141 . Kapitel

Einen Monat später

F rederick Beck pflückte eine Butterblume vom Gefängnisrasen. Er hielt sie ins Licht und bewunderte ihr vollendetes Aussehen. Die Symmetrie, das satte Gelb, die Schlichtheit. Ein Konstrukt, das seit Jahrtausenden unverändert war. Rasch steckte er sie in die Tasche, bevor sie ihm jemand wegnahm. Natürlich war sie wertlos, doch seine Mithäftlinge brauchten keinen Grund, um ihn zu schikanieren. Er würde sie zwischen den Seiten seines Buchs pressen. Es war schön, ein Hobby zu haben.

Er spähte durch den von NATO -Draht gekrönten Gefängniszaun. Die Maschen waren nur gut zwei Zentimeter groß, daher war es schwer, viel zu erkennen, doch er konnte die nahe gelegene Bushaltestelle sehen. Eine von denen, an deren Seite eine Werbetafel angebracht war. Seit acht Tagen hing dort ein Plakat. Die Albträume, die man verdient. Auf der Jagd nach dem Botaniker von Henning Stahl. Jetzt wurde es gerade von dem Plakatkleber abgekratzt. Beck lächelte. Von endlosen Runden um den Hof her wusste er, dass die Werbeplakate an dieser Bushaltestelle immer vierzehn Tage lang hängen blieben.

Also hatte Stahl es vermasselt. Beck hatte gewusst, dass das passieren würde. Hatte sogar darauf gebaut. Hatte gewusst, dass Stahls Hunger nach Wiedergutmachung sein Urteilsvermögen trüben und ihn unvorsichtig machen würde. Eigentlich hatte Stahl sein erstes Opfer sein sollen. Seine Recherchen und seine Storys hatten Becks Leben ruiniert. Hatten ihn in der Welt der Wissenschaft zu einem Ausgestoßenen gemacht. Doch Poe hatte recht gehabt – ihn umzubringen wäre sinnlos gewesen. Damals jedenfalls. Seine Alkoholabhängigkeit hatte ihn lebensmüde gemacht, der Mord wäre eine Erlösung gewesen und keine Strafe. Beck lächelte das halb abgekratzte Werbeplakat an. Jetzt jedoch hatte er Stahl wieder aufgebaut, hatte ihm zu einem Leben verholfen, das er verlieren konnte.

Genau zur rechten Zeit.

Als eine Sirene das Ende des Hofgangs verkündete, lächelte er abermals. Stahl dürfte das Päckchen vor zwei Wochen bekommen haben. Beck hatte einen anderen falschen Namen benutzt und es bei einem Anwalt in Oldham hinterlegt. Hatte gesagt, er würde ins Ausland gehen, und in einem Jahr müsse ein Päckchen an einen Freund von ihm geschickt werden. Der Anwalt hatte sein Geld kommentarlos genommen. Es war nicht das sonderbarste Anliegen gewesen, das ihm an jenem Tag unterbreitet worden war.

Er machte sich eine Notiz in seinem Kalender und versprach seinem neuen Klienten, das Päckchen an dem genannten Datum an Mr Stahl zu schicken.

Ungefähr um dieselbe Zeit, als Beck die Butterblume bewundert hatte, öffnete Henning Stahl fünfhundert Kilometer entfernt und endlich gegen Kaution auf freiem Fuß die Tür seines neuen Hauses.

Dieser verdammte Poe, dachte er. Sein Anwalt hatte ihm gesagt, dass Anklage gegen ihn erhoben werden würde, und ihm geraten, auf schuldig zu plädieren. Vielleicht eine kurze Gefängnisstrafe abzusitzen. Stahl ging geradewegs zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Bier heraus. Er hatte immer eine im Kühlschrank stehen, um sich zu beweisen, dass er das Zeug nicht mehr brauchte.

Aber, bei Gott, im Moment war er wirklich in Versuchung.

»Nein«, sagte er laut. »Ich bin so weit gekommen.«

Stattdessen ging er zum Badezimmerschränkchen und öffnete eine neue Schachtel Antabuse. Ein anderer Hersteller als sonst, doch das lag wohl daran, dass sein Apotheker immer das Billigste einkaufte.

Er drückte eine Tablette aus der Blisterfolie und schluckte sie.

»Wird schon alles werden«, sagte er.