107 . Kapitel

I ch habe gewusst, dass du irgendetwas herausgefunden hast, Poe«, sagte Doyle. »Als der Gefängnisdirektor gekommen ist, um mich zu holen, war er stinkwütend. Nur du kannst jemanden so auf die Palme bringen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich war.«

»Poe hat ihn heute Vormittag angebrüllt, als er gesagt hat, er hätte niemanden, der Ihre Entlassungspapiere ausstellen kann«, berichtete Bradshaw. »Der Direktor musste es selbst machen.«

»Ich danke dir, Poe. Ich weiß nicht, ob ich noch eine Nacht da drin überstanden hätte, nicht, nachdem Ania mir erzählt hat, dass ich auf Kaution entlassen werden soll.«

»Er hat nie aufgehört, an Ihrem Fall zu arbeiten, Estelle«, versicherte Tilly. »Auch als es hieß, er soll es nicht tun.«

»Das klingt ja ganz untypisch, Tilly«, bemerkte Doyle.

»Und er hat sogar versucht, ein Vorhängeschloss am Tor von Ihrem Dad zu knacken, bis er gemerkt hat, dass er nicht weiß, wie das geht. Dann wollte er stattdessen drüberklettern, aber Detective Chief Inspector Tai-young Lee hat ihn dabei erwischt und gesagt, sie verhaftet ihn wegen unbefugtem Betreten eines Tatorts. Dann hat Poe gesagt, er verhaftet sie wegen Zurückhaltens von Beweisen, aber er würde es nicht tun, wenn sie uns zeigt, wie Ihr Familienwohnsitz von innen aussieht.«

Doyle lächelte sie an. Bradshaws Unschuld war ein Tonikum. »Klingt, als wärt ihr fleißig gewesen.«

Poe fing ihren Blick im Rückspiegel auf. »Du hast doch wohl nicht gedacht, wir lassen dich da drin versauern, oder?«

»Was hat Poe denn noch gemacht?«, erkundigte sich Doyle.

»Sehr viel, Estelle. Er hat auch gesagt, Sie sind jetzt eine Lady, aber wir sollen uns nicht vor Ihnen verbeugen, weil Ihnen das nicht gefallen würde.«

»Du weißt davon, Poe?«

»Ich bin Detective«, knurrte er.

»Und?«

»Was und?«

»Wie findest du das?«

»Ich weiß beim besten Willen nicht, wieso du geglaubt hast, ich würde dann weniger von dir halten.«

»Du hasst Privilegien, Poe.«

»Ich hasse es, wenn Privilegien missbraucht werden, Estelle. Und nach dem, was ich herausgefunden habe, war dein Vater ein anständiger Mensch. Und dass du einer bist, weiß ich.«

Doyle stieß Luft aus, von der Poe gar nicht gewusst hatte, dass sie sie angehalten hatte. Aus irgendeinem Grund war dieser kleine Wortwechsel ihr wichtig gewesen. Er fragte sich, warum.

»Und sogar als wir im Haus von Douglas Salt waren«, fuhr Bradshaw fort, »hat Poe Ihre Akte gelesen und nicht seine.«

»Douglas Salt?«, fragte Doyle.

»Das nächste Opfer des Botanikers«, sagte Poe. »Ich habe ein ziemlich schräges Team zusammengestellt. Mal sehen, ob wir schaffen, was niemand anders geschafft hat und dafür sorgen können, dass er am Leben bleibt.«

»Hast du meine Nachricht bekommen? Dass ich dich sehen wollte?«

»Ja. Aber das Foto von mir und Tilly, wie wir dich im Gefängnis besuchen, war einen Tag lang auf den Titelseiten. Deswegen haben wir quasi in London festgesessen. Was wolltest du denn?«

»Ich habe den Autopsiebericht gelesen, den du mir durch Ania geschickt hast. Hat gutgetan, mal an was anderes zu denken als an meinen Vater und meine eigene Zwangslage.«

»Hast du was gefunden?«

»Nein. Die Pathologin hat ihre Sache gut gemacht. Ich hätte auch nichts anders gemacht.«

»Hm, na schön. War auch etwas weit hergeholt.«

»Aber der Bericht hat mich ins Grübeln gebracht.«

»Über was denn?«

»Über dich, Poe.«

»Über mich?«

»Ja, über dich. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich über dich nachdenke, aber bei dieser speziellen Gelegenheit habe ich über deinen Verstand nachgedacht.«

Poe schielte zu Bradshaw hinüber. »Ich hab’s dir ja gesagt, sie will, dass ich mein Gehirn der Wissenschaft vermache«, brummte er.

»Ja, urkomisch, Poe«, sagte Doyle. »Aber du hast gesagt, der Botaniker sei der komplexeste Fall, den du je bearbeitet hast. Und dass er ungeachtet aller Sicherheitsmaßnahmen anscheinend durch Wände gehen und an seine Opfer herankommen könnte.«

»Poe sagt, es ist schwarze Magie«, warf Bradshaw ein, »aber ich glaube, es gibt eine wissenschaftliche Antwort.«

»Und wie üblich sind Sie die Stimme der Vernunft, Tilly. Poe vergisst bei alldem nämlich eins.«

»Und was ist das, Estelle?«, fragte Bradshaw.

»Dass er den besten Ermittlerverstand hat, der mir je untergekommen ist«, erwiderte sie. »Und das heißt, wenn der Botaniker wirklich irgendeine ausgefeilte Methode hätte, an ihm vorbeizukommen, dann wäre er inzwischen dahintergekommen.«

»Du schmeichelst mir«, stellte Poe fest.

»Das ist ein Fakt, Poe, und genau wie Tilly arbeite ich mit Fakten. Also habe ich angefangen nachzudenken: Wie würde ich jemanden vergiften, den du beschützt?«

»Du hast eine Theorie, stimmt’s?«

»Ja, habe ich.«

Sie erklärte ihnen ihre Theorie.

Poe stellte Fragen.

Sie beantwortete sie.

Bradshaw stellte bessere Fragen. Doyle beantwortete auch diese.

Poe warf einen Blick auf das Navi. Noch eine Stunde bis zu Salts Haus, und wenn Doyle recht hatte, zählte jede Sekunde. Er suchte Flynns Nummer aus seiner Anrufliste heraus und tippte auf das Anruf-Icon.

»Boss, wir haben ein Problem …«

Zwei Minuten später ließ Flynn ihr Handy sinken. Sie warf einen raschen Blick auf Salt, der sich unbekümmert mit irgendetwas aus dem Kühlschrank vollstopfte. Alles darin war ohne Bedenken essbar, aber wenn Doyle recht hatte, waren sie das Ganze aus einem völlig falschen Winkel angegangen.

Sie räusperte sich.

»Das war Poe, Mr Salt. Er hat Neuigkeiten.«

Salt blickte von seinem Essen auf. »Ach ja?«

»Er glaubt nicht mehr, dass der Botaniker Sie umbringen will.«

Salt sprang auf. »Wusst’ ich’s doch!«, rief er und rammte die Faust in die Luft. »Dieses Arschgesicht kommt doch unmöglich an meiner Security vorbei. Ich hab’s Sergeant Poe gesagt, ist alles vom Feinsten, und der Botaniker wird sich irgendwann ein einfacheres Ziel suchen.«

Flynn verzog keine Miene.

Das Lächeln rutschte Salt aus dem Gesicht. »Was ist denn?«, fragte er.

»Poe glaubt nicht, dass der Botaniker versucht, Sie umzubringen, Mr Salt«, antwortete sie. »Seiner Ansicht nach hat er das bereits getan.«