B ill Hershaw absolvierte seine übliche Routine, nachdem er seine Chips aufgegessen hatte. Er faltete die leere Tüte zu einem kleinen Dreieck zusammen, und das warf er in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch. Seit vier Jahren arbeitete er bei Chapin-Hag Industries. Seit vier Jahren saß er in seinem kleinen Kabuff, aß seine altbackenen Sandwiches und las seine schlicht gestrickten Taschenbücher. Ein bedeutungsloser Mann, der einen bedeutungslosen Job hatte. Das hier war kein Mord, dachte Beck, es war eine Notschlachtung.
Bill war ein stämmiger Mann. Nicht fett, aber viel fehlte nicht. Ein Herzinfarkt mit fünfzig, wenn man der Natur ihren Lauf ließ. Vielleicht auch gegen Ende dieser Nacht, wenn alles so lief, wie Beck es erwartete. Bill trug einen dichten Vollbart und eine dicke Brille. Beck hatte so gründlich recherchiert, dass er sogar die Brillenstärke des Mannes kannte: 4 ,25 links, 4 ,0 rechts. Blind wie ein Maulwurf. Er trug eine dämliche Security-Uniform und nahm nie seine Schirmmütze ab, nicht einmal, wenn er eine Zigarette rauchen ging.
Der beste Zeitpunkt wäre dreißig Minuten nachdem Bill gegessen hatte, schätzte Beck. Wenn er müde war, dann um diese Zeit. Sechs Uhr morgens, bevor die ersten Angestellten zur Arbeit kamen, das wäre auch gegangen, doch Beck hatte weniger gute Gründe, um diese Zeit hier zu sein. Dreißig Minuten nach Mitternacht wäre er einfach nur ein zwanghafter Wissenschaftler, der zurück ins Labor wollte, um seine Forschungsergebnisse zu überprüfen. Bill würde ihn natürlich nicht kennen, doch Chapin-Hag Industries hatte internationale Vertragspartner und dass irgendwelche Fachleute außerhalb der Arbeitszeit vorbeischauten, war nichts Ungewöhnliches. Es war ihm nicht gelungen, sich einen richtigen Besucherausweis zu besorgen, doch er war gut genug mit der richtigen Sprache vertraut, um Bill zu täuschen.
Und wenn ihm das nicht gelang, würde er einfach abwarten, bis der Mann tot war.
Beck ging mit jenem Selbstvertrauen auf den Eingang zu – im Grunde eine Glaswand, allerdings würde sie stabiler sein, als sie aussah –, von dem er wusste, dass Leute wie Bill darauf hereinfielen. Sieh aus, als hättest du das Recht, hier zu sein, und es war sehr gut möglich, dass niemand dich aufhielt.
Bill blickte von seinem Roman auf und sah ihm entgegen. Dann stand er auf und kam auf die Tür zu. Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hoffe es«, antwortete Beck. »Ich war vorhin hier und habe an dem AS 9 -Protein-Durchbruch gearbeitet, und ich muss noch ein paar Zahlen überprüfen, um sicher zu sein, dass der Bericht für den Aufsichtsrat morgen früh auch wirklich akkurat ist.«
»Es ist schon sehr spät, Sir.«
»Ich betrachte es lieber als sehr früh.«
Bill antwortete nicht. Vielleicht war er doch nicht so dumm, wie er aussah.
»Die Wissenschaft schläft nie« – Beck beugte sich demonstrativ vor, um Bills Namensschild zu lesen – »Bill. Und wie Sie ja wissen, sind wir wegen dieses Proteins alle ganz aus dem Häuschen. Bisher haben wir angenommen, dass AS 9 nur entlang von Erblinien vorkommt, aber dieser Durchbruch beweist, dass das nicht heißt, dass es nicht disruptiv ist, nur weil es keine disruptiven Koagel in den Motoneuronzellen von Patienten außerhalb der Erblinien bildet.«
Und so führte man einen Idioten aufs Glatteis.
»Haben Sie einen Ausweis, Sir?«
»Ich bin in der Aufsichtskommission«, erwiderte Beck. »Wir haben keine Ausweise, aber Sie können gern meinen Führerschein sehen.«
»Ich muss einen offiziellen Ausweis sehen.«
Dieser Volltrottel gab immer noch nicht klein bei.
»Schön.« Beck setzte eine finstere Miene auf. »Der Vorstandsvorsitzende weiß, dass ich komme. Bitte rufen Sie ihn an, er kann es Ihnen bestätigen.«
»Es ist fast eins, Sir. Ich glaube nicht, dass ich den Vorstandsvorsitzenden wecken sollte.«
»Das ist Ihre Entscheidung, Bill, aber ich muss diese Zahlen überprüfen.«
Auf Bills Stirn bildeten sich tiefe Falten, während er mit dieser Zwangslage rang. Gleich darauf drückte er auf den Türöffner, genau wie Beck es erwartet hatte. Extrem leicht zu ersetzende Menschen hatten große Angst davor, dass Leute auf sie aufmerksam wurden, die sie wegschicken konnten wie einen lästigen Kellner.
»Sie müssen hier unterschreiben, Sir.«
»Selbstverständlich. Was lesen Sie denn da?«
»Wie bitte, Sir?«
»Sie haben doch gerade einen Roman gelesen«, sagte Beck. »Das Cover kam mir bekannt vor.«
»A Private Cathedral. Von James Lee Burke.«
»O ja, das ist einer von den Dave-Robicheaux-Romanen. Tolles Buch.«
»Haben Sie’s gelesen, Sir?«
»Ja.«
Er hatte das Buch nicht gelesen; er hatte sich gestern Nacht einfach nur gemerkt, was Bill gerade las, und war davon ausgegangen, dass er das Buch heute immer noch lesen würde. Dann hatte er ein populäres E-Zine aufgerufen, in dem Krimis besprochen wurden, und eine ausführliche Rezension gelesen. Solche Details waren es, die ihn aus der Masse hervorhoben. Der Grund, warum er niemals gefasst werden würde.
Er war viel zu akribisch.
Er folgte Bill zu dessen Arbeitsplatz und trug den Namen auf seinem Führerschein in das Besucherverzeichnis ein. Dann griff er in seine Tasche und zog eine sehr edel aussehende Schachtel hervor.
»Darf ich Ihnen ein Stück Torrone anbieten, Bill?«, erkundigte er sich. »Die sind aus Honig, Zucker und Eiweiß, und ich lasse sie mir aus Italien schicken.« Er hielt kurz inne. »Süß genug, dass einem das Herz stehen bleibt.«
Bill nahm ein kleines Stück und bekundete mit einem Nicken seinen Dank. Dann legte er es auf seinen James-Burke-Roman. Ein klein wenig Puderzucker rieselte daneben auf den Bucheinband.
»Da freu ich mich drauf, Sir. Das esse ich nach meiner Zigarettenpause.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Bill.«
»Wissen Sie, wo Sie hinmüssen, Sir?«
»Ich kann an jedem Computer arbeiten«, antwortete er. »Ist alles in der Cloud.«
»Okay, Sir. Dann bis nachher.«
Ganz bestimmt nicht, dachte Beck. Bald ist das Atropin in dem Torrone in deinem Blutkreislauf. Wenn ich hier fertig bin, bist du tot.
Rasch winkte er über die Schulter hinweg und machte sich auf den Weg in die Tiefen des Gebäudes. Er war noch nie hier gewesen, doch er wusste, dass der Serverraum im Erdgeschoss sein würde, und zwar nahe der Mitte des Gebäudes. Ein Raum ohne Fenster und mit einer hohen Decke. Schwer würde er nicht zu finden sein. Chapin-Hag Industries war ein kleiner Fisch in einem großen Teich mit einem Geschäftsmodell, das darin bestand, kleinere Forschungserfolge an größere Pharmakonzerne zu verkaufen. Ein oder zwei pro Dekade machten das rentabel.
Laut den Unterlagen, die Beck gelesen hatte, war der Durchbruch bei dem AS 9 -Protein ein Zufall gewesen, und die Leute hier hatten seine Bedeutung eindeutig nicht begriffen.
Aber er.
Chapin-Hag Industries dachte, sie hätten einen interessanten Fakt über ein interessantes Protein öffentlich gemacht. Was sie jedoch nicht wussten, was sie nicht wissen konnten, war, dass das AS 9 -Protein der Schlüssel zur Molekularbiologie des Acquired Breeg-Bart Syndromes war. Es war nicht die Wunderwaffe, nach der er sein ganzes Berufsleben lang gesucht hatte, aber es war die Blaupause, mit der man eine bauen konnte.
Beck hatte vor, die Forschungsergebnisse der Firma von ihrem Server herunterzuladen und eine Studie über ihre möglichen Anwendungsgebiete zu verfassen. Die würde er unter seinem Namen veröffentlichen. Obgleich er nie wieder in seine frühere Welt zurückkehren konnte, würde man ihm für diesen Durchbruch trotzdem Beifall zollen. Und für ihn war das kein Diebstahl. Wenn jemand den Wert von etwas nicht erkannte, war es die Pflicht derer, die diesen Wert erfassten, es ihm wegzunehmen.
Er fand den Serverraum und setzte sich vor einen Bildschirm. Bewegte die Maus, und der Bildschirm erwachte zum Leben. Anstelle des Anmeldebildschirms, den er zu sehen erwartet und eingeplant hatte, gelangte er sofort auf einen Desktop. Die hatten nicht einmal versucht, ihre Forschungsergebnisse zu schützen. Er fand den richtigen Ordner, steckte einen USB -Stick in einen Port und zog den Ordner in das Fenster, um den Download zu starten. Der Ladebalken zeigte, dass es weniger als eine Minute dauern würde. Er trommelte mit den Fingern auf die Tastatur und überlegte träge, ob Bill wohl schon tot war.
Ein leises Ping sagte ihm, dass der Ordner heruntergeladen worden war. Beck zog den Cursor auf den Ordner auf seinem Stick und klickte mit der rechten Maustaste auf »Öffnen«. Er wollte einen raschen Blick auf das werfen, was jetzt ihm gehörte.
Irritiert zog er die Brauen zusammen.
Der Inhalt des Ordners ergab keinerlei Sinn. Anstelle von Indexdateien und Unterverzeichnissen, sauber nach Projekten geordnet und chronologisch aufgelistet, enthielt der Ordner nur ein einziges Word-Dokument. Vielleicht war das ja die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse. Er öffnete das Dokument und las es.
Es dauerte nicht lange.
Drehen Sie sich mal um.
»Was soll das denn?«, stieß Beck hervor.
Die Tür des Serverraums ging auf. Licht fiel wie Bühnenbeleuchtung aus dem Flur herein. Bill lehnte von hinten angestrahlt im Türrahmen.
»Ich bin noch nicht fertig!«, blaffte Beck.
Bill sagte nichts.
»Tut mir leid, Bill«, fuhr er fort, »aber ich muss Sie bitten zu gehen. Was ich hier tue, ist vertraulich, und Sie dürfen nicht hier drin sein.«
Doch Bill machte keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. Er lehnte nur weiter im Türrahmen und betrachtete ihn ungerührt durch seine Glasziegel-Brille. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ein Gefühl der Furcht überkam Beck, als striche jemand mit einem Eiszapfen an seinem Rückgrat entlang.
»Bill, wenn Sie Ihren Job behalten wollen, dann stellen Sie das gerade völlig falsch …«
Sein Satz zerfiel zu Staub, als Bill erst seine Schirmmütze und dann die Brille abnahm.
»Mein Name ist Washington Poe, Frederick«, sagte er und rieb sich die Augen. »Ich glaube, wir haben schon mal miteinander telefoniert.«