130 . Kapitel

Einen Monat später, Chapin-Hag Industries

B erechenbarkeit hatte diese Menschen getötet, dachte Frederick Beck, während er seine gegenwärtige Zielperson beobachtete.

Ihre Gewohnheiten, ihre Passionen, ihr Hunger. Ein akribischer Mann konnte eine Person studieren und sie besser kennenlernen als sie sich selbst.

So hatte er auch gewusst, dass Kane Hunt sein Sildenafil weiter einwerfen würde, obwohl er eine Todesdrohung erhalten hatte. Seine Impotenz machte ihn berechenbar.

Und Harrison Cummings, in der wärmenden Gewissheit, dass das Land ihn schützen würde, sobald er sich beklagte, ganz gleich, wie widerwärtig sein Verhalten war. Seine Arroganz hatte ihn dazu verleitet, sich in Sicherheit zu wähnen.

Und Karen Royal-Cross, mit ihrer geradezu monoton unoriginellen Weltanschauung. Er hätte ihr eine Flasche schicken können, auf deren Etikett »Tödliches Gift« stand, und sie hätte lediglich »Fake News« getwittert, bevor sie sich noch eine Schlankheitspille in ihren schwabbeligen Schlund gestopft hätte.

Menschen wie er jedoch sahen alles.

Die Dinge, die andere alle sehen lassen wollten, und die Geheimnisse, die sie in ihren tiefsten Taschen mit sich herumtrugen. Für einen akribischen Mann waren das tief hängende Früchte, die er nach Belieben pflücken konnte. Und ja, bei der Frage, wie schnell man seine Methode entschlüsseln würde, hatte er sich verschätzt, doch das war okay – Fehlschläge waren ein essenzieller Teil wissenschaftlicher Entdeckungen.

Also würde er sich anpassen und noch stärker zurückkommen. Keine Warnungen diesmal, nur Tod. Tod, der übers Land schlich, gnadenlos, unentrinnbar. Auf dem Fahndungsbild, das sie in Umlauf gegeben hatten, war er recht gut getroffen, doch er hatte vorgesorgt. Sein Bart war verschwunden, die Augen jetzt hinter farbigen Kontaktlinsen verborgen. Sein Haar hatte eine andere Farbe. Botox-Injektionen in die Stirn und um die Augen ließen ihn zehn Jahre jünger aussehen als der Mann, auf den sie Jagd machten.

Einen Monat war es jetzt her, dass es ihm nicht gelungen war, Douglas Salt zu töten. Es wurde Zeit, wieder aktiv zu werden.

Zuerst jedoch musste jemand sterben. Ein Niemand. Ein Stück Treibgut des Lebens. Bill Hershaw war eher durch Zufall als mit Absicht zum Opfer auserkoren worden, weil er bedauerlicherweise zwischen ihm und seinem gegenwärtigen Ziel stand. Heute Nacht stand ein Eitelkeitsprojekt an. Ein unnötiges Risiko, doch er wusste, wenn er diese juckende Stelle nicht kratzte, würde alles, was darauf folgte, ihm nur wenig Vergnügen bereiten.

Bill war ein Wachmann, nicht viel mehr als ein Nachtwächter. Beck hatte ihn zwei Wochen lang beobachtet, und sein Verhalten hatte sich nicht verändert. Er war berechenbar.

Genau fünf Minuten bevor seine Schicht begann, kam er zur Arbeit und ging zwölf Stunden und zehn Minuten später wieder nach Hause, exakt fünf Minuten nach Schichtende. Alle zwei Stunden machte er eine Zigarettenpause, und alle dreißig Minuten einen Rundgang durch das Gebäude. Um Mitternacht aß er etwas – stets Sandwiches und Chips – und löste bis dahin das Kreuzworträtsel aus dem Daily Express. Danach steckte er die Nase in einen Schundroman – anscheinend mochte er amerikanische Krimis –, von dem er, abgesehen von seinen Rundgängen und einem gelegentlichen Blick auf die Monitore der Überwachungskameras, nur selten aufschaute.

Ich weiß alles über dich, Bill, dachte Beck. Ich weiß, dass du nach einer Rückenverletzung aus der Army entlassen worden bist, und ich weiß, dass du allein lebst. Ein trauriges, reizloses Leben.

Er lebte auch allein, aber weil er es so wollte. Eigentlich waren alle großen Männer allein, selbst wenn sie verheiratet waren. Das war Fluch und Segen. Es hatte ihm nicht behagt, verheiratet zu sein; er hatte sich immer darüber geärgert, wie viel Zeit ihm das stahl. Er hatte Melanie bemitleidet wegen der Art und Weise, wie sie ihn ansah, nach einem Zeichen suchte, dass sie mehr war als nur ein Mittel zum Zweck. Hatte er sie benutzt? Natürlich. Sie war ausgewählt worden. Nicht nur war sie seine Geheimwaffe im mörderischen Wettbewerb um Fördergelder, sie war außerdem ein Füllhorn voller Blut und Rückenmarksflüssigkeit. Er hatte es nicht nötig, sich regelmäßig Probenentnahmen genehmigen zu lassen, nicht wenn eine lebendige Spenderin in seinem Bett schlief.

Gehasst jedoch hatte er sie nie. Sie hatte das beste Leben gehabt, das sie hatte führen können. Das war es, was diese Zicke von Pathologin nicht begriffen hatte. Er hatte sie an jenem Abend miteinander reden sehen. Melanie hatte gewusst, dass sie sich nicht unter die Leute mischen sollte, aber da standen die beiden an der Bar und tratschten wie die Fischweiber. Später, im Hotel, hatte sie Stein und Bein geschworen, dass sie nicht über ihn gesprochen hätten, doch er erkannte eine Lügnerin, wenn er eine vor sich sah.

Es durfte der Pathologin nicht gestattet werden, alles zu gefährden. Seine neu erworbene Reputation zu ruinieren. Hätte Robin Hood Maid Marian nur geheiratet, um einen taktischen Vorteil zu erringen, so stünde heute eine andere Statue vor dem Nottingham Castle. Rückblickend war ihm klar, dass er die Pathologin einfach hätte umbringen sollen. Er hatte doch das nötige Fachwissen, um es wie einen natürlichen Tod aussehen zu lassen. Aber er hatte sie am Leben lassen wollen; sie hatte wissen sollen, dass sie dafür bestraft worden war, sich in seine Ehe eingemischt zu haben. Es sollte eine Wunde sein, die niemals verheilte. Selbstverständlich würde sie lauthals ihre Unschuld beteuern, doch es würde zu spät sein. Sie würde einfach nur ein weiteres reiches Mädchen sein, das seinen Daddy umgebracht hatte. Der Gedanke hatte ihm gefallen. Doch jetzt war sie frei und störte seine Pläne.

Nach heute Nacht würde er Estelle Doyle seine volle Aufmerksamkeit widmen.