109 . Kapitel

D oyle drückte etwas Kleines, Weißes aus einem Tablettenblister und hielt es hoch.

»Eine handelsübliche Paracetamol-Tablette«, verkündete sie. »Das hier ist nichts anderes als komprimiertes Pulver. Eine harte Pille mit glattem Überzug.«

Sie nahm einen anderen Blister zur Hand. Diesmal hielt sie etwas Blau-Weißes hoch, etwas kleiner als ein Gummibärchen.

»Noch einmal Paracetamol«, sagte sie. »Diesmal als loses Pulver in einer Hartkapsel. Das Äußere besteht aus zwei Hälften, die blaue passt in die weiße, sodass eine geschlossene Hülle entsteht. Die kann man mit allem möglichen Ungenießbarem füllen. Manche sind auch für flüssigen Inhalt gemacht. Also, was die beiden gemein haben, ist, dass sie beide keine Retardpräparate sind, das heißt, sie lösen sich im Magen innerhalb weniger Minuten auf, nachdem sie geschluckt worden sind. Das ist eine sichere, zuverlässige Methode, Medikamente dorthin zu bringen, wo sie hinsollen. Jeder hier im Raum hat bestimmt schon einmal solche Medikamente eingenommen.«

Doyle zeigte auf den Magen in ihrer Zeichnung.

»Allerdings«, fuhr sie fort, »ist es nicht immer von Vorteil, wenn sich ein Medikament im Magen auflöst. Das kann zum Beispiel Übelkeit verursachen, oder es wirkt besser, wenn die Tablette den Magen unversehrt durchläuft, weil der Dünndarm für die Aufnahme von Nährstoffen am besten geeignet ist. Und für so etwas gibt es die modifizierten Arzneimittelabgabesysteme, von denen ich eben gesprochen habe. So weit alles verständlich?«

Kopfnicken allenthalben. Bradshaw schaute dabei nicht von ihrem Laptop auf; sie tippte wie wild. Poe nahm an, dass sie immer noch zu all dem recherchierte, was Doyle ihnen im Auto gesagt hatte.

»Es gibt viele Varianten von modifizierter Wirkstofffreisetzung bei Medikamenten. Bei Schmerzmitteln auf Opiatbasis zum Beispiel ist eine Variante vorzuziehen, bei der der Wirkstoff kontinuierlich freigesetzt wird. So bekommt der Patient über den Tag verteilt eine gleichbleibende Dosis verabreicht und nicht alles auf einmal. Es gibt auch pulsatile Abgabesysteme, durch die man dafür sorgen kann, dass sich verschiedene Medikamente zu unterschiedlichen Zeitpunkten auflösen. Das kann bei komplexen Behandlungen nützlich sein, wenn der Erfolg eines Medikaments davon abhängt, dass ein anderes bereits im Körper vorhanden ist.«

»Klingt ganz schön kompliziert«, bemerkte Flynn.

»Stimmt, ist es aber nicht«, erwiderte Doyle. »Solche Tabletten gibt es schon seit Jahren. Uns interessieren aber diese Wirkstoffe alle nicht, uns interessieren retardierte Wirkstoffe.«

»Retardiert?«

Doyle nickte. »Das sind Medikamente, die entweder für ganz spezifische Bereiche des Körpers gedacht sind oder die zum Beispiel nur dann zur Wirkung kommen, wenn bestimmte Parameter erfüllt sind, vielleicht, wenn der Blutzucker ein ganz bestimmtes Level erreicht hat.«

»Und wie funktionieren die?«, wollte Flynn wissen.

»Die Wissenschaft macht ständig Fortschritte, aber zurzeit wird der aktive Inhaltsstoff – sagen wir, Paracetamol – mit einer Hülle überzogen. Für gewöhnlich mit natürlichen oder synthetischen Polymeren. Manchmal mit Chitin, aber wie gesagt, das ist ein Gebiet, das sich ständig weiterentwickelt. Jedenfalls, wenn sich die Hülle auflöst, kann das Medikament – oder in Ihrem Fall das Gift – freigesetzt werden. Bis dahin ist es vollständig eingekapselt. Und das Schöne an diesem System ist, dass man die Geschwindigkeit, mit der sich die Hülle auflöst, exakt so einstellen kann, wie man möchte. Es gibt keinen medizinischen Grund dafür, dass die Hülle länger als vierundzwanzig Stunden intakt bleibt, aber es gibt auch keinen wissenschaftlichen Grund, warum sie nicht noch länger halten könnte. Theoretisch könnte sie bis in alle Ewigkeit heil bleiben.«

»Also so, wie wenn ein Drogenkurier Kondome voller Kokain verschluckt«, meinte Flynn.

»Dasselbe Prinzip«, stimmte Doyle ihr zu. »Natürlich ist ein Kondom, das sich auflöst, um Poe zu zitieren, ungefähr so nützlich wie ein Heckspoiler an einer Schildkröte. Die Drogenhändler wollen ja nicht, dass nach einer bestimmten Zeit Kokain im Körper ihrer Kuriere freigesetzt wird.«

»Dann lautet meine Frage wie folgt«, sagte Flynn. »Wenn unsere Opfer etwas mit einer Hülle drumherum geschluckt haben, die sich drei Wochen lang nicht auflöst, warum haben sie es dann nicht ausgeschissen wie ein ungekochtes Maiskorn?«

»Sehr eloquent formuliert, DI Flynn. Wie schafft es der Botaniker, dass sein Gift so lange im Körper seines Opfers verbleibt, bis sich die Hülle auflöst?«

»Sie wissen es, nicht wahr?«, fragte Mathers.

Doyle nickte. »Ich habe eine Theorie.«