D ie JiC-Kautionsanhörung war reine Formsache. Der Richter stellte Poe und Ania Kierczynska ein paar eindringliche Fragen, die bissigsten jedoch waren an Tai-young Lee und den Vertreter der Staatsanwaltschaft gerichtet. Warum die Mordanklage nicht fallen gelassen wurde, wollte er wissen, doch der Staatsanwalt gab nicht klein bei und sagte, sie würden warten, bis sicher war, dass die DNA , die in dem Tresorraum gefunden worden war, von Frederick Beck stammte. Lee funkelte ihn böse an; sie hatte keine Lust, bei irgendwelchen schwachsinnigen Gesichtswahrungsexerzitien mitzumachen.
»Hiermit ordne ich Professor Doyles sofortige Entlassung auf Kaution an«, sagte der Richter. »Wie ich höre, besitzt sie eine Immobilie in Newcastle?«
»Ja, Euer Ehren«, erwiderte Ania.
»Dann entlasse ich sie auf Kaution zu dieser Adresse. Und da die Staatsanwaltschaft sich weigert, die Anklage fallen zu lassen, ordne ich an, dass sie elektronisch überwacht wird.«
»Sie hat bestimmt nichts dagegen, einen Tracker zu tragen, Euer Ehren.«
»Nein«, sagte Poe. Der Richter schaute über seine Lesebrille hinweg. »Euer Ehren«, fügte Poe hinzu.
»Das ist ein großzügiges Angebot, Sergeant Poe. Sie muss sich bloß zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr morgens an dieser Adresse aufhalten. Sie kann also weiter arbeiten und spazieren oder essen gehen.«
»Das ist ein Todesurteil, Euer Ehren.«
Poe verbrachte fünf Minuten damit, zu schildern, wie Frederick Beck jede Sicherheitsmaßnahme umgangen hatte, die sie bisher getroffen hatten.
»Haben Sie einen Alternativvorschlag?«
»Ehrlich gesagt ja«, antwortete er.
Ania Kierczynska war die Einzige, die das Gefängnis betreten durfte, als sie Doyle abholten. Es war einiges an Papierkrieg zu erledigen gewesen, doch Poe hatte den Gefängnisdirektor so lange angebrüllt, bis dieser versprochen hatte, den Vorgang zu beschleunigen. Gleich nach der Entscheidung des Richters fuhren Poe und Bradshaw ins Stadtzentrum von Newcastle, um Doyle etwas zum Anziehen, Toilettenartikel und ein neues Handy zu kaufen. Poe wollte nicht, dass sie in ihre Wohnung zurückkehrte, für den Fall, dass Beck dort gewesen war, und nichts von dem, was Bradshaw besaß, war geeignet. Poe war nicht klar gewesen, dass es Frauenkleidung in komplizierteren Größen gab als Small, Medium und Large, und Bradshaw kaufte all ihre Sachen online. Schließlich hatte er Bradshaw in eine Boutique geschickt, in deren Fenster eine Schaufensterpuppe in einem roten Korsett und Netzstrümpfen stand, und ihr aufgetragen, für fünfhundert Pfund Klamotten zu kaufen.
Poe händigte Ania ein paar dunkelblaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit einem knallbunten Totenschädel vorne drauf, ein Paar Converse-Turnschuhe, Socken und Unterwäsche aus. Er hoffte, dass alles passen würde.
Sie hatten eine Reise vor sich.
Auf Poes Vorschlag hin hatte der Richter Doyle auf Kaution in seine Obhut entlassen. Bis die Staatsanwaltschaft die Anklage offiziell fallen ließ, würde Doyle sich immer dort aufhalten müssen, wo Poe war, wo immer das auch sein mochte.
»Und damit wird sie einverstanden sein?«, hatte der Richter gefragt.
»Ich denke schon«, hatte Poe geantwortet.
»Sie wird definitiv einverstanden sein«, hatte Bradshaw bekräftigt.
»Na schön. Hiermit entlasse ich Professor Doyle auf Kaution in Sergeant Poes Obhut. Sie werden der Polizei die Adresse Ihres Aufenthaltsortes zur Kenntnis geben, und Sie müssen geplante und ungeplante Untersuchungen hinnehmen. Ist das akzeptabel?«
»Ja, Euer Ehren«, hatte Poe gesagt.
Es war zehn nach drei, als Ania und Doyle endlich aus dem Gefängnistor kamen. Erleichtert sah Poe, dass die Sachen, die sie für sie ausgesucht hatten, passten. Die Hose war ein bisschen weit, aber er fand, sie hatten das ganz gut hingekriegt.
Ania brachte Doyle zu Poes Wagen, umarmte sie zum Abschied und ging zurück ins Gefängnis. Sie hatte noch einen Termin mit einer anderen Klientin. Poe stieg aus und öffnete Doyle die hintere Tür. Ohne seinen Blick zu erwidern, stieg sie ein. Sie sah müde aus, als sei ihr Akku entladen. Poe bezweifelte, dass sie nachts mehr als zwei Stunden geschlafen hatte, seit sie in Untersuchungshaft gesteckt worden war.
Er ließ den Motor an und stellte dann den Rückspiegel so ein, dass er sie sehen konnte.
»Ania hat dir erklärt, dass du in meine Obhut entlassen worden bist, Estelle?«
Doyle nickte.
»Wir müssen zurück nach London«, sagte er. »Dieser Fall, von dem ich dir erzählt habe, irgendwie hängt der mit dem Mord an deinem Vater zusammen.«
»Ania hat’s mir gesagt.« Ihre Stimme war leise und tonlos.
Dann senkte sie den Blick und begann zu schluchzen.
Poe und Bradshaw sahen sich unsicher an. Poe reichte sein Taschentuch über die Schulter nach hinten.
»Ist sauber«, brummte er. »Na ja, so einigermaßen.«
»Danke, Poe.«
Sie wischte sich über die Augen, und obwohl sie noch feucht waren, sah Poe dort den Trotz, den er erwartet hatte. Das Gefängnis hatte sie nicht gebrochen. Er reichte ihr eine braune Papiertüte.
»Du hast bestimmt Hunger«, meinte er. »Tilly und ich waren in dem italienischen Restaurant, das du so gern magst. Da sind Crostini und ein paar von diesen steinharten Keksen drin. Wir haben dem Chef gesagt, dass es für dich ist, und er hat uns nicht bezahlen lassen. Hat gesagt, sie haben dich alle vermisst.«
Estelle schaute in die Tüte. »Ich kann euch gar nicht genug danken.«
Doch diesmal brach sie nicht in Tränen aus.