N och einmal, bitte«, sagte Poe.
Tai-young Lee stöhnte, verließ jedoch von Neuem das Zimmer.
»Alles klar, Tilly?«
»Alles gut, Poe.«
Sie waren im Wohnzimmer. Es war von ähnlicher Größe wie Elcid Doyles Arbeitszimmer. Genau wie im Arbeitszimmer gingen die Fenster nach Süden hinaus und Bücherregale säumten die Wände. Ein eigenes Badezimmer oder einen Tresorraum gab es hier nicht, doch für das, was sie brauchten, genügte die Ähnlichkeit. Zehn Minuten hatten sie damit verbracht, die Möbel umzustellen, sodass sie denen im Arbeitszimmer möglichst genau entsprachen. Alles Überflüssige war hinausgeschleppt worden. Sie hatten einen Esstisch zum Schreibtisch umfunktioniert und einen Couchtisch und einen Sessel dort hingestellt, wo der Kamin wäre. Ein Sideboard erwies sich als zu schwer, also hatte Poe Bradshaw und Lee angewiesen, so zu tun, als sei es nicht da.
Perfekt war es nicht, doch es war nicht schlecht.
Dreimal war Lee ins Zimmer getreten und hatte die Handlungen ausgeführt, die in Estelle Doyles Aussage aufgeführt waren, und dreimal hatte Poe nichts gesehen, was erklärte, warum sie Schießpulverrückstände an den Händen hatte.
Für den vierten Versuch ging er in eine andere Ecke des Raumes. Hoffte, dass der andere Blickwinkel neue Erkenntnisse bringen würde. Bradshaw schaute auf ihr Tablet und sackte in dem behelfsmäßigen Bürostuhl zu der Haltung zusammen, in der Elcid Doyle aufgefunden worden war. Sie schloss sogar die Augen und ließ die Zunge aus dem Mund rutschen.
»Wir sind so weit, Ma’am«, rief Poe. »Vergessen Sie diesmal nicht, Ihren Mantel aufzuhängen, bevor Sie ins Zimmer kommen.«
»Sie können mich mal, Poe«, hörte er sie halblaut knurren.
»Wie war das?«
»Ich habe gesagt, ich hänge gerade meinen Mantel auf.«
Kurz darauf öffnete Lee die Wohnzimmertür. »Dad?«, rief sie und ging dann auf Bradshaw zu.
»Schneller«, sagte Poe. »Sie hat gedacht, er schläft, als sie ›Dad?‹ gesagt hat, aber jetzt denkt sie, er hatte vielleicht einen Schlaganfall.«
Lee eilte auf Bradshaw zu und kniete sich dann hin. Sie hielt kurz inne – Poe hatte gemeint, Estelle hätte sicher ein paar Sekunden gebraucht, um zu verstehen, was sie vor sich sah –, ehe sie die Hand ausstreckte, um nach einem Puls zu suchen. Dann stand Lee auf, griff nach dem Handy in ihrer Gesäßtasche und tat so, als wähle sie den Notruf.
»Von da an hat sie nichts mehr angefasst, hat sie gesagt«, stellte Poe fest. »Sie hat gesagt, sie hat neben ihrem Vater gewartet, bis die Polizei gekommen ist. Richtig, Tilly?«
»Richtig, Poe.«
»Hast du diese Rekonstruktion auf Video?«
»Ich habe alle gefilmt, Poe.«
»Dann schauen wir sie uns mal an.«
Sie drängten sich um den Tisch und sahen sich das letzte Video an. Trotz des anderen Blickwinkels entdeckte Poe nichts, was die Pulverrückstände an Estelles Händen erklärte.
»Gehen wir die Verhaftungsfotos noch mal durch«, sagte er.
Bradshaw rief sie auf ihrem Tablet auf und ließ Poe hindurchwischen. Inzwischen hatten sie sie schon Hunderte Male durchgesehen: Estelle Doyle in schwarzen Jeans und noch schwärzerer Bluse, in einem Overall aus Papier, eine Nahaufnahme ihres Gesichts, weitere von ihren Händen, mit und ohne Tüten darüber.
»Moment mal, die Jeans sind ja hauteng«, stellte Lee fest.
»Wenn sie nicht gerade jemanden obduziert, zieht sie sich an, als würde sie bei Siouxsie and the Banshees spielen«, sagte Poe. »Nicht nur Jeans, Bleistiftröcke und Netzstrümpfe. Das macht sie nur, damit ich mich unwohl fühle.«
»Ich wollte mich hier nicht über ihren Kleidungsstil auslassen, Poe. So enge Jeans sind auch zu den besten Zeiten unbequem. Versuchen Sie mal, da was Großes in die Gesäßtasche zu stopfen. Das wäre, als hätte man einen Tumor am Arsch.«
»Deswegen trage ich ja auch lieber Cargohosen, Detective Chief Inspector Tai-young Lee«, sagte Bradshaw. »Die haben lockere Taschen, da kann ich bequem Kabel und Ladegeräte und mein Handy reinstecken. Poe sagt, ich sehe schlampig aus, aber der muss gerade reden. Einmal ist er zur Arbeit gekommen und hatte eine Schnur als Gürtel genommen.«
»Das war Strohband. Und an meinem Gürtel war Blut.«
Lee schüttelte den Kopf. »Ihr zwei«, sagte sie. »Und worauf ich hinauswollte, ist Folgendes: Wenn sie ihr Handy nun gar nicht in der Gesäßtasche hatte?«
»Und in ihrer Jacke war es auch nicht, denn die hat sie aufgehängt, sobald sie ins Haus gekommen ist. Hatte sie eine Handtasche dabei?«
»Nein, aber eine Laptoptasche. Die haben wir getestet für den Fall, dass die Waffe da drin war.«
»Kannst du die mal auf dem Tablet aufrufen?«, fragte Poe.
Bradshaw tat wie geheißen.
Die Tasche war schwarz und flach, mit einem Kunstledergriff. Sie hatte Reißverschlusstaschen und ein stoßabsorbierendes Innenfutter aus Neopren.
»Zeig doch mal, was sie da drinhatte«, sagte Poe.
Die Fotos waren auf einem weißen Tisch der Spurensicherung gemacht worden. Der Inhalt der Tasche war unspektakulär. Ein Schlüsselbund, Speichersticks, Ladekabel, der nicht benutzte Schulterriemen der Tasche. Ein kleines Make-up-Täschchen. Und der Laptop selbst, ein roséfarbenes MacBook Air.
»Okay«, meinte Poe. »In die große Tasche wird sie alles reingetan haben, wo sie nicht ständig ranmusste, die Kabel und den Schulterriemen zum Beispiel, und in die kleinere ihr Handy, die Schlüssel, wahrscheinlich auch das Make-up-Täschchen.«
»Dann hat sie ihr Handy also aus ihrer Tasche geholt, nicht aus ihrer Hosentasche«, stellte Lee fest.
Poe nickte.
»Machen wir’s noch mal«, sagte er. »Aber diesmal geben wir Ihnen was zu tragen. Hast du irgendwas dabei, das wir benutzen können, Tilly?«
»Ich habe einen Laptopkoffer, Poe. Er ist nicht genauso groß, aber vom Design her ganz ähnlich.«
»Super. Und in die Tasche für das Handy müssen wir dasselbe reintun, was sie in ihrer hatte.«
Bradshaw stiftete ihre Schlüssel und Poe sein Handy. Lee wollte nicht, dass ihr Display zerkratzt wurde, und Poes Telefon sah aus, als bewahre er es in einem Kieshaufen auf. Bradshaws Federtasche benutzten sie als Make-up-Täschchen.
»Noch mal von vorn«, befahl Poe.
»Sie waren echt scharf darauf, das zu sagen, stimmt’s?«, fragte Lee.
»Nennen Sie mich ruhig John Sturges.«
»Wer ist John Sturges?«, fragten Bradshaw und Lee wie aus einem Munde.
»Stadt in Angst? Gesprengte Ketten? Eisstation Zebra?«
Die zwei Frauen sahen sich verwirrt an. Lee zuckte die Achseln. »Von Gesprengte Ketten habe ich schon mal gehört«, sagte sie.
»Ich bin schwer enttäuscht von euch beiden«, verkündete Poe.