91 . Kapitel

M athers meldete sich nach dem ersten Klingeln.

»Poe, was gibt’s?«

»Tilly und ich sind gerade an Luton vorbei.«

»Sie sind überzeugt, dass Ihr Fall mit meinem zusammenhängt?«

»Felsenfest. Ich weiß nicht, warum, ich weiß nur, dass es so ist.«

»Und die Tatsache, dass DI Flynn Tilly erlaubt hat, mitzufahren, heißt dann wohl, dass sie das genauso sieht?«

»Nein, sie …«, setzte Bradshaw an.

»Was gibt’s denn bei Ihnen, Ma’am?«, ging Poe dazwischen. Sie mussten ja nicht unbedingt an die große Glocke hängen, was für ein widerborstiges Gesocks sie manchmal sein konnten, das brachte doch nichts.

»Ich habe Neuigkeiten«, antwortete Mathers. »Gerade habe ich DI Flynn erzählt, dass es bei der Interpol-Blue-Notice einen Treffer gegeben hat.«

»Echt jetzt? Wo denn?«

»In Japan.«

»Japan?«

»Genau gesagt auf Iriomote Island.«

Poe schielte rasch zu Bradshaw hinüber.

»Das ist eine von den Yaeyama-Inseln, Poe«, sagte sie. »Sie ist tausendneunhundert Kilometer von den japanischen Hauptinseln entfernt, aber nur dreihundert von Taiwan. Neunzig Prozent der Insel sind von Dschungel und Mangrovensümpfen bedeckt.«

»Was war das für ein Treffer?« Poe fragte sich nicht zum ersten Mal, woher in aller Welt Bradshaw all so was wusste.

»Wir haben einen Anruf von der Japanese National Police Agency bekommen«, antwortete Mathers. »Die Polizei vor Ort ist zu einem verlassenen Munitionsdepot gerufen worden, das damals zur Verteidigung gegen die Amerikaner gebaut worden ist. Ein Brite ist mit einer Touristengruppe auf einem Dschungel-Treck dort gewesen. Anscheinend hat er das oft so gemacht; er hat die Leute glauben lassen, sie wären auf etwas gestoßen, was seit Jahren niemand mehr zu Gesicht bekommen hat.«

»Und das Depot war nicht mehr verlassen?«

»Nein. Statt einem leeren unterirdischen Bunker haben sie eine behelfsmäßige Krankenstation vorgefunden. Zehn Betten, und über jedem die Reste von Isolationszelten. Eine Do-it-yourself-Version der Station, auf der Karen Royal-Cross gelegen hat.«

»Und was noch?«

»An jedes Bett war ein Leichnam angekettet«, sagte Mathers leise. »Sieht aus, als wären sie Opfer medizinischer Experimente geworden. Die Beweislage deutet darauf hin, dass alle zehn Han-Chinesen waren, keine Japaner.«

»Also hätte niemand auf der Insel sie vermisst«, meinte Poe.

»Genau.«

»Wissen wir, was das für medizinische Experimente waren?«

»Sie müssen verstehen, die Bunkertüren waren absichtlich offen gelassen worden, damit die Tiere aus dem Dschungel hineinkonnten. Viel war von den Opfern nicht mehr übrig.«

»Aber?«

»Die toxikologische Untersuchung der Haare – das war so ziemlich alles, was von den armen Schweinen noch übrig war – hat ergeben, dass sie alle vergiftet worden sind.«

Poe schauderte. »Womit?«

»Vier mit Hyoscin und vier mit Tetrodotoxin.«

»Das Alraune-Gift und das Kugelfisch-Gift«, stellte Poe fest. »Beck hat die Dosis getestet.«

»Stimmt.«

»Und die letzten beiden Opfer?«

»Das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, Poe«, antwortete Mathers.

»Rizin?«

»Richtig.«

»Dafür hat er nur zwei Probanden gebraucht, weil es kein Gegengift gibt.«

»Noch mal, zu dem Schluss sind wir auch gekommen.«

»Er war’s also.«

»Ja. Sie hatten recht. Er war nicht von Anfang an ein erfolgreicher Giftmörder, er hat geübt. Indem er verschiedene Dosen getestet und die Resultate überwacht hat.«

»Und sich ans Morden gewöhnt hat.«

»Dieses abartige Schwein«, sagte Mathers.

»In Japan wäre er auch leichter an Kugelfisch-Gift rangekommen«, bemerkte Poe. »Dass er sich das in London beschafft hat, habe ich nie so recht geglaubt. Irgendjemand hätte sich daran erinnert. Aber Tilly sagt, in Japan gibt’s noch zehntausend Restaurants, die Kugelfisch anbieten.«

»Ich habe bereits die Anzahl der Kollegen reduziert, die die These von einem Privatclub bearbeiten.« Mathers hielt kurz inne. »Ich überlege, ob ich das bei einer Pressekonferenz öffentlich mache. Was meinen Sie?«

»Im Moment ist sein Vorgehen einigermaßen überschaubar, Ma’am. Nehmen Sie ihm seinen Promi-Status, und er wird zu einem unberechenbaren Rohrkrepierer mit einer Waffe, die Dutzende Menschen töten kann. An Ihrer Stelle wäre ich mit einer Pressekonferenz sehr vorsichtig.«

Sie antwortete nicht. Das gefiel Poe an ihr; sie war nicht auf ihre eigenen Ideen fixiert. Sie traf die Entscheidungen, aber erst, wenn sie alle verfügbaren Informationen hatte.

»Ich gebe das an meinen Commander weiter«, sagte sie schließlich. »Aber bis jetzt war diese Ermittlung nichts als eine Einbahnstraße der Demütigungen: die Vorwarnungen, die er uns gibt, das Debakel im Chance’s Park, dass die Presse mit voller Absicht dies Bild von Ihnen und Tilly vor dem Gefängnis in Low Newton falsch interpretiert hat. Möglicherweise wollen sie das hier nicht zurückhalten.«

»Ist Ihre Entscheidung«, sagte Poe.

»Ist Douglas Salt noch in Sicherheit?«

»Jep. Keiner rührt sich da weg. DI Flynn wird dafür sorgen, dass ihm nichts passiert.«

»Und Sie halten mich auf dem Laufenden?«

»Mach ich.«

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie jemandem Druck machen müssen.«

»Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt. Und in der Zwischenzeit ist da noch eine langsam geröstete Ziege übrig, falls jemand Hunger bekommt.«

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Mathers. »DI Flynn hat die Stadtwerke angerufen und sie entsorgen lassen.«

»Die hat mich über zweihundert Pfund gekostet!«

»Ich glaube, sie hat denen gesagt, es wäre ein toter Hund.«

Die Leitung war tot.

Poe machte ein finsteres Gesicht; Bradshaw kicherte.

Er musste noch zwei weitere Anrufe erledigen, bevor er oben im Norden ankam. Der erste war einfach. Er musste mit Estelle Doyles Anwältin Ania Kierczynska sprechen. Bradshaw wählte die Nummer für ihn. Er landete bei der Mailbox.

»Ania, hier ist Poe. Können Sie mich zurückrufen, wenn Sie das hier abhören? Sie müssen einen JiC-Kautionsantrag für Estelle stellen.«

Mit einem »Judge in Chambers«-Kautionsantrag wurde ein Richter des Staatsgerichts aufgefordert, eine Entlassung gegen Kaution in Betracht zu ziehen. Der Rechtsbeistand des Angeklagten musste ein zweiseitiges Formular ausfüllen und es vierundzwanzig Stunden vor der Anhörung einreichen, die im Büro des Richters stattfand und nicht im Gerichtssaal. Damit ein solcher Antrag Erfolg hatte, musste eine signifikante Veränderung der Umstände vorliegen. Poe berichtete kurz von dem Leinöl und den roten und weißen Baumwollfäden, die in der Wohnung des Botanikers gefunden worden waren.

Sogar in seinen Ohren hörte es sich dürftig an. Er hoffte, dass sie bis zu Anias Termin bei dem Richter etwas Überzeugenderes haben würden. Er beendete das Gespräch und zählte darauf, dass sie ihm genug vertraute, um zu tun, worum er sie gebeten hatte.

»Und jetzt der schwierige Anruf«, sagte er.

Er scrollte durch seine Kontakte, fand, was er suchte, und tippte auf das Anruf-Icon.

»Scheiße, was wollen Sie denn jetzt schon wieder, Poe?«, fauchte Detective Chief Inspector Tai-young Lee.