D as Lied drang in Poes Träume. Schlagzeug und Bass, und eine Frauenstimme, die etwas von Milchshakes sang. Ganz anders als das, was er normalerweise hörte. Wo waren die Gitarren, die kreischenden Riffs, die wirren Texte?
Ein Stoß in die Rippen weckte ihn mit einem Ruck. Doyle betrachtete ihn amüsiert.
»Das ist ja ein abgefahrener Klingelton.«
»Was?« Er setzte sich auf. Griff nach hinten, boxte auf sein Kissen ein und lehnte sich dagegen.
»Dein Handy; es hat gerade geklingelt.«
»Ach, das war das eben. Ich hab schon gedacht, ich wäre in South Central LA aufgewacht.«
»Harlem.«
»Bitte?«
»Kelis ist aus Harlem, glaube ich, nicht aus Los Angeles.«
»Wer?«
»Die Sängerin.«
»Oh«, sagte er, »das hat Tilly so eingerichtet. Hat gesagt, sie hätte den voreingestellten Klingelton satt.«
»Und du hast dir das ausgesucht?«
»Nein, ich habe gesagt, sie kann installieren, was sie will, solange es nicht nervt.«
Doyle zog die Brauen hoch.
»Ich weiß nicht, wie man den Klingelton ändert«, gestand er. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nicht lange.«
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach elf.«
»Wer zum Teufel ruft denn um diese Zeit an?«
Sie sahen sich an.
»Tilly«, sagten sie wie aus einem Munde.
»Rufst du sie zurück?«, fragte Doyle.
»Mir geht’s gut hier«, gab er zurück und rutschte wieder unter die Decke. Das Bett war riesig, viel größer als das in Herdwick Croft. Alles in Highwood war riesig, als wäre es nach einem etwas anderen Maßstab gemacht. Alles alt, aber langlebig. Anscheinend blieben die Reichen reich, weil sie sich nie etwas neu kaufen mussten. Das hatte er einmal zu Doyle gesagt, und sie hatte ihn daran erinnert, dass ihr Vater Bestandsimmobilien im Wert von weit über einer Million Pfund besessen hatte.
Sie wohnten abwechselnd in Highwood und Herdwick Croft. Wenn er nicht gerade mit einem Fall befasst war, konnte Poe überall arbeiten, also richteten sie sich meist nach Doyles Terminkalender. Wenn sie Autopsien durchführte oder im Labor arbeitete, blieben sie in Highwood; wenn sie unterrichtete, zogen sie Herdwick Croft vor. Sie hatten sich eine entspannte Routine angewöhnt. Wenn sie bei Poe wohnten, erkundeten sie Cumbria und genossen die Schönheit des Shap Fell. Waren sie in Northumberland, blieben sie meistens zu Hause oder fuhren auf einen Drink nach Corbridge. Ihre Beziehung war noch neu, und sie tasteten sich beide noch hinein, doch bis jetzt war es alles gewesen, was Poe sich erhofft hatte.
»Ruf Tilly zurück, Poe. Du weißt doch, sie macht sich sonst Sorgen.«
Und tatsächlich begann sein Handy von Neuem zu klingeln. Edgar bellte. Poe hatte keine Ahnung, wo er steckte. Der Spaniel, der in zwei Zimmern aufgewachsen war, hatte jetzt ein riesiges Haus zu erkunden. Jede Nacht schlief er in einem anderen Zimmer, kam aber immer in den frühen Morgenstunden ins Schlafzimmer zurückgeschlichen, um sich zwischen sie zu kuscheln. Poe hatte angefangen, ihn als Verhütungsmittel zu bezeichnen.
Er griff nach seinem Telefon und tippte auf das grüne Icon.
»Hallo, Poe«, sagte Bradshaw. »Hier ist Tilly.«
»Ich weiß, dass du es bist, Tilly. Ein Foto von dir erscheint auf meinem Display, und darüber steht ›Tilly‹. Und außerdem bist du der einzige Mensch, der mich anruft.«
»Gehst du morgen Abend da hin?«
»Unglücklicherweise ja.«
»Sei nicht so eine Spaßbremse, Poe. Henning Stahl ist unser Freund, und er veranstaltet ein Event, um sein Buch zu promoten. Ich hole DI Flynn um neun Uhr früh ab, und wir sollten am Nachmittag in Estelles Herrensitz ankommen. Henning Stahl will uns hinterher zum Essen einladen. Er muss dann weiter nach Edinburgh, aber wir bleiben über Nacht.«
»Bringt ihr Schlafsäcke mit?«
»Poe …«, warnte Doyle. »Hör auf, sie zu foppen. Du weißt genau, sie zieht los und kauft sich einen.«
»Estelle sagt, ihr braucht vielleicht auch ein Zelt.«
Bradshaw kicherte. »Zu deinem Leidwesen, Freundchen, tauschen Estelle und ich uns immer noch regelmäßig aus. Ich weiß, dass ihr Betten für uns habt.«
»Bringst du was zu essen mit?«
»Nein. DI Flynn sagt, ich darf nie wieder Essen einkaufen. Sie sagt, ich habe ihr die Jumping-Jack-Observation ruiniert.«
»Du hast sie ruiniert? Ich habe ihre Muttermilch getrunken.«
»Hast du das Buch bekommen, das Henning Stahl dir geschickt hat?«
Poe schielte zu seinem Nachttisch hinüber. Stahls Buch lag darauf, noch unberührt. »Ja.«
»Wirst du’s lesen?«
»Hatte ich nicht vor.«
»Aber was ist, wenn er dich danach fragt?«
Wieder sah Poe das Buch an. »Na schön«, seufzte er. »Ich blätter’s mal durch.«
Nachdem Bradshaw aufgelegt hatte, nahm Poe das Buch zur Hand. »Wie ist es denn so?«, wollte er wissen.
Stahl hatte zwei signierte, mit Widmung versehene Exemplare nach Highwood geschickt. Doyle war mit ihrem beinahe fertig.
»Erstaunlich gut geschrieben«, antwortete sie. »Ein bisschen reißerisch, und der wissenschaftliche Teil ist streckenweise stark vereinfacht worden. Und nach dem, was du mir erzählt hast, hat er mächtig heruntergespielt, in welch erbärmlichem Zustand ihr ihn damals aufgelesen habt.«
»In seiner Küche war eine tote Katze. Steht da was davon drin?«
Poe griff nach seiner Lesebrille und betrachtete das Foto von Stahl über dem Klappentext.
»Er sieht gut aus, nicht wahr?«, bemerkte Doyle.
»Stimmt. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass sechsstellige Autorenhonorare, Filmrechte und Gerüchte über wichtige Buchpreise ihm helfen, die Finger vom Alkohol zu lassen.«
»Er nimmt immer noch Antabuse.«
»Du hast mit ihm gesprochen?«
»Das steht da drin. Seite hundertvierzig. Sagt, er wird das Zeug für den Rest seines Lebens nehmen müssen.«
Poe drehte das Buch in den Händen. Das Cover war nüchtern und dezent, nur eine wissenschaftliche Zeichnung von einem Blütenblatt und der Titel.
Die Albträume, die man verdient. Auf der Jagd nach dem Botaniker von Henning Stahl.
»Ich fasse es nicht, dass er das als Titel benutzt hat«, grollte Poe. »Das war doch nur so ein Quatsch, den ich mal von mir gegeben habe.«
Er blätterte bis zum Index vor und fuhr mit dem Finger an den Spalten hinunter. Hoffte, dass er glimpflich davongekommen war.
Von wegen.
Poe, Washington (Detective Sergeant, National Crime Agency), S. 5 – 19 , 23 , 45 , 67 , 78 – 83 , 101 , 105 , 139 , 145 , 157 – 8 , 198 , 204 , 237 , 256 , 283 – 5 , 301 , 329 , 385 , 390 – 8 , 402 , 404 , 408 , 410 – 13
Kleiderkauf 25
Tod von Karen Royal-Cross 185
Erektile Dysfunktion 357
Beweisführung vor Gericht 400
marokkanische Ziege 302
Reaktion auf Schuldspruch 414
Rolle im Chance’s Park 234
Boulevard-Schlagzeilen 217
The »Sting« 386
»Verflucht noch mal.« Er zeigte Doyle die Indexseite. »Hast du das gesehen?«
»Ja, Seite dreihundertsiebenundfünfzig ist besonders lustig.«
»Bist du da auch drin?«
»Ja.«
»Und warum bist du nicht sauer?«
»Den Mord an meinem Vater hat er sehr einfühlsam abgehandelt, und letzten Endes ist das gute Publicity fürs Labor.«
»Du bist so eine Kapitalistin«, stellte er fest.
Sie zwinkerte ihm zu.
Angewidert schmiss Poe das Buch auf die Bettdecke. Vielleicht lag es daran, dass diese Seiten aus Hochglanzpapier waren, denn das Buch landete so, dass die Fotos in der Mitte aufgeblättert wurden.
»Ich seh mir die Bilder an«, verkündete er. »Wenn er fragt, sage ich, ich hatte noch keine Zeit, es richtig zu lesen.«
»Ich hab noch ein paar Filzstifte in meinem ehemaligen Kinderzimmer, falls du ihm einen Schnurrbart ins Gesicht malen willst.«
Poe antwortete nicht.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Hast du mal eine Lupe? Die, die wir benutzt haben, als wir das Puzzle gemacht haben, bei dem jedes Teil ein winzig kleines Bild war, aber am Schluss alle zusammen die Mona Lisa ergeben haben.«
»Das Fotomosaik? Ich glaube schon. Warum?«
Doch Poe starrte von Neuem auf eines der Fotos. Doyle stieg aus dem Bett und suchte die Lupe. Sie reichte sie ihm, und er nahm sie wortlos entgegen. Dann konzentrierte er sich auf das Bild von Frederick Becks Wohnung. Das, auf dem all die Laborgeräte zu sehen waren.
Schließlich blickte er von dem Buch auf.
»Es tut mir leid, Estelle«, sagte er. »Heute Nacht ist Arbeit angesagt.«