doch. Das können Sie mir glauben.«
»Und wo sind die dann?«
»Weiß ich nicht.«
»Sie fahren da rauf, stimmt’s?«
»Ja, Boss«, antwortete Poe. »Um den Botaniker zu schnappen, müssen wir zuerst den Mord an Elcid Doyle aufklären.«