D ieses Profil stimmt nicht«, verkündete Doyle.
»Ich hab’s dir doch gesagt, Poe!«, rief Bradshaw. »Ich hatte viel zu wenig Daten.«
»Ganz ruhig, Tilly«, sagte Poe. Dann wandte er sich an Doyle. »Stimmt alles nicht oder nur ein Teil?«
»Zuerst mal, Tilly, in Anbetracht dessen, was Sie zur Verfügung hatten, ist das hier« – Doyle hielt den Ausdruck hoch – »bemerkenswert akkurat.«
»Aber irgendwas haben wir falsch gemacht?«
»Ihr habt eher etwas ausgelassen, das ihr unmöglich wissen konntet.«
»Etwas Wichtiges?«
»Etwas, das Freddies psychologisches Profil von Grund auf ändert.«
»Frederick Beck war ein pingeliger, wichtigtuerischer Mensch«, sagte Doyle, »aber sein pharmazeutisches Fachwissen über die Nutzung von NCE s war einmalig.«
»NCE s?«, fragte Mathers.
»Neue chemische Entitäten. Die entstehen durch chemische Synthese oder durch die Isolation von Naturprodukten. Tiergifte, die in letzter Zeit auf diesem Gebiet sprunghaft zugenommen haben, mal ausgeschlossen, gibt es vier Hauptnaturprodukte, die in der Medizin Verwendung finden: Pilze, Bakterien, Meeres- und botanische Organismen, das war Fredericks besonderes Fachgebiet.«
Poe, Bradshaw, Flynn und Mathers hatten sich einen Ecktisch in der Personalkantine des Krankenhauses geschnappt. Alle hatten heiße Getränke vor sich. Ungeachtet der späten Stunde hatte Poe die Köchin überredet, ihm ein Sandwich mit Speck zu machen. Weißbrot, ohne Soße, massenhaft Butter, massenhaft Pfeffer. Perfekt. Bradshaw verzog jedes Mal das Gesicht, wenn er davon abbiss.
»Tillys Profil ist insofern völlig akkurat, als er von seinem Ego getrieben war«, fuhr Doyle fort. »In seinen Augen gibt es nichts Schlimmeres, als anonym zu sein. Nun ist ein kleines bisschen Ego in der pharmazeutischen Forschung nicht unbedingt etwas Schlechtes – einige der besten Wissenschaftler der Welt sind getriebene, aber widerwärtige Menschen. Arrogant, sexistisch, wollen ständig alle anderen überflügeln. Machen ihre Kollegen klein und schikanieren sie.«
»Laut Tillys Profil traf das alles auf Beck zu«, meinte Flynn.
»Das stimmt auch. Einmal musste er vor dem European Medicines Agency Committee for Medicinal Products for Human Use erscheinen, weil er sich geweigert hatte, die Urheberschaft an einer Studie zu teilen. Eine Frau hatte sie mit ihm zusammen verfasst, aber bevor sie zur Veröffentlichung eingereicht wurde, hatte er ihren Namen von der Titelseite gelöscht. Hat ihre Rolle bei der Forschung runtergespielt, behauptet, sie wäre nicht viel mehr gewesen als eine kleine Assistentin.«
»Und was ist passiert?«
»Das Unternehmen, für das sie gearbeitet haben, hat ihr Druck gemacht, die Beschwerde zurückzuziehen«, antwortete Doyle. »Es hieß, interne Konflikte würden kein gutes Licht auf sie werfen. Was da nicht gesagt wurde, war, dass Frederick gedroht hatte zu kündigen, wenn er die Urheberschaft teilen müsste. Sie haben ihr einen sechsstelligen Bonus gezahlt und ihr gesagt, sie soll den Mund halten.«
»So viel Einfluss hatte er?«, fragte Poe.
»Motoneuronerkrankungen sind ein milliardenschwerer Markt, und obwohl Fredericks Fachgebiet, das Acquired Breeg-Bart Syndrome, nur relativ klein ist, wird die Firma, die das erste wirksame Medikament dagegen auf den Markt bringt, Hunderte Millionen im Jahr verdienen. Als Frederick gedroht hat zu gehen, standen sie vor einer krassen Entscheidung: darauf bestehen, dass die Frau die Meriten bekommt, die sie verdient hatte, oder ihre Investition schützen. Für ein börsennotiertes Unternehmen ist das keine Frage.«
»Wenn er so ein Star war, warum hat er dann nicht an einer bekannteren Motoneuronerkrankungen geforscht?«, wollte Mathers wissen. »Stimmt es, dass er seine Karriere geopfert hat, um an einem Heilmittel für seine Frau zu arbeiten?«
»Jetzt kommen wir langsam zum springenden Punkt«, sagte Doyle. »Er war führend auf seinem Fachgebiet, weil er sich geweigert hat, sich auf dem von irgendjemand anderem zu betätigen, und er hat nicht zugelassen, dass jemand sich auf seinem betätigt.«
»Sie meinen, er wollte lieber ein großer Fisch in einem kleinen Teich sein?«
»Genau. Er hat sich dafür entschieden, am Breeg-Bart Syndrome zu arbeiten, um da der anerkannte Experte zu werden. Er hatte kein Interesse daran, Teil eines großen Forschungs-Vorstoßes zu sein, wollte nicht in einem Team sein. Wenn jemand von Breeg-Bart sprach, sollte er im selben Satz Frederick Beck erwähnen müssen.«
Poe runzelte die Stirn. »Aber er hat sich doch bestimmt wegen Melanie dafür entschieden, daran zu arbeiten, wegen seiner Frau?«
»Erklär mir mal den zeitlichen Ablauf der Ereignisse so, wie du ihn verstehst, Poe«, sagte Doyle.
»Welchen Teil?«
Doyle blätterte den Ausdruck auf. »Seite acht«, sagte sie. »Wie er seine Frau kennengelernt und dann entdeckt hat, dass sie ein Breeg-Bart Syndrome hatte. Die Liebesgeschichte, auf die die Presse ganz wild war.«
Poe hatte das Profil von Anfang bis Ende gelesen und brauchte sein Gedächtnis nicht aufzufrischen. »Eigentlich war das eine traurige Geschichte«, meinte er. »Sie haben sich kennengelernt, als er als Forschungsassistent in einem Lehrkrankenhaus gearbeitet hat und sie da Patientin war. Ich glaube, sie war zusammengebrochen, als sie abends ausgegangen war. Er ist ihr begegnet, als sie entlassen wurde, und zwischen ihnen hat es gefunkt. Nicht mal sechs Monate später haben sie geheiratet, glaube ich. Zwei Jahre darauf wurde bei ihr Breeg-Bart diagnostiziert, und da hat er all seine Energie und sein Fachwissen auf diese Krankheit konzentriert.«
Doyle nickte. Hielt das Profil abermals hoch. »So steht’s hier auf jeden Fall drin«, bestätigte sie.
»Er hat eine Art Kreuzzug begonnen«, fuhr Poe fort. »Und auch wenn ich keine Zweifel daran habe, dass er die Krankheit seiner Frau benutzt hat, um sich zusätzliche Mittel zu beschaffen, kann ich’s ihm eigentlich nicht wirklich verdenken. Laut dem Profil war es kein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten, aber wer wäre in dieser Situation schon ein angenehmer Kollege? Als seine Frau kurz nach dem Erscheinen des Artikels gestorben ist, der seinen Ruf und seine Karriere vernichtet hat, hat ihn das in den Abgrund gestürzt, dem er bereits ziemlich nahe war. Hat ihn zu dem ›Nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt‹-Psychopathen gemacht, der er jetzt ist. Aber bevor er ein Serienmörder war, war er da nicht einfach nur ein Mann, der versucht hat, das Richtige für seine Frau zu tun?«
»Und wenn ich nur die Informationen hätte, die ihr hattet, wäre ich auch zu diesem Schluss gekommen.«
»Du hast gesagt, du hast Informationen, von denen wir unmöglich wissen konnten?«
Doyle nickte. »Würde es euch überraschen, wenn ich euch sage, dass Frederick Beck seine Frau nie geliebt hat?«, fragte sie. »Und dass er bei Weitem nicht der am Boden zerstörte Ehemann war, für den alle ihn gehalten haben, sondern dass er sie geheiratet hat, weil sie ein Acquired Breeg-Bart Syndrome hatte?«
»Nein, Estelle, das stimmt doch gar nicht.« Bradshaw schüttelte den Kopf. »Das wurde bei ihr doch zwei Jahre nach der Hochzeit diagnostiziert. Mit seinen Forschungen hat er erst nach ihrer Diagnose angefangen.«
»Es war kein Zufall, dass er diese Stelle in dem Lehrkrankenhaus angenommen hat, Tilly«, erwiderte Doyle. »In Sachen Karriere war das nicht logisch – bahnbrechende Forschungen finden im privaten Sektor statt, nicht im öffentlichen. Nein, da hatte er sich das Feld schon ausgesucht, auf dem er arbeiten wollte, er hatte es nur niemandem gesagt.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Poe.
»Ich sage, er hat die Stelle in dem Krankenhaus angenommen, um eine Frau zu finden. Eine Ehefrau mit einer ganz spezifischen Symptom-Kombination. Durch die Arbeit im Krankenhaus ist er an die Testresultate sämtlicher Patienten herangekommen. Ich glaube, da wusste er schon, welches die Frühindikatoren für Breeg-Bart sind, und er hat sich Melanie ausgesucht, weil sie alle richtigen Anzeichen gezeigt hat. Er hat sie nie geliebt, für ihn war sie nicht viel mehr als eine Requisite. Jemand, der ihm geholfen hat, den richtigen Rahmen für seine Story zu setzen. Was glaubt ihr denn, worüber die Zeitungen schreiben wollten – über irgendwelche langweiligen, aber effektiven Forschungen, die irgendwo betrieben werden, oder über den brillanten Wissenschaftler, der sich verzweifelt bemüht, seine sterbende Frau zu retten?«
»Das ist echt kaltherzig«, stellte Poe fest.
»Ich sage ja nicht, dass sie ihm im Laufe der Zeit nicht ans Herz gewachsen ist«, sagte Doyle. »Vielleicht so, wie ein Forscher bei Tierversuchen ein Rhesusäffchen lieb gewinnt.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Poe.
»Seine Frau hat’s mir erzählt«, antwortete sie. »Bei einer Veranstaltung hatte sie zu viel getrunken, und Frederick hatte sie den ganzen Abend nicht beachtet. Ich glaube, ich war für sie eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Wenn es bei seinen Forschungen nicht gut lief oder er mit einem Förderantrag keinen Erfolg gehabt hatte, hat sie gesagt, dann hat er getobt und sie angebrüllt. Ein paarmal hat er den wahren Beweggrund hinter ihrer Ehe durchblicken lassen.«
»Glaubst du, Beck hat gewusst, dass du Bescheid wusstest?«
»Möglich. Auf jeden Fall hat er uns miteinander reden sehen, als er angestürmt gekommen ist. Ob Melanie ihm später etwas erzählt hat, kann ich nicht sagen.«
»Deswegen hat Beck versucht, Estelle einen Mord anzuhängen«, stellte Poe fest. »Er ist besessen von seinem öffentlichen Image, und er weiß noch nicht, dass wir sein Labor in Japan gefunden haben. Die einzige Bedrohung für das Image, das er pflegt, ist die Offenbarung, dass er seine Frau geheiratet hat, weil er wusste, dass sie krank werden würde. Für ihn ist Estelle eine Bedrohung seines Promi-Status.«
»Also hat er es mit einer kleinen Irreführung versucht«, meinte Mathers. »Hat versucht, uns von dem wahren Grund wegzulotsen, warum er sie als Mörderin hat verhaften lassen. Das könnten wir neutralisieren, indem wir die Bilder veröffentlichen, die wir aus Japan geschickt bekommen haben. Ein präemptiver Vernichtungsschlag gegen seine Reputation?«
»Das sollten wir tun«, stimmte Poe zu. »Solange er noch jedermanns Goldjunge ist, hat er noch was zu verlieren. Er wird jetzt schon nach Wegen suchen, an Estelle heranzukommen.«
»Das könnt ihr nicht machen«, widersprach Doyle. »Abgesehen von den Informationen über seine Ehe stimmt der Rest dieses Profils. Wenn ihr ihn jetzt ruiniert, wird er mit Sicherheit irgendetwas tun. Und Poe hat mir erzählt, er hat einen Fogger zu etwas umgebaut, womit man Dutzende Menschen umbringen kann.«
»Sie hat recht«, sagte Mather. »Diese Information dürfen wir nicht veröffentlichen. Das heißt, wir müssen Professor Doyle in Schutzhaft nehmen. Jetzt, wo wir seine Methode kennen, sollte ihr eigentlich keine Gefahr drohen.«
»Falsch«, knurrte Poe. »Wir kennen eine seiner Methoden. Aber wer weiß, was dieser Irre als Nächstes aus dem Hut zaubert? Und um einen Spruch aus meiner Anti-Terror-Zeit zu bemühen: Er braucht nur einmal Glück zu haben, wir müssen jedes Mal Glück haben.«
»Wir können Sie beschützen, Professor Doyle, wirklich«, beharrte Mathers.
»Nein, das können Sie nicht«, gab Poe zurück. »Aber ich.«