97 . Kapitel

G lauben Sie, Tilly kann den Code knacken?«, fragte Tai-young Lee.

»Wenn nicht, kann er nicht geknackt werden«, antwortete Poe.

Er hatte sich einen Stuhl aus einem anderen Zimmer geholt und saß hinter Elcids Schreibtisch. Der Stuhl, in dem Doyle gestorben war, war immer noch bei der Spurensicherung. Lee saß in dem Ohrensessel neben dem Kamin. Bradshaw hatte sich einen Hocker vor das Tastenfeld der Tresorraumtür gestellt und arbeitete methodisch eine Liste möglicher Kombinationen ab.

»Und wenn wir das Ding endlich aufkriegen, was ist dann?«, wollte Lee wissen. »Entweder sind die Schrotflinten da oder nicht. Ich verstehe nicht, wie Ihnen das weiterhilft.«

Da war etwas dran. Inwiefern half ihnen der verschlossene Tresorraum weiter?

»Es ist das Einzige, was wir noch haben«, sagte er schließlich. »Wenn wir ihn nicht aufmachen, heißt das, Estelle bekommt lebenslänglich.«

»Wieso sind Sie so sicher, dass sie’s nicht getan hat?«

»Wieso sind Sie so sicher, dass sie’s getan hat?«

»Weil die Beweise dafürsprechen.«

»Nicht alle. Manche widersprechen dem auch.«

»Kein Fall ist perfekt, das wissen Sie doch. Es gibt immer unbeantwortete Fragen.«

»Zum Beispiel, wie jemand eine Handfeuerwaffe siebzig Meter weit werfen kann?«

»Zum Beispiel, ja.«

Sie trank einen Schluck aus einer Wasserflasche und bot sie dann Poe an. Er schüttelte den Kopf.

»Also«, fragte sie, »was geht hier wirklich ab?«

»Zeit, die Hosen runterzulassen, wie?«

Lee schaute kurz zu Bradshaw hinüber, die leise vor sich hin murmelte. »Sieht aus, als hätten wir Zeit«, meinte sie. »Seien Sie ehrlich – versuchen Sie, Professor Doyle zu entlasten, oder beschmeißen Sie den Fall einfach mit Scheiße, um berechtigte Zweifel zu säen?«

»Was glauben Sie?«

»Man hat mir gesagt, Sie wären der letzte ehrliche Cop. Dass Sie den Beweisen dahin folgen, wo sie Sie hinführen, egal, was es Sie kostet.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wir wissen beide, dass der Botaniker nicht in diesem Zimmer war. Was für einen Grund könnte er gehabt haben? Alles, was Sie hier oben getan haben, ist, mir auf die Nerven zu gehen und Chief Superintendent Mathers bloßzustellen.«

»Ja, schönen Dank auch«, knurrte Poe.

»Was?«

»Na, Sie haben doch das Foto von mir und Tilly an die Presse gegeben, wie wir Estelle im Gefängnis von Low Newton besuchen, oder? Im Grunde kann ich’s Ihnen auch nicht verdenken – wenn jemand in meinen Fall reinpfuschen würde, würde ich auch tun, was nötig ist, damit er damit aufhört.«

»Das denken Sie immer noch?«, fragte sie. »Ich habe Ihnen doch gesagt, damit hatten wir nichts zu tun.«

Poe schwieg.

»Im Ernst, Poe, wirklich nicht. Und glauben Sie mir, ich habe das nachgeprüft. DC Bowness’ sämtliche Telefone sind forensisch untersucht worden und waren sauber. Er hat kein Foto gemacht. Und selbst wenn, er hätte doch keine Großermittlung in London behindert, nur damit Sie hier einen Rückzieher machen.«

»Wer zum Teufel war’s dann? Sie sagen, Sie waren es nicht – okay, ich glaube Ihnen. Aber dass Sie’s nicht waren, ergibt keinen Sinn.«

»Nein, das stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Es sei denn …«

»Es sei denn was?«

»Okay, bitte haben Sie ein bisschen Geduld. Und ich fasse es nicht, dass ich das lanciere. Der Botaniker wird gewusst haben, dass derjenige, der die Ermittlungen in London leitet, irgendwann die SCAS hinzuziehen würde. Auf Serienmörder Jagd zu machen ist die Aufgabe dieser Einheit, und ihr habt euch im Laufe der Jahre einen ziemlichen Ruf zugelegt. Habt ein paar große Namen zur Strecke gebracht.«

Poe beugte sich vor. »Stimmt.«

»Und jeder, der die Schlagzeilen lesen kann, wird wissen, dass Sie und Tilly und DI Flynn die treibende Kraft hinter dem Ganzen sind.«

»Es gibt eine Menge unbesungene Helden in der Einheit. Besonders Tilly arbeitet mit einem Team aus …«

»Genau!«, fiel Lee ihm ins Wort. »Denn jeder, der weiß, wie man hinter die Schlagzeilen schaut, wird wissen, mit wem Sie am liebsten arbeiten. Tillys Maulwürfe, wie Sie sie nennen, Superintendent Nightingale …«

»Und Estelle Doyle«, beendete Poe den Satz für sie.

»Was ist, wenn jemand das Dreamteam aufmischen wollte? Um einen Spruch von meinem baseballverrückten Vater zu borgen: Was ist, wenn jemand einen von Ihren Stars auf die Bank verbannen wollte?«

Poe nickte. Das klang logisch. Irgendwie. Es gab andere forensische Pathologen. Die, mit der Mathers zusammenarbeitete, schien sehr gut zu sein, obgleich sie keine Estelle Doyle war. Aber wenn der Botaniker wirklich versucht hatte, das SCAS -Team aufzumischen, wäre es doch viel effektiver gewesen, Bradshaw auf die Bank zu setzen.

»Also, glauben Sie mir jetzt?«, fragte Poe.

»Ich glaube Ihnen … nicht nicht. Ich habe genau dieselben Probleme mit diesem Fall wie Sie.«

Bradshaw stand auf und kippte dabei ihren Hocker um. Das Klappern von Holz auf Stein war laut genug, um sämtliche Konversation abzuwürgen.

»’tschuldigung«, sagte sie.

»Wie läuft’s?«, erkundigte sich Poe.

»Ich habe zweihundert der gängigsten vierstelligen und sechsstelligen Kombinationen durchprobiert, und Elcid Doyle hat keine davon verwendet.«

Poe stand ebenfalls auf. »Okay, schauen wir uns ein letztes Mal im Arbeitszimmer um. Mal sehen, ob wir herausfinden können, was Elcid Doyle als Gedächtnisstütze benutzt hat. Sonst müssen wir warten, bis Ania heute Nachmittag Estelle besucht.«

Bradshaw sah auf die Uhr. »Viel Zeit haben wir nicht, Poe.«

»Dann fangen wir an. Er war ein alter Mann, der Angst vor Alzheimer hatte. Es wird also etwas Offensichtliches sein.«