E s kann bis zu vierundzwanzig Stunden dauern, bis Nahrung vom Mund bis zum Anus gelangt«, erklärte Doyle. »Das ist eine Strecke von neun unwirtlichen Metern. Und DI Flynn hat recht, solange nicht irgendetwas das eingekapselte Gift daran hindert, den Weg ins Freie zu finden, findet es ihn auch. Durch Peristaltik – das sind im Großen und Ganzen aufeinanderfolgende Muskelkontraktionen – verarbeitet das Verdauungssystem alles, was es bekommt. Die Wissenschaftler, die wollten, dass Tabletten länger im Körper bleiben, als die Peristaltik es zulässt, mussten Pillen entwickeln, die das Verdauungssystem daran hindern, das zu tun, wofür es gedacht ist.«
Doyle füllte ein Becherglas mit Wasser. Dann warf sie die weiße Paracetamoltablette und die blau-weiße Paracetamolkapsel hinein und rührte mit einem Stift um. Kurz darauf begann die Tablette sich aufzulösen und sank auf den Grund des Glases. Wenige Sekunden später begann die Kapsel zu zerfallen.
»Wie zu erwarten, haben die nicht retardierten Medikamente genau das getan, was sie sollten. Wenn das Glas ein Magen wäre, würde das Medikament jetzt vom Körper aufgenommen werden.«
Sie griff in die Tasche und holte einen dritten Blister heraus. Dann drückte sie eine scheibenförmige Tablette heraus und hielt sie hoch.
»Das hier habe ich aus der Krankenhausapotheke; das ist Chlortenoxicam, ein Entzündungshemmer«, sagte sie. »Und jetzt passen Sie auf.«
Sie füllte ein zweites Becherglas und warf die Tablette hinein. Nichts geschah. Die Tablette schaukelte einfach nur wie ein winziges Floß an der Oberfläche.
»Das hier ist ein magenspezifisches flottierendes Arzneimittelabgabesystem«, verkündete sie. »Die sind für Wirkstoffe gedacht, die im Magen absorbiert werden müssen, oder für Medikamente, die im Dünndarm schlecht aufgenommen werden.«
»Es schwimmt immer oben?«, fragte Flynn.
»Genau. Seine Rohdichte ist geringer als die der Magensäfte, und es ist so beschaffen, dass es obenauf schwimmt, bis die Hülle um den Wirkstoff sich auflöst. Solche Medikamente gibt es schon lange, und sie werden immer ausgefeilter.«
»Also wie mit einem Tischtennisball in einer Toilette. Egal, wie oft man spült, der Ball kommt immer wieder hoch.«
»Ganz genau. Und jetzt stellen Sie sich vor, in dem Tischtennisball ist etwas drin, was die Toilette kaputt machen wird. Solange der Ball kein Loch hat oder sich auflöst, schwimmt das Zeug weiter in der Schüssel und ist vollkommen harmlos. Und das ist keine Science-Fiction: Das MIT hat gerade eine Kapsel entwickelt, die sich zu einem Stern entfaltet, und zwar groß genug, um nicht durch den zwei Zentimeter weiten Durchlass zu passen, der in den Dünndarm führt. Sie glauben, das Ding kann bis zu einem Monat lang im Magen verbleiben.«
»Was ist das MIT ?«, wollte Poe wissen.
»Das Massachusetts Institute of Technology, Poe«, antwortete Bradshaw. »Eine privat geführte Forschungsuniversität in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sechsundzwanzig Turing-Award-Träger, acht Träger der Fields-Medaille und einundvierzig Astronauten waren beim MIT .«
»Wichtigtuer«, knurrte Poe. »Und ich war zur selben Zeit auf dem Kendal College wie Stephen Machalepis. Der war echt berühmt.«
»Was hat der getan?«
»Einen von den Corgis der Queen gebissen.«
Flynn kicherte. »Manchmal ist es schwer, ihn bei der Stange zu halten, Estelle«, meinte sie. »Aber wenn das Ding in Salts Magen rumschwimmt, warum schieben wir ihm dann nicht einfach eine Kamera in den Hals? Wenn es da ist, können wir’s dann nicht einfach greifen, wie in so einem Greifautomaten auf dem Rummel?«
»Das geht aus zweierlei Gründen nicht, DI Flynn«, antwortete Doyle. »Er hat vor Kurzem gegessen, also könnte der Arzt die Tablette wahrscheinlich nicht sehen. Und selbst wenn, es wäre wahnsinnig gefährlich, sie durch den Ösophagus rauszuholen. Es stimmt zwar, es gibt inzwischen auch Greifaufsätze für Endoskope, aber ich glaube, das Risiko wäre zu groß. Wenn ich recht habe, und ich sehe nicht, wie es anders sein könnte, dann verwendet der Botaniker eine Hülle, die sich im Laufe eines ganz bestimmten Zeitraums zersetzt. Am Anfang war sie bestimmt noch vergleichsweise dick, aber inzwischen dürfte sie in etwa so haltbar sein wie ein zu lange gebackenes Croissant. Der Endoskop-Aufsatz könnte die Tablette nicht fassen, ohne die Hülle zu durchlöchern. Und wenn die beschädigt wird, liefert die Tablette ihre Fracht ab.
Und deswegen wird Salt gerade für die OP vorbereitet. Bei dem Eingriff eröffnet Dr. Mukherjee die Bauchhöhle mit einem vertikalen Schnitt, durch Haut, Fettgewebe, Muskeln und Aponeurosen – das sind die Sehnen, die Muskeln mit dem verbinden, was der jeweilige Muskel bewegt – und Bauchfell hindurch. Dann schiebt er ein paar Dinge zur Seite und öffnet schließlich den Magen. Wenn er da erst mal drin ist, holt er mit einem chirurgischen Löffel den Mageninhalt heraus.«