98 . Kapitel

A lso, was Offensichtliches ist es nicht«, brummte Poe. »Hab’s ja gewusst.«

Bradshaw verdrehte die Augen. Sie nahm gerade auf allen vieren die Bücher im untersten Regalfach der Geheimtür in Augenschein. Tai-young Lee stand auf der Bibliotheksleiter; sie zog nacheinander Bücher aus dem obersten Fach und stellte sie wieder hinein. Poe hatte die Idee aufgegeben, dass der Code zwischen die Seiten eines Buches geschoben worden sein könnte. Er saß wieder hinter Elcid Doyles Schreibtisch.

»Haben Sie’s da auch bequem, Poe?«, erkundigte sich Lee. »Kann ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee oder so etwas bringen?«

»Elcid Doyle wird seine Tage entweder an diesem Schreibtisch oder in dem Sessel am Kamin verbracht haben«, sagte er. »Wenn hier im Arbeitszimmer etwas ist, das ihn an den Code erinnern soll, dann hat er es von hier aus« – er zeigte auf den Kamin – »oder von da aus sehen können.«

»Aber wir haben doch überall gesucht, hier ist nichts.«

»Dann denken wir zu viel nach. Tilly, du kennst dich doch mit PIN s aus – abgesehen von denen, die am leichtesten zu erraten sind, was benutzen die Leute sonst noch?«

»Geburtstage«, antwortete sie prompt. »Aber mit dem von Elcid habe ich es schon probiert, und mit Estelles und dem seiner verstorbenen Frau auch.«

»Was noch?«

»Geburtsjahre. Und die habe ich auch schon probiert.«

»Was noch?«

»Jahrestage.«

»Wann hat er geheiratet?«

»Am 9 . Juni 1977

»Hast du’s damit probiert?«

»Ja, Poe.«

»Und was ist mit dem Todestag seiner Frau?«

»Ihr Todestag? Das ist abartig, Poe.«

»Versuch’s trotzdem.«

»Hab ich schon.«

»Du bist ein Monster«, stellte Poe fest.

»Da könnte aber was dran sein«, meinte Lee und stieg von der Leiter herunter. »Weiter, Tilly. Was für Zahlenkombinationen benutzen die Leute?«

»Zwei-fünf-acht-null.«

»Wieso denn das?«

»Weil die auf einem Telefon oder einem Ziffernfeld von oben nach unten in einer Reihe stehen. Und das habe ich auch schon probiert.«

»Sonst noch etwas?«

»Die nächsten Kombinationen, die die Menschen gern benutzen, sind Daten, die ihnen persönlich etwas bedeuten, die aber nicht zu denen gehören, die wir bereits durchprobiert haben.«

Poe ließ sich das durch den Kopf gehen. »Zum Beispiel der Tag, an dem ich Herdwick Croft gekauft habe«, sagte er.

»Der Tag, an dem ich meine Führerscheinprüfung bestanden habe«, fügte Lee hinzu. »Der Tag, an dem meine Eltern im UK gelandet sind.«

»So was in der Art, ja«, bestätigte Bradshaw. »Aber ohne zu wissen, was Elcid Doyle wusste, haben wir keine Ahnung, was für ihn persönlich wichtig war.«

Poe lehnte sich auf dem Stuhl zurück und stieß geräuschvoll die Luft aus. Die Antwort lag bestimmt direkt vor ihren Augen, und bestimmt war sie eindeutig – da war er sich sicher. Er ließ den Blick durch das Arbeitszimmer wandern, versuchte, es mit Elcids Augen zu sehen. Estelles Vater hatte seine Tage mit dem Rücken zum Fenster verbracht, doch seine Bücher würde er nicht angeschaut haben. Die standen mit dem Rücken nach außen, und von seinem Platz hinter dem Schreibtisch aus konnte Poe keinen der Titel lesen. Und die Bilder waren es auch nicht – Poe hatte sie inspiziert, und auf keinem waren irgendwelche Zahlen. Es waren einfach nur Gemälde von britischen Wildvögeln. Fasane, Rebhühner und Schnepfen. Waldschnepfen. Enten. Massenweise Raufußhühner.

Jetzt, wo er sie als Ganzes betrachtete und nicht die einzelnen Gemälde, konnte er sehen, dass die Sammlung eigentlich mehr als zur Hälfte aus Wildhuhn-Bildern bestand. Elcid hatte diese Vögel eindeutig geliebt.

Nachdenklich betrachtete Poe die Bilder. Hatte Ania die ganze Zeit recht gehabt? Hatte Elcid sich einer Gedächtnisstütze bedient? Etwas, das vor aller Augen verborgen war?

»Versuch’s mal mit eins-zwei-null-acht, Tilly«, sagte er behutsam.

Bradshaw zog die Stirn kraus, fragte jedoch nicht, warum. Sie tippte die Zahlen ein. Ein leises Klicken war zu hören.

Verblüfft starrten Bradshaw und Lee ihn an.

»Aber woher …?«, setzte Lee an.

»Das ist ›The Glorious Twelfth‹«, erklärte Poe. »Der 12 . August. Beginn der Raufußhuhn-Jagdzeit im UK . Der wichtigste Tag im Jagdkalender. Elcid Doyle hatte wirklich eine Gedächtnisstütze in seinem Arbeitszimmer – seine Bilder und seine Leidenschaft für Wildhühner.«

Lee streifte ein Paar Latexhandschuhe über.

Dann hob sie den Schließhebel an, öffnete die Tür des Tresorraums und trat zurück. Alle drei spähten hinein.

»Verflucht«, sagte Poe schließlich.