125 . Kapitel

E dgar kann als Erster reingehen«, meinte Poe, während er die Tür aufschloss. »Wenn da irgendjemand drin war, wird er’s uns wissen lassen.«

Ein freudiges Blaffen verriet ihnen, dass keine Gefahr drohte. Sie folgten dem Hund hinein.

»Ich mach Feuer im Herd, damit wir warmes Wasser haben«, sagte er. »Dann kannst du bald duschen. Im Bad sollten saubere Handtücher sein. Und dann regeln wir, wer wo schläft.«

Doyle antwortete nicht. Sie sah sich immer noch in dem einen großen Raum um, der das Erdgeschoss von Herdwick Croft darstellte. Ihre Augen waren riesengroß. Poe hatte sich nie für sein Zuhause geschämt, und das tat er auch jetzt nicht, doch er hatte gehofft, dass es Doyle gefallen würde.

»Es ist der sicherste Ort, den ich kenne«, sagte er, »aber wenn’s dir nicht zusagt, können wir uns auch was anderes überlegen, nachdem wir ein bisschen geschlafen haben.«

»Zusagen?« Sie lächelte. »Es ist absolut perfekt, Poe.«

Während Doyle duschte, machte Poe Frühstück. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal eine richtige Mahlzeit vor sich gehabt hatte. Wahrscheinlich bei dem Vietnamesen, bei dem er mit Flynn gegessen hatte, als sie auf der Suche nach Henning Stahl gewesen waren. Seitdem hatte er immer nur auf die Schnelle irgendetwas verdrückt. Allem Anschein nach hatte Victoria seinen Kühlschrank mit allem bestückt, was der Metzger verkaufte. Ringsalami, Speck, Hühnerbeine, Lammgulasch, Blutwurst. Ein paar Fleischpasteten. Er nahm ein paar Eier und schlug sie in eine Schüssel. Rührte ein bisschen Milch sowie je eine Prise Salz und Pfeffer hinein. Sobald er hörte, wie die Dusche abgedreht wurde, machte er seine Pfanne heiß und tat ein wenig Öl hinein. Während das Omelett brutzelte, fand er Käse und Frühlingszwiebeln im Kühlschrank. Als er das Omelett zusammengeklappt hatte, war Doyle in die Küche heruntergekommen. Sie trug schwarze Jeans und eins von seinen Clash-T-Shirts. Das Shirt war alt und dünn und wahrscheinlich fünfzigmal gewaschen worden, und Poe fand, dass es an ihr besser aussah als an ihm.

»Du hast doch nichts dagegen, oder?«, fragte sie.

»Überhaupt nichts«, beteuerte er. »Geht’s dir besser?«

»Viel besser. Der Wasserdruck hier ist echt der Hammer.«

»Es wird direkt aus dem Boden gepumpt. Hast du Hunger? Ich habe uns ein Omelett gemacht. Stört dich doch nicht, dass es ein bisschen gummiartig ist, oder? Ich weiß, wie man Omeletts anfängt, aber ich habe nie gelernt, wann man aufhören muss.«

»Fragst du gerade, wie ich morgens meine Spiegeleier gebraten haben möchte, Poe?«

Poe schaute demonstrativ auf die Uhr. »Du lässt nach, Estelle. Wir sind seit vierzig Minuten hier, und das ist deine erste anzügliche Bemerkung.«

»Entschuldige.«

»Nein, ist schon okay. Du hältst dich bemerkenswert gut.«

»Du meinst, für jemanden, der vor vierundzwanzig Stunden aus dem Knast gekommen ist, nur um festzustellen, dass ein Serienmörder hinter ihm her ist?«

»Ich meine für jemanden, der gerade seinen Vater verloren hat«, antwortete er leise. »Bei all dem Gewese ist da was untergegangen.«

»Und was, Poe?«

»Du hast nicht trauern dürfen. Es ist egal, wie nahe ihr euch gestanden habt, er war immer noch dein Dad. Ich fände es also schön, wenn wir uns hinsetzen, unser Frühstück essen und unseren Kaffee trinken könnten. Und hinterher möchte ich, dass du mir von ihm erzählst. Was für ein Mensch er war. Geschichten, die er dir über seine Jugendzeit erzählt hat. Wie es war, in Highwood aufzuwachsen.«

»Ich weiß nicht genau, ob ich schon so weit bin, Poe.«

»Bitte, Estelle. Mir zuliebe.«

Sie legte den Kopf schief und schürzte die Lippen. »Um was geht’s hier, Poe?«

Er nuschelte etwas, das sie nicht verstand.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie.

»Ich habe gesagt, dein Vater ist tot, und das ist meine Schuld.«

»Deine Schuld? Wieso in aller Welt ist das deine Schuld?«

»Wenn ich dir nicht andauernd all die Fälle angeschleppt hätte, hätte Beck nicht gewusst, dass wir zusammenarbeiten. Dann hätte es keinen Grund gegeben, dich aus dem Spiel zu nehmen.«

»Du bist ein toller Detective und ich bin eine tolle Pathologin und wir leben beide im Norden von England«, entgegnete sie. »Wir hätten auf jeden Fall gemeinsam Fälle bearbeitet.«

»Aber das war nicht der einzige Grund, weswegen ich immer wieder bei dir aufgekreuzt bin«, fügte er leise hinzu. »Ich habe dir Fälle gebracht, auch wenn’s gar nicht nötig war. Fälle, die weit unter deiner Gehaltsklasse waren.«

»Und warum hast du das getan?«

Poe antwortete nicht.

»Poe«, fragte sie, »warum hast du mir immer wieder Fälle angeschleppt?«

»Weil ich gern mit dir zusammenarbeite«, sagte er.

»Ach, du armer Kerl«, lachte sie. »Wie lange machst du dir deswegen schon Gedanken?«

»Seit du uns von Becks Frau erzählt hast.«

»Also, wenn das so ist, dann habe ich meinen Vater auch umgebracht.«

»Das verstehe ich nicht. Wieso hast du …?«

»Ist dir jemals der Gedanke gekommen, Poe, dass ich deine Fälle angenommen habe, die, von denen du sagst, sie wären unter meiner Gehaltsklasse gewesen, weil ich gern mit dir zusammenarbeite?«

»Trotzdem, wenn ich ein bisschen professioneller …?«

»Hast du meinen Vater erschossen, Poe?«

»Das tut doch überhaupt nichts …«

»Ich gebe dir nicht die Schuld daran«, sagte sie. »Und ich gebe mir nicht die Schuld daran. Der einzige Mensch, dem ich die Schuld daran gebe, ist Frederick Beck. Und das ist das Letzte, was ich davon hören will, dass du dich verantwortlich fühlst. Ist das klar?«

»Ja, ist es. Danke, Estelle.«

»Ist schon okay«, antwortete sie. »Können wir jetzt bitte essen? Und hinterher werde ich tun, worum du mich gebeten hast und dir von meinem Vater erzählen. Wir haben uns nicht immer gut verstanden – er wollte, dass ich die Gutsherrin spiele, und ich wollte den Tod studieren –, aber langweilig war’s nie.«