94 . Kapitel

P oe konnte kaum glauben, was er gerade gesehen hatte. Auf Anias Anweisung hin hatte er an einem der Bücherregale in Elcid Doyles Arbeitszimmer gezogen, nicht gänzlich überzeugt, dass er nicht gerade auf den Arm genommen wurde. Doch zu seinem Erstaunen war das Regal nach ganz leichtem Widerstand – nicht mehr, als man von einer Kühlschranktür erwarten würde – von der Wand weggeschwungen. Es hing bündig in schweren Angeln, und unter dem Boden waren Rollen verborgen. Er ließ es los, und es schloss sich langsam wieder; es war so ausbalanciert, dass es sanft gegen die Wand zurückschwang. Poe zog es von Neuem auf und spähte dahinter. Ein kleiner Magnet war an der Rückseite des Regals angebracht. Das erklärte den leichten Widerstand, den er hatte überwinden müssen, um es zu öffnen. Er betrachtete den Fußboden. Jetzt, wo er wusste, wonach er suchte, erkannte er die schwachen Streifen auf den Steinplatten als Spurrillen, die die Rollen hinterlassen hatten. Elcid Doyle musste das Regal jahrelang oft geöffnet und geschlossen haben.

Wieder ließ Poe das Regal zurückschwingen. Dann trat er zurück und musterte es eingehend. Nichts zeigte, dass es in Wirklichkeit eine verborgene Tür war. Handwerklich war es außergewöhnlich gut gemacht.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte er. »Eine Geheimtür? Was ist das hier, eine Folge von Scooby-Doo? Müssen wir Ausschau nach einem fiesen Hausmeister halten?«

»So ungewöhnlich, wie du vielleicht denkst, ist so etwas gar nicht, Poe«, sagte Bradshaw. »Das nennt man eine Murphy Door, und es gibt mehrere Firmen im UK , die darauf spezialisiert sind. Drei davon in einem Umkreis von knapp siebzig Kilometern von hier.«

Doch Poe hörte nicht mehr zu. Denn so verblüffend die verborgene Tür auch war, ihn interessierte viel mehr, was sich dahinter befand.

Ein Gewehrsafe.

Nur war es kein Gewehrsafe, es war ein Tresorraum. Die schmale Tür war dick und hatte einen verstärkten Rahmen. Sie war aus Stahl, grün angestrichen und sah unüberwindlich aus. Ein Türgriff und ein mechanisches Ziffernfeld. Poe zog einen Handschuh an und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Sie brauchten entweder den Code oder einen Schlosser.

»Die Safe-Firma kann uns nicht helfen, fürchte ich«, verkündete Tai-young Lee, als sie wieder ins Zimmer kam.

»Wieso nicht?«, wollte Poe wissen.

»Dieses Türmodell ist veraltet. Sie haben angeboten, einen Fachmann aus dem Ruhestand zu holen, wenn wir bereit sind, ihm den Flug zu zahlen und ihn in einem Hotel unterzubringen, aber es wird mindestens eine Woche dauern, ihn hierherzuschaffen.«

»So lange? Ich weiß, das ist ein deutsches Unternehmen, aber die sitzen in Hannover, und Tilly sagt, von da gehen regelmäßig Flüge nach London. Der könnte in zehn Stunden hier sein.«

»Anscheinend hockt er in einer Hütte im Schwarzwald. Soll nächste Woche wieder zurück sein, und kontaktieren kann man ihn nicht.«

»Und wir können nicht einfach einen Schlosser hier aus der Gegend holen? Jemanden, der das Ding mit einem Hammer einschlägt?«

»Die Tür ist fünf Zentimeter dick, Poe«, antwortete Lee. »Sie ist kugelsicher und sprengstoffresistent. Die Frau, mit der ich gesprochen habe, sagt, da kommt man nicht einmal mit einer Diamantbohrkrone durch.«

»Dann eben mit ’nem Vorschlaghammer.«