92 . Kapitel

D as Gespräch mit DCI Lee verlief unerwartet reibungslos. Poe erzählte ihr von seiner Theorie, und sie war überraschend offen dafür, dass er sie überprüfte. Ein bisschen zu offen vielleicht.

»Gehen Sie’s noch einmal für mich durch«, sagte sie. »Nur damit ich dem Assistant Chief den Ablauf richtig schildern kann.«

Poe beschrieb den Ablauf der Ereignisse. Wie Henning Stahl Frederick Beck auf der Liste der Personen entdeckt hatte, die größere Mengen Azeton gekauft hatten. Wie sie das zu den Wohnungen Alpha und Bravo geführt hatte. Er erklärte, dass die beiden Fäden, die im Teppichboden von Bravo gesteckt hatten, nach Leinöl gerochen hätten und dass einer ihrer eigenen Cops gesagt hatte, es hätte in Elcid Doyles Arbeitszimmer nach Kricketschlägern gerochen.

»Also ist DC Bowness daran schuld, dass ich um vier Uhr früh am Telefon hänge?«

»Tut mir leid, Ma’am.«

»Sagen Sie mir noch mal, was das alles Ihrer Meinung nach bedeutet.«

»Ich warte noch auf die Bestätigung, aber ich bin sicher, dass Elcid Doyle Schrotflinten besessen hat. Und dass er sie gereinigt hat oder gerade damit fertig war, als er ermordet worden ist.«

»Und daher die forensische Übertragung der Fäden aus Doyles Arbeitszimmer in Northumberland in eine Wohnung im Norden von London?«

»Genau.«

»Und Sie fragen sich, was aus den Schrotflinten geworden ist?«

»Richtig«, antwortete Poe. »In der Liste der Beweise, die Sie sichergestellt haben, wurden sie nicht erwähnt.«

»Weil wir keine sichergestellt haben.«

»Was keinerlei Sinn ergibt. Sie haben sein Arbeitszimmer doch gesehen – er war leidenschaftlicher Vogeljäger, er hat das größte Raufußhuhn-Revier in ganz Nordengland besessen, und wir wissen, dass es in dem Zimmer nach Leinöl gerochen hat. Die Bestätigung dafür bekomme ich bald, aber verlassen Sie sich drauf, Elcid Doyle hatte Jagdgewehre.«

Lee antwortete nicht sofort. »Okay, das finde ich interessant«, sagte sie.

»Wirklich? Warum?«

»Weil Elcid Doyle tatsächlich einen Schrotflinten-Waffenschein hatte und das Fehlen der Waffen daher eine Anomalie ist. Wir durchsuchen das Grundstück noch mal mit einem anderen Waffenspürhund als beim letzten Mal, und sei es nur, damit ich vor Gericht nicht in einen Hinterhalt gerate.«

»Mit einem anderen?« Poe wusste, dass ein Belgischer Schäferhund durchs Haus geführt worden war für den Fall, dass der Täter sich dort irgendwo versteckt hielt. Er hatte nicht gewusst, dass sie Highwood außerdem mit einem Hund abgesucht hatten, der darauf abgerichtet war, Schusswaffen aufzuspüren.

»Ein Labrador. Er hat nur in Elcids Arbeitszimmer angeschlagen, was ja nicht weiter überraschend ist. Ich konnte riechen, dass er erschossen worden war.«

»Mit der Waffe, die Sie nicht haben finden können?«

»Ja, mit genau der.«

Die fehlende Tatwaffe war noch immer ein großes Loch in der Argumentation der Anklage. Elcid Doyle war mit einer Kleinkaliberwaffe umgebracht worden, und da die Staatsanwaltschaft die Spuren im Schnee anzubringen gedachte, die bewiesen, dass Estelle das Haus nicht verlassen hatte, war es problematisch, die Tatwaffe nicht zu haben. Ein unüberwindliches Hindernis war es nicht – sie hatte Pulverrückstände an den Händen und es gab keine weiteren Verdächtigen –, doch Poe wusste, dass es ihnen Sorgen bereiten dürfte.

»Der Staatsanwalt wird behaupten, sie hätte sie aus dem Fenster in den Bach geworfen, und da wäre sie weggeschwemmt worden.«

»In den Bach?«, fragte Poe. »Der Bach, der fast siebzig Meter vom Haus entfernt ist?«

»Vom obersten Stock aus wäre das möglich.«

»Wenn man Leichtathletik-Olympionike ist.«

»Ich lasse Sie noch mal ins Haus«, entgegnete Lee. »Verzocken Sie Ihren Gewinn nicht, Poe.«

Er seufzte. Sie hatte ja recht. Die verschwundenen Schrotflinten, das war jetzt wichtig, nicht die unglaubhafte Erklärung der Anklagevertretung.

»Danke, Ma’am«, sagte er. »Darf ich Sie was fragen?«

»Solange es nicht um unsere Taktik vor Gericht geht. Ich habe Ihnen eh schon zu viel erzählt.«

Das fand Poe nicht. Seiner Ansicht nach war sie genauso unglücklich darüber wie er, dass die Staatsanwaltschaft behaupten wollte, Estelle Doyle hätte es irgendwie geschafft, eine Handfeuerwaffe siebzig Meter weit zu werfen.

»Warum sind Sie so hilfsbereit?«, wollte er wissen. »Ich war ja ein bisschen ein Arsch, und …«

»Ein bisschen?«

»Okay, ein Riesenarsch. Was ich sagen will, ist, ich habe nichts getan, um irgendwelche Kooperation zu verdienen.«

»Ich bin Polizistin, Poe. Sie sind Polizist. Letzten Endes geht’s darum, herauszufinden, was wirklich in diesem Haus passiert ist. Alles andere ist Bullshit.«

Ihm kam ein Gedanke. »Sie haben gesagt, Sie hätten bereits bestätigt, dass Elcid Doyle einen Waffenschein hatte?«

»Bitte?«

»Warum haben Sie das überprüft?« Poe dachte über die Frage nach. Kam zu dem Schluss, dass er die Antwort bereits kannte. »DI Flynn hat Sie schon angerufen, stimmt’s?«

»Ja«, antwortete Lee. »Sie hatte Angst, dass Sie vielleicht Mühe haben, Ihren Standpunkt zu erklären.«