K reuzkontamination ist eine legitime Verteidigungsstrategie, Poe«, meinte Tai-young Lee. »Aber noch einmal, es ist keine neue Beweislage. Bei einem JiC-Antrag können Sie damit nicht kommen.«
Poe schmollte. Sie hatte natürlich recht, doch mehr war ihm bisher nicht eingefallen. Die Spurensicherung war noch immer im Tresorraum, also hatten sie sich in Elcid Doyles Wohnzimmer zurückgezogen, um gemeinsam zu überlegen, wie Estelle Doyle zu den Pulverrückständen auf ihren Händen gekommen sein könnte. Jedes Mal, wenn er darüber spekulierte, wie das passiert sein könnte, widerlegte Lee ihn entweder oder sagte, das seien keine neuen Informationen und ein Argument für die Gerichtsverhandlung, nicht für eine JiC-Anhörung.
Die letzte Theorie, die abgeschossen worden war, lautete, dass die Rückstände von den Handschellen stammten, mit denen Doyle nach ihrer Verhaftung gefesselt worden war. Poe hatte gemeint, wenn die vor Kurzem bei jemandem verwendet worden wären, der mit einer Schusswaffe hantiert hatte, hätte doch eine Kreuzkontamination stattfinden können. Dass die Rückstände an ihren Händen gar nicht von der Waffe kamen, die ihren Vater getötet hatten, sondern von einer ganz anderen. Lee hatte gesagt, Estelles Hände wären eingetütet worden, bevor ihr Handschellen angelegt worden waren. Na und, hatte er entgegnet, da könne doch auch mal was schiefgehen. Woraufhin sie ihn daran erinnert hatte, dass dies ein Argument für eine Jury sei und nicht für einen JiC-Antrag.
Und so weiter.
»Du bist ungewöhnlich still, Tilly«, stellte Poe fest.
»Ich lese gerade einen FBI -Artikel über Schmauchspuren, so nennen sie das in den Vereinigten Staaten von Amerika, Poe«, antwortete Bradshaw. »Wusstest du, dass Folgendes schon alles zu falsch-positiven Ergebnissen geführt hat: Feuerwerk, Schweißen, Schlüsselschneiden und sogar ein paar Papierarten?«
»Ich weiß, zuverlässig ist das nicht.«
»Und das alles noch vor Kreuzkontamination durch Polizeiautositze, Arrestzellen, Vernehmungszimmer und sogar direkt durch Polizisten.«
»Alles keine neue Information, werden wir alles vor Gericht vorbringen.«
»Es tut mir leid, Poe. Ich habe nichts, was dir helfen kann.«
Poe runzelte die Stirn. »Wisst ihr was?«, sagte er. »Das ist Bullshit. Wenn sie Pulverrückstände an den Händen hatte …«
»Was der Fall war«, warf Lee ein.
»… dann, weil irgendwas passiert ist. Und das heißt, wir sollten dahinterkommen können. Dass wir noch nicht dahintergekommen sind, wie’s passiert ist, bedeutet, dass wir eine andere Herangehensweise brauchen.«
»Und woran denken Sie?«
»Haben Sie schon mal Crimewatch gesehen, Ma’am?«
»Natürlich.«
Crimewatch war von 1984 bis 2017 auf BBC gelaufen. Es war eine der wichtigsten Live-Reality-Sendungen der BBC und basierte auf der Zusammenarbeit der Öffentlichkeit mit der Polizei. In jeder Folge wurden drei oder vier Kriminalfälle vorgestellt. Zu der sechzigminütigen Sendung gehörten Interviews mit Polizeibeamten, mit den Angehörigen der Opfer und mit Zeugen. Schlüsselbeweise wie computergestützte Fahndungsbilder wurden gezeigt. Die Crimewatch- Telefonleitung war bis Mitternacht in der darauffolgenden Nacht erreichbar. In den Jahren, in denen die Sendung ausgestrahlt wurde, waren siebenundfünfzig Mörder, dreiundfünfzig Vergewaltiger und achtzehn Pädophile als direktes Resultat der Sendung gefasst worden.
»Und was war deren stärkstes Mittel?«
Lee verstand und nickte. »Sie wollen eine Rekonstruktion?«
Poe wandte sich an Bradshaw. »Hast du Lust, mal ’ne Leiche zu sein, Tilly?«