T emple Express Pharmacy«, sagte Bradshaw und zeigte auf den Monitor an der Wand, den sie gerade mit ihrem Laptop verbunden hatte. »Die haben einen Vertrag mit der gesetzlichen Krankenkasse und bieten E-Rezept-Service an.«
»Ist das ein Privatunternehmen?«, erkundigte sich Mathers.
»Ja, Detective Chief Superintendent Mathers«, antwortete Bradshaw. »Ein Kunde bestellt auf deren Website Medikamente, und Temple fordert beim Hausarzt des Kunden das Rezept an. Sie holen das Medikament aus ihrem Lager und bringen es dann mit ihrer eigenen Lieferwagenflotte zum Kunden. Dauerrezepte werden automatisch bearbeitet. Sämtliche Opfer waren dort als Kunden registriert, auch Douglas Salt.«
»Aber wir haben doch die Akten der Hausarztpraxen überprüft«, wandte Mathers ein. »Das wäre uns doch aufgefallen.«
»Haben wir auch«, erwiderte Flynn, »aber damals ging es nicht um Medikamente, also haben wir nicht allzu tief nachgebohrt. Und der Grund dafür, dass wir das übersehen haben, ist, dass Temple im Laufe der letzten Jahre reihenweise Konkurrenzunternehmen geschluckt hat. Mit wenigen Ausnahmen wurde jede Apotheke in London aufgekauft, die einen Vertrag mit der gesetzlichen Krankenkasse hatte. Die verschlanken die neu erworbene Firma, indem sie Dienstleistungen wie Personalwesen und Lohnbuchhaltung zentralisieren, behalten aber den ursprünglichen Namen der Apotheke bei. Deswegen hat es auch den Anschein, als wären alle Opfer von unterschiedlichen Apotheken beliefert worden.«
»Aber in Wirklichkeit waren das alles Tochterunternehmen von Temple?«
»Genau. Temple ist der Mutterkonzern, unter dessen Dach all die anderen hocken. Und eines ihrer Hauptverkaufsargumente ist garantierte Diskretion. Alle Medikamente werden in unauffälliger Verpackung ausgeliefert. Für einen Prominenten mit einer peinlichen Krankheit ist das wohl wichtig. Wir wissen zum Beispiel, dass Kane Hunt unbedingt geheim halten wollte, dass er impotent war.«
»DI Flynn hat mir das erklärt, aber ich versteh’s immer noch nicht«, warf Bradshaw mit gefurchter Stirn ein. »Erektile Dysfunktionen sind doch ein häufiges Problem, vor allem bei Männern über vierzig. So etwas kann durch Stress ausgelöst werden, durch übermäßigen Alkoholkonsum oder nicht erkannte Gesundheitsprobleme. Das ist doch nichts Peinliches. Wenn Poe mir sagen würde, dass er keine normale Erektion haben kann, würde ich ihm raten, weniger zu trinken und mehr zu schlafen. Wenn er dann immer noch nicht zu penetrativem sexuellen Verkehr imstande wäre, würde ich ihn zu seinem Hausarzt schicken. Zu dem er wahrscheinlich nicht gehen würde, so wie ich ihn kenne.«
»O Gott«, flüsterte Poe.
Bradshaw suchte in dem überfüllten Raum nach ihm, doch er saß ganz hinten und sie war kurzsichtig. Er war so weit auf seinem Stuhl hinuntergerutscht, dass seine Füße die der Person vor ihm berührten.
Doyle hob die Hand. »Er ist hier drüben, Tilly«, rief sie grinsend.
Bradshaw stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte. »Hi, Poe«, sagte sie. »Ich habe gerade von dir gesprochen. Hast du’s gehört?«
Mit glühendem Gesicht starrte Poe zu Boden. Cops begannen zu glucksen. Einer lachte ganz offen los. Ein anderer bemerkte unter grölendem Jubel: »Wir sollten ihn Sergeant Holzbein nennen.«
»Was?«, fragte Bradshaw.
»Das ist Goldstaub«, stellte Henning Stahl fest und kritzelte wie wild. »Purer Goldstaub.«
»Okay«, ging Flynn dazwischen. »So spaßig das auch ist, wir sind noch nicht fertig. Wir glauben, dass Beck Temple Pharmacy infiltriert und ihre Datenbank nach potenziellen Opfern durchsucht hat. Er sucht sich Personen aus, die Dauerrezepte für Medikamente brauchen, die sie täglich einnehmen müssen, und fabriziert Tabletten von identischem Aussehen, von denen eine in Wirklichkeit ein mit einer Retardierungsbarriere umhülltes Gift ist. Dann tauscht er den Blister von Temple gegen seinen aus und lässt das Medikament auf die übliche Art und Weise ausliefern. Dann wartet er ab, bis ein neues Rezept geordert worden ist, bevor er diese Scharade mit den Blumen und Gedichten und der Warnung abzieht. Zu diesem Zeitpunkt kann er sich sicher sein, dass seine Giftpille schon im Magen des Opfers schwimmt. Im Grunde hat der- oder diejenige eine tickende Zeitbombe geschluckt.«
»Und nur er weiß, wie lang die Zündschnur ist«, fügte Mathers hinzu.
»Jep.«
»Kane Hunt hat aber nicht täglich Medikamente eingenommen. Wie passt er da rein?«
»Auf Kasse bekommt man im Monat nur acht Tabletten Sildenafil verschrieben«, antwortete Flynn. »Und Kane Hunt hat so viele geordert, wie’s erlaubt war. Wir glauben, er hat sie genommen, um masturbieren zu können.«
Mathers nickte. »Das haut alles hin«, stellte sie fest. »Ich lasse einen Durchsuchungsbeschluss beantragen. Schauen wir mal, ob wir eine Liste der Mitarbeiter kriegen können.«
»Die sind wir schon durchgegangen, Ma’am.«
»Und wie?«
»Tilly sagt, es war legal«, antwortete Flynn, »aber fragen Sie vielleicht nicht zu früh, wie sie’s gemacht hat. Wir haben eine Liste aller Mitarbeiter, die Zugang zum Medikamentenlager von Temple haben, und von allen, die in den Verteilungsprozess involviert sind. Nachher lassen wir sie rumgehen, aber wir haben uns auf Männer zwischen vierzig und sechzig beschränkt, die in den letzten achtzehn Monaten in der Firma angefangen haben.«
»Und wie viele Namen sind es?«
»Nur drei. Robin Barker arbeitet als Reinigungskraft im Lager, er hat also potenziell Zugang zu den Medikamenten, und Paul Burdis ist Apotheker. Burdis ist derjenige, der die Rezepte einlöst. Der dritte Mann heißt Christopher Goodson. Er ist einer von den Teilzeitkräften, die die Lieferwagen fahren.«
»Ich nehme an, Sie halten Paul Burdis für den wahrscheinlichsten Verdächtigen?«
»Ehrlich gesagt nein«, antwortete Flynn. »Um Medikamente auszugeben, hätte Beck einen Abschluss in Pharmazie fälschen und dann hoffen müssen, dass Temple nicht überprüft, ob er im General Pharmaceutical Council registriert ist.«
»Also die Reinigungskraft?«
»Durchaus möglich, Ma’am.«
»Aber Sie glauben es nicht.«
»Beck müsste jedes Mal absolut ungestört sein, wenn er das Medikament für das Opfer gegen seine Tabletten austauscht. Bei Temple wird rund um die Uhr gearbeitet; ich glaube also nicht, dass eine Reinigungskraft so viel Privatsphäre hätte.«
»Bleibt also noch der Fahrer.«
»Der sehr wohl ungestört wäre, um die Tabletten auszutauschen. Er könnte das Medikament am Ende seiner Schicht einfach mit nach Hause nehmen, die Blister austauschen und dann am nächsten Tag sein Medikament ausliefern. So braucht er sich keine Sorgen um doppelte Lieferungen zu machen. Und er hätte Zugang zur Datenbank, um Adressen und Lieferanweisungen überprüfen zu können.«
»Hat Temple ein neueres Foto von dem Mann?«
»Ich fürchte, da sieht’s schlecht aus, Ma’am«, antwortete Flynn. »Fahrer brauchen keinen Firmenausweis mit Bild, sie haben ja keinen direkten Kundenkontakt.«
»Aber die müssen doch eine Kopie von seinem Führerschein gemacht haben?«
»Haben sie auch, aber das ist ein altes Foto, und es ist nicht gerade toll. Aber eine Adresse gibt es.«
»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch, aber wir überprüfen sie trotzdem«, meinte Mathers. »Das haben Sie beide fantastisch gemacht, DI Flynn. Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?«
Poe legte den Kopf in die Hände und stöhnte leise. Mathers sah es.
»Gibt’s ein Problem, Sergeant Poe?«
»Es hätte morgen vorbei sein können«, sagte er. »Wir hätten Temples Distributionszentrum überwachen und Beck festnehmen können, wenn er zum Dienst kommt. Aber wegen dieser verdammten Pressekonferenz weiß er jetzt, dass wir ihm auf der Spur sind. Ich tippe darauf, dass wir erst wieder von ihm hören, wenn er einen brandneuen Plan hat.«
Mathers antwortete nicht, doch Poe merkte, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Ein Constable in Uniform kam herein und ging nach vorn. Er reichte Mathers einen Zettel.
»Sieht aus, als ob Sie sich irren, Sergeant Poe«, sagte sie. »Frederick Beck ist am Telefon. Er will mit Ihnen reden.«