U nschlüssig stand Freyja vor dem Spiegel. So richtig zufrieden war sie nicht. Ihr Haar sah so aus wie immer. Langweilig. Freyja war langweilig. Kein Wunder, dass die Frau ihrer Träume kein Interesse an ihr zeigte.
Die Auswahl des Outfits bereitete Freyja zunehmend Bauchschmerzen. Ihr Kleiderschrank war bis zum letzten Plätzchen gefüllt. Trotzdem fand sie nichts Passendes. Für einen Moment überlegte sie sogar, noch schnell in die Stadt zu fahren, aber diese Idee verwarf sie gleich wieder. Es gab nichts, womit sie ihre Unruhe hätte besänftigen können.
Freyja entschied sich für einen schwarzen Spitzen-BH und den dazu passenden Spitzenslip. Als ob das etwas zu bedeuten hätte. Über sich selbst den Kopf schüttelnd widmete Freyja sich dem Teil des Schranks, in dem ihre Hosen ein Zuhause gefunden hatten. Unzählige Anzughosen hingen in Reih und Glied, der Farbe nach sortiert. Ganz rechts hatten sich sogar drei oder vier Jeanshosen auf die Kleiderstange verirrt. Eine nach der anderen zerrte Freyja heraus und zog sie an.
Freyja war so voreingenommen was ihre eigene Optik betraf. Sie hielt sich immer für nicht hübsch genug, egal, was sie anhatte. Dadurch übersah sie, dass die zweite Jeans absolut perfekt saß und ihren Hintern hervorragend in Szene setzte. Obwohl sie alles andere als zufrieden war, fiel ihre Wahl auf die dritte Jeans. Nun nur noch ein schwarzes Top und eine schwarze Bluse. Freyja schlüpfte in ihr Lieblingshemd.
»So könnte es gehen.«, murmelte sie und schenkte ihrem Spiegelbild ein unsicheres Lächeln.
Im Grunde war es doch sowieso egal. Wie immer würde Birgit kein Auge für sie übrig haben und in ihr nur ihre Vorgesetzte sehen. Verdammt und zugenäht. Warum hatte sie Birgit nur eingestellt und über die Jahre so gepusht, dass sie die Karriereleiter erklimmen konnte? Sie hätte sie nicht einstellen sollen. Das erste Mal bereute sie ihre Entscheidung von damals.
Wie sicher hatte sie sich damals noch gefühlt. Es war ihr tatsächlich gelungen, sich selbst an der Nase herumzuführen. Doch das war lange her.
Birgit war so wundervoll, dass es schier unmöglich war, sich nicht in sie zu verlieben.
Freyja war ihrem Charme erlegen. So wie die meisten Anderen. Allerdings … hegte vermutlich niemand solche Gefühle wie Freyja.
Mit der flachen Hand schlug Freyja sich gegen die Stirn. Sie war so blöd. So unglaublich blöd.
Hatte sie doch tatsächlich gedacht, dass es kein Problem wäre, sich selbst zu verarschen.
Freyja dachte darüber nach, sich wieder auszuziehen und sich ins Bett zu verkrümeln. Vermissen würde sie ganz sicher niemand. Unschlüssig schielte sie zum Bett, doch das innere Gefühl, etwas zu verpassen, verschaffte sich so lautstark Gehör, dass es Freyja unmöglich war, es zu ignorieren.
Also schloss Freyja den Kleiderschrank und schickte einen letzten sehnsüchtigen Blick zum Bett. Dann machte sie sich auf den Weg.
Freyja hasste es, mit den Öffentlichen zu fahren. Außerdem wurden die ja sowieso bestreikt. Das Taxi, das sie eine gute Stunde zuvor bestellt hatte, stand bereits vor der Tür.
Freyja nannte dem Fahrer die Adresse und klammerte sich mit der rechten Hand am Innengriff der Tür fest. Der Fahrer bog so rasant um die Kurve, dass Freyja alle Mühe aufbringen musste, um nicht ins Auto zu kotzen. Freyja fühlte sich schrecklich.
Der Fahrer legte eine Vollbremsung hin. Freyja kippte nach vorn.
»Heute schon verneigt?«, neckte der ältere Mann und zwinkerte ihr zu.
»Umpf. Ürks.«
Freyja gurgelte und röchelte. Hoffentlich war der Alptraum bald zu Ende. Als fast fünfzehn Minuten später der Fahrer »Wir sind da!«, rief, zahlte Freyja ein ordentliches Trinkgeld, weil sie wider Erwarten doch noch heil und in einem Stück war, und stolperte aus dem Auto. Am Liebsten hätte sie sich auf den Boden geworfen und den Belag des Gehwegs abgeknutscht.
Benommen suchte Freyja nach der entsprechenden Hausnummer und taumelte hilflos über den Bürgersteig. Endlich stand sie vor dem Haus, in dem Birgit wohnte. Ihr Zeigefinger schwebte bereits über dem Klingelschild. Sollte sie? Oder doch lieber nicht?
Als hätte Freyja sich verbrannt, zog sie die Hand hektisch zurück und entfernte sich von der Haustür. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute am Haus nach oben. Wo Birgit wohl wohnte?
Schlug ihr Herz, wie Freyjas, für Dachgeschosswohnungen, oder bevorzugte sie den Luxus eines kleinen Gärtchens?
Freyja machte einen Schritt nach vorn. Bevor sie es sich doch noch anders überlegen konnte, quetschte sie ihren Finger auf den Klingelknopf.
Es dauerte nicht lang, bis der Summer ertönte. Freyja trat ein. Ihre Suche nach einem Aufzug war erfolglos, also blieb Freyja keine Wahl. Sie musste laufen. Zehn Treppenstufen hatte sie schon geschafft, als hinter ihrem Rücken eine Tür geöffnet wurde. Freyja fuhr herum.
Strahlend und schön stand Birgit im Türrahmen und lächelte ihr entgegen. Freyjas Herzschlag setzte aus. Sicherheitshalber klammerte sie sich am Treppengeländer fest. Trotzdem wackelte ihr Körper hilflos herum.
Birgit lächelte immer noch. Und Freyja kam sich vor wie ein Trottel. Sich mühsam daran erinnernd, wie man eine Treppe wieder hinunterkam, setzte sie den linken Fuß auf die unter ihr liegende Stufe.
»Hey, Freyja. Schön, dass du da bist.«, sagte Birgit und machte Platz.
Einem inneren Impuls folgend, öffnete Freyja die Arme und drückte Birgit fest an sich. Der zarte Duft des Parfums, das Birgit so gerne trug, umschmeichelte ihre Nase. Freyja atmete tief ein und aus.
»Schön, dass ich da sein darf.«, sagte sie und zauberte eine Weinflasche aus ihrer Tasche.
»Dankeschön.«, sagte Birgit leise.
»Das wäre aber nicht nötig gewesen.«
Birgit lotste ihre Vorgesetzte ins Wohnzimmer, wo Petra auf dem Sofa saß. Die Augen der jüngeren Kollegin waren schon ein bisschen glasig, dabei hatte der Abend noch gar nicht richtig angefangen.
»Die Pizza kommt gleich.«, erklärte Birgit.
»Du isst doch Pizza, oder?«
Freyja nickte, obwohl sie sich nicht besonders viel aus Pizza machte. Aber als Grundlage für einen feuchtfröhlichen Abend waren Kohlenhydrate ganz sicher nicht zu unterschätzen.
Freyja hatte sich ganz fest vorgenommen, locker zu bleiben, doch locker und sie passten nicht so richtig zusammen. Solange Birgit in der Nähe war jedenfalls nicht.
Zuerst wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Man wusste nicht, worüber man reden sollte. Im Grunde kannten sie sich auch gar nicht. Was für eine blöde Situation.
Verzweifelt suchte Freyja nach einem Thema, das nichts mit der Arbeit und nichts mit Politik zu tun hatte. Sex war auch total verkehrt. Worüber also reden? Übers Wetter?
»Bist du eigentlich auch auf der Suche nach einem Kerl?«, fragte Petra mit schwerer Zunge.
Freyja fuhr herum. Ihr verwirrter Blick traf auf Petras.
»Meinst du mich?«, kiekste sie verunsichert.
»Ja, dich meine ich. Dass unsere Süße ...«
Petras liebevoller Blick lag auf Birgit.
»Dass unsere Süße keinen Kerl sucht, ist mir bereits bekannt.«
Freyjas Hände verknoteten sich. Ebenso die Zunge. Freyja schluckte. Was sollte sie sagen? Sich sehr wohl darüber bewusst, dass es ein riesiger Fehler sein würde, schüttelte Freyja den Kopf.
»Dann suchst du also eine Frau?«
Freyja reagierte nicht. Wie weggetreten starrte sie ins Leere. Ihre Augen verdrehten sich.
Petra aus zusammengekniffenen Augen einen bösen Blick zuwerfend sprang Birgit auf.
»Was denn?«, brummelte Petra und zuckte, sich keiner Schuld bewusst,mit den Schultern.
»Freyja? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Birgit und tätschelte Freyjas Wange.
Wie ein Fisch im Trockenen riss Freyja den Mund weit auf und schnappte nach Luft. Sie fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut. Äußerst unwohl traf es wohl eindeutig besser. Erneut riss sie den Mund auf. Schrecklich lächerlich kam sie sich dabei vor. Doch es ging nicht anders. Sie strengte sich so sehr an und doch machte es den Anschein, als ob sie keine Luft in die Lungen bekam. Immerhin war sie noch nicht blau.
Beruhigend streichelte Birgit ihren Rücken, was Freyjas Zustand jedoch nicht annähernd verbesserte. Im Gegenteil. Die Stellen, an denen Birgits Hand sie berührte, wurden immer heißer.
Freyja stand kurz vor dem Ausflippen. Es war ihr kaum noch möglich, die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen. Birgit war ihr viel zu nah. Unbewusst schmiegte Freyja sich an sie. Birgit schien davon jedoch nichts mitzubekommen. Immer wieder fuhr ihre Hand über Freyjas Rücken. Dass Petra mit zweifelndem Ausdruck in den Augen kopfschüttelnd auf dem Sofa saß, bekam sie genauso wenig mit. Freyja schon. Freyja bekam alles mit.
Das Rasseln der Türklingel kam Freyja wie ein Segen vor. Als Birgit sich von ihr entfernte, atmete sie erleichtert auf. Petras Blick bohrte sich in sie. Freyja spürte, dass sie beobachtet wurde. Mit jeder Faser ihres Körpers fühlte sie es. Ihr wurde heiß und kalt.
Kaum war Birgit zur Tür draußen, wandte Petra sich ihr zu. Freyja parierte den forschenden Blick.
»Stehst du auf Biggi?«
»Ich?«
»Natürlich du. Außer uns ist sonst niemand hier und ich stehe ganz bestimmt nicht auf Frauen. Also?«
Verdammt! Was sollte Freyja sagen? Wie sollte sie reagieren? Sollte sie ehrlich sein? Oder sich in fadenscheinige Erklärungen für ihr seltsames Verhalten verstricken? Wie auch immer ihre Entscheidung ausfiel, sie war sowieso verkehrt.
Petra zählte zu Birgits Freunden. Ganz bestimmt würde sie Birgit alles brühwarm erzählen.
Welcher Gaul hatte Freyja eigentlich geritten, sich über die Einladung zu freuen und dann auch noch hinzugehen?
Freyja stand auf.
»Ich glaube, ich muss gehen.«, brummte sie.
»Du stehst also auf Biggi.«, sagte Petra lapidar und grinste sie an.
»Wie lange willst du deine Gefühle noch verleugnen? Ich bekomme schon eine ganze Weile mit, was hier gespielt wird.«
»Aber … «
Freyja wand sich. Die Unsicherheit ließ die große Frau ganz klein erscheinen. Die Worte fehlten Freyja. Dafür hatte Petra umso mehr zu sagen.
»Rede mit ihr.«
»Und was soll das bringen?«
»Das musst du schon selbst herausfinden. Nur eines, dein Geheimnis ist bei mir sicher. Trotzdem bin ich der Meinung, dass du mit Biggi reden solltest.«
»Ich weiß nicht … «
»Überleg nur nicht zu lange. Eine Frau wie Biggi ist nicht lange frei.«
»Ich weiß. Aber was soll ich denn machen?«
Der Ausdruck in Freyjas Augen war schmerzerfüllt. Das rührte Petra an. Die ältere Frau begann ihr leid zu tun.
»Was man halt so macht. Lade sie zum Essen ein. Geht zusammen aus. Überrasche sie mit süßen Kleinigkeiten. Keine Ahnung. Lass dir was einfallen. Du bist doch der kreative Kopf.«
»Ich bin nicht kreativ. In diesen Dingen jedenfalls nicht.«
»Dann könnte es in der Tat schwierig werden. Birgit ist kein Unmensch. Aber ein bisschen Mut wirst du schon brauchen.«
»Ich bin nicht mutig.«
»Das sehe ich auch.«
Nachdenklich legte Petra die Stirn in Falten. Sie brauchte eine zündende Idee. Nur was. Das war die Frage aller Fragen.
»Lass es auf dich zukommen. Nur tu etwas, oder schlag sie dir aus dem Kopf.«
»Das ist nicht so einfach.«
»Ich weiß.«
»Was weißt du?«, rief Birgit fröhlich.
Auf ihren Händen jonglierte sie drei Pizzakartons und zwei Plastikschalen, in denen vermutlich Salat war. Der Duft aus den Pizzakartons war so intensiv, dass er sogar den geliebten Körpergeruch von Birgit übertraf. Das verschaffte Freyja die Möglichkeit langsam wieder zu Bewusstsein zu kommen. Hatte sie gerade eben wirklich Birgits Freundin eingestanden, Gefühle für Birgit zu hegen? Wie dumm konnte man eigentlich sein? Freyja schalt sich selbst.
»Was weißt du?«, fragte Birgit erneut, während sie mit den Kartons in der Hand darauf wartete, dass ihr endlich jemand das Essen abnahm.
»Dass du eine verdammt coole Frau bist.«, gab Petra zurück und zwinkerte Freyja an. Freyja nickte bestätigend.
»Eine wirklich coole Frau.«
»So. So. Und wie kommt ihr zu dieser Annahme? Ach, egal. Wenn ihr zwei euch schon so schön einig seid, könntet ihr euch langsam auch mal einigen, wer mir die Pizzakartons abnehmen will. Langsam wird es nämlich ganz schön wackelig.«
Wie zur Bestätigung ihrer Worte fing der kleine Turm an zu wackeln. Petra blickte Freyja auffordernd an. Da die ältere Frau aber nicht mal mit den Wimpern zuckte, sprang sie selbst auf und übernahm die Boxen mit dem Salat.
Von ihrer Last befreit, stellte Birgit die Pizzakartons auf den Tisch. Kopfschüttelnd verließ sie das Wohnzimmer.
»So funktioniert es schon mal nicht.«, zischte Petra.
»Sorry.«
»Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
»Ich weiß.«, jammerte Freyja ergeben.
»Steh wenigstens auf und hilf ihr mit dem Besteck.«
Endlich kam Leben in Freyja. Sie erhob sich und tappte ziellos los.
»Wenn du ihr helfen willst, wirst du das Wohnzimmer schon verlassen müssen.«
Petra warf Freyja ein amüsiertes Grinsen zu. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Früher hatte sie immer gedacht, dass nur gerade den Windeln entwachsene junge Leute sich seltsam verhielten, wenn sie verliebt waren. Diese Meinung musste sie revidieren. Mal wieder. Völlig egal, wie alt jemand war. Sobald Gefühle ins Spiel kamen, verwandelten sich so gut wie alle in hoffnungslose Idioten, die mit dem Kopf gegen Laternenpfähle liefen, weil ihr Blick für das, was um sie herum passierte, doch leicht verschwommen war. Kein Wunder, wenn die Welt in zartrosa Wölkchen ersoff.
Petra hatte mit der Liebe schon länger abgeschlossen. Nach zwei wenig ruhmreichen Ehen, aus denen jeweils ein Kind hervorgegangen war, hatte sie sich dafür entschieden, nur noch Spaß zu haben. Ein paar leidenschaftliche Stunden für die Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse. Das reichte ihr vollkommen aus. Sie wollte sich nicht mehr an einen anderen Menschen anpassen oder sich gar fest binden. Nicht, weil sie sich nicht traute, sondern weil sie einfach keine Lust mehr hatte. Sollte ihr jemals ein Mann über den Weg laufen, der diese Einstellung für null und nichtig erklärte, hoffte sie auf jemanden, der ihr den Kopf gerade rückte und sie rechtzeitig warnte, bevor sie wieder Bockmist bauen konnte und ja sagte.
Anderen dabei zuzusehen, wie sie vor lauter Vernarrtheit nichts als Blödsinn hinbekamen, bereitete ihr hingegen das größte Vergnügen. Freyja war bis über beide Ohren in Birgit verknallt und das schon ziemlich lange. Ob sie sich Hoffnung machen konnte, wusste Petra nicht. Manchmal hatte sie schon gedacht, dass Birgit mindestens genauso verknallt in Freyja war. Doch dann … kam sie wieder mit einer anderen Frau an und Petra musste erkennen, dass sie Birgit im Grunde nicht kannte. Birgit war wie ein Buch mit sieben Siegeln. Nach außen hin meistens gut drauf, ließ sie nicht erkennen, was wirklich in ihr vorging. Sie riss sich den Arsch auf, um Freyja zu beeindrucken, wie Petra zeitweilig gedacht hatte. Die meisten Kolleginnen und Kollegen liebten sie, obwohl es durchaus vorkommen konnte, dass Birgit mit dem Kopf durch die Wand ging. Wenn sie ihre Tage hatte, machte man am Besten einen Bogen um sie herum. Besonders schlimm war es, wenn Birgit früh in die Firma kam und sich bereits im Vorfeld für alles, was sie an diesem Tag sagen oder tun würde, entschuldigte. Dann war extremste Vorsicht geboten. Wie gut, dass diese Tage nicht besonders häufig vorkamen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schätzten sie als faire Führungspersönlichkeit. Sie rüffelte niemanden an, wenn es keinen Grund dafür gab und selbst dann suchte sie eher nach Lösungen, als jemanden sinnlos zusammen zu falten.
Birgit war so diplomatisch, dass Petra sich nicht nur einmal gefragt hatte, warum sie nicht als Botschafterin ins Ausland ging.
Irgendwie war Birgits Laune so gut wie immer gleich, was es schwer machte, sie wirklich kennenzulernen. Einen Blick hinter diese unsichtbare Fassade gewährte sie nicht. Petra hatte sich schon oft die Frage gestellt, wie Birgit wirklich tickte. War sie so ausgeglichen, wie sie sich gab? Oder brodelte in ihr ein Vulkan, der nur darauf wartete, ausbrechen zu dürfen?
Petra schüttelte den Kopf. Es würde schwer werden, Freyja zu ihrem Glück zu verhelfen.
Petra mochte Birgit. Weil sie kompetent und zuverlässig war. Und weil man mit ihr richtig gut Spaß haben konnte. Kleinere und größere Partyabstürze waren keine Seltenheit. Mindestens einmal im Monat zogen Petra und Birgit gemeinsam um die Häuser und feierten das Leben so ausgiebig, dass sie sich am nächsten Tag fragten, wie sie den Weg nach Hause gefunden hatten und ins Bett gekommen waren.
Wenn Birgit einmal loslegte, war sie wie ein Duracel-Hase. Mit Solarantrieb.
Das liebte Petra besonders an ihr. Schon oft hatte Petra sich gefragt, ob Birgit sich nach einer Beziehung sehnte, oder ob sie, ähnlich wie sie selbst, eher dazu neigte, das mitzunehmen, was das Leben ihr bot.
Petra wusste es nicht.
Aber sie würde es herausfinden. Ganz bestimmt. Und an diesem Abend würde sie damit anfangen.
Birgit kehrte mit Besteck und Gläsern aus der Küche zurück.
»Wo ist Freyja?«, fragte Petra verwirrt.
»Hat sie die Küche nicht gefunden?«
»Du bist ein Depp. Lass sie doch. Sie ist nur auf der Pippibox.«
»Na dann.«
Petra schaute Birgit prüfend an.
»Und du? Warst du auch auf dem Klo?«
»Häh? Wieso sollte ich?«, fragte Birgit dümmlich, doch dann … dämmerte es ihr.
»Du meinst … Also echt, Petra. Manchmal frage ich mich, ob du ab und zu auch mal Gedanken hast, die nicht schmutziger Natur sind.«
»Eher selten.«, gab Petra unumwunden zu.
Ihr Grinsen war so breit, dass Birgit nichts Anderes übrig blieb, als mit ihr zu lachen.
»Du bist schon eine Nummer.«, brummte Birgit um Fassung bemüht.
»Das sagt die Richtige.«
»Wie findest du eigentlich die Wiemer?«, fragte Petra unvermittelt.
Gerade im Begriff gewesen, die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen, bremste Freyja sich gerade noch und hielt die Luft an. Nur möglichst keine überflüssigen Geräusche machen, damit sie so viel wie möglich von dem Gespräch hinter der Tür mitbekam.
Freyja zitterte. Ganz leicht zwar nur, aber doch erkennbar. Was hatte es zu bedeuten, dass Birgit sich mit ihrer Antwort so viel Zeit ließ?
»Freyja? Warum fragst du?«
»Keine Gegenfragen. Ich habe eine einfache Frage gestellt.«
»Ich mag sie. Sehr sogar. Sie ist ziemlich cool und eine gute Chefin.«
»Und optisch?«
Nun musste Freyja sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht durchzudrehen.
»Optisch? Was soll ich dazu jetzt sagen? Ich meine, du hast auch Augen im Kopf und selbst als Hete hast du vermutlich ein Auge für weibliche Schönheit.«
Freyja hörte Petra leise lachen. Birgit lachte nicht. Zu dumm, dass Freyja ihr Gesicht nicht sehen konnte. Liebend gerne hätte sie ihr in die Augen geschaut.
»Was macht es mit dir, dass sie heute mit uns um die Häuser zieht? Und dass sie jetzt in deiner Wohnung ist?«
Freyja konnte kaum noch atmen.
»Keine Ahnung. Frag mich das morgen noch mal.«, antwortete Birgit nicht ganz der Wahrheit entsprechend.
Das unruhige Flackern in ihren Augen verriet ihren Seelenzustand nur sehr geübten Beobachtern. Natürlich entging Petra Birgits Nervosität nicht, doch sie war lieb genug, um sich nicht daran aufzuhängen. Kurzzeitig zumindest.
»Du willst also behaupten, dass du den Nachmittag nicht genutzt hast, um hier alles auf Vordermann zu bringen? Die Bettwäsche hast du auch nicht frisch gewaschen. Und die vielen Kerzen hast du wahrscheinlich sonst auch immer in der ganzen Wohnung verteilt.«
»Äh.«
»Also … wenn du mich fragst … «
»Ich frage dich aber nicht.«, hörte Freyja Birgit knurren.
»Dann sage ich es dir eben ungefragt. Es macht dich nervös, dass sie hier ist. Weil du sie gut findest und es dir nur nicht eingestehen willst. Oder kannst. Die Aussicht auf einen Abend und vielleicht sogar eine Nacht mit ihr bringt dich komplett aus dem Konzept.«
Freyja hörte Birgit schnauben.
»Und wenn es so ist? Was ändert das?«
»Ich weiß es nicht. Das wirst du schon selbst herausfinden müssen.«
Petra grinste in sich hinein. Hach, war das süß. Zwei hoffnungslos Verliebte tanzten umeinander herum wie eine Katze um eine Schüssel voll Brei und waren nicht in der Lage, sich ihre Gefühle füreinander einzugestehen. Ohne ihre Hilfe waren die Zwei doch gänzlich aufgeschmissen. Petra würde als Amoria fungieren müssen.
Das konnte sie richtig gut.
»Ich bin nicht nervös.«, platzte Birgit heraus.
»Na, dann ist doch alles gut. Dann ist es auch gar nicht nötig, dass du mich mit deinen Blicken durchbohrst.«
»Ach!«
Petra lachte auf. Freyja presste die eine Hand auf den Mund. Mit der anderen griff sie sich an die Brust. Ihr Herz raste so sehr, dass es ihr schon ein bisschen Angst machte.
»Dann macht es dich also auch nicht nervös, dass deine Freyja wahrscheinlich just in diesem Moment vor der Tür steht und uns belauscht.«
Freyja fühlte sich ertappt. Hektisch gab sie ihren Lauschposten auf und verbarg sich stattdessen hinter der Badezimmertür. Noch immer wagte sie kaum zu atmen. Ihre Atmung war oberflächlich und flach. In Gedanken versuchte Freyja, Petras Fragen und Birgits ausweichende Antworten zu analysieren. Wäre sie ein vor übersteigertem Selbstbewusstsein strotzender Mann, würde sie bestimmt jede Antwort als Bestätigung sehen und sich schon auf der Siegerstraße wähnen. Gut möglich, dass sie, wäre sie so ein Mann, die Tasche nach Kondomen durchsuchen würde. Der Stich war doch so gut wie sicher. Für einen Mann.
Freyja war weder mit übermäßigem Selbstbewusstsein ausgestattet, noch war sie ein Mann.
Unsicher spähte sie durch einen schmalen Spalt zwischen Tür und Türstock.
Die Wohnzimmertür wurde schwungvoll aufgerissen.
»Ha! Von wegen, sie steht vor der Tür und lauscht.«, hörte sie Birgit.
»Dann hat sie wahrscheinlich Dünnschiss. So lange braucht doch niemand.«
»Auch wieder wahr.«
Freyja keuchte auf, fing sich aber schnell wieder.
»Freyja? Ist alles in Ordnung mit dir?«, rief Birgit.
»Alles okay.«, gab Freyja zurück und bemühte sich, schwächlich zu klingen.
»Mein Magen hat nur ein wenig rebelliert. Ich bin gleich wieder bei euch.«
»Brauchst du etwas?«
»Nein. Nein. Es ist wirklich alles in Ordnung.«
Die gesamte Situation war Freyja unsagbar peinlich, wobei sie nicht genau wusste, was peinlicher war. Dass sie ein Gespräch belauscht hatte, das sie nichts anging? Oder dass sie in Birgits Augen ihr Bad mit unangenehmen Gerüchen garniert hatte? Freyja spürte, wie Hitze in ihr hoch zog. Ihr Herz raste so unkontrolliert, dass Freyja sich selbst kaum noch hinterher kam.
Freyja betätigte den Wasserhahn und wusch sich die Hände. Ein zwei Minütchen wartete sie noch, bevor sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Birgit und schaute sie mit sorgenvollen Blick an.
»Ja. Alles in Ordnung.«
»Gut, dann können wir endlich anfangen?«, fragte Petra.
»Ich sterbe vor Hunger.«
Petra krallte sich den ersten Pizzakarton und riss ihn auf. Sie verzog den Mund.
»Das ist nicht meine Pizza. Ich hasse Chilis.«, jammerte sie, und riss unwirsch den nächsten Karton auf.
Ohne weiter auf Birgit und Freyja zu achten, nahm sie sich ein Stück Pizza und biss herzhaft hinein.
»Mhmmm. Lecker.«, stöhnte sie und goss einen Schluck Wein nach.
»Warum esst ihr nicht?«
Freyja und Birgit schüttelten grinsend den Kopf. In der ganzen Firma war Petra als immer hungrig und durstig bekannt. Wenn jemand Geburtstag hatte und etwas mitbrachte, war sie die Erste, die in der Teeküche aufschlug, um sich ein Stück vom Kuchen zu reservieren.
Im Gegensatz zu Birgit hatte Petra das unglaubliche Glück, dass ihr üppiger Appetit sich nicht zu sehr an ihren Hüften ansiedelte. Sie konnte essen, was sie wollte. Birgits neidischer Blick traf Petra, die gerade nach dem nächsten Stück Pizza griff. Kopfschüttelnd wandte Birgit sich Freyja zu.
»Sorry, ich wusste nicht, was du gerne isst. Also habe ich dir einfach eine Pizza mit Schinken, Salami, Knoblauch, Zwiebeln und Käse bestellt.«
Fasziniert von Birgits Treffsicherheit kniff Freyja die Augen zusammen.
»Habe ich daneben gegriffen?«, fragte Birgit unsicher.
»Im Gegenteil.«
Um die von ihr persönlich aufgestellte Behauptung zu unterstreichen, schob Freyja ein Pizzastück in den Mund. Birgits Blick ruhte auf ihr. Ihre Augen verdunkelten sich. Freyja rutschte das Herz in die Hose. So eine unbewusste Reaktion war doch als gutes Zeichen zu werten, oder? Freyja konnte sich kaum noch auf das Essen konzentrieren. Abbeißen, kauen, schlucken. Abbeißen, kauen, schlucken. Abbeißen, kauen, schlucken.
Freyja hatte alle Hände voll zu tun, sich auf die eigentlich so einfachen Tätigkeiten zu konzentrieren. Mehr war mit ihren angeschlagenen Hirnzellen nicht mehr möglich.
Birgit biss ebenfalls in ihr Pizzastück.
»Sag mal, was war heute früh eigentlich los?«, nuschelte Petra mit vollen Mund.
»Du hast ausgesehen, … keine Ahnung. Irgendwie furchterregend.«
»Dankeschön.«, gab Birgit zurück.
»Ich hab dich auch lieb. Keine Ahnung. Ich bin einfach mit dem falschen Bein aufgestanden. Alles, was schief gehen konnte, ging schief.«
»Solche Tage gibt es.«, warf Freyja ein.
»Du hast ausgesehen, als ob du den Kampf gegen zwei verschiedene Farbtöpfe verloren hast.«
Petra konnte sich kaum noch halten vor Lachen. Birgit hatte am Morgen so zerknittert ausgesehen. Das kam nicht oft vor. Normalerweise sah sie so gut wie immer aus wie frisch aus dem Ei gepellt.
»Kennt ihr das Gefühl … Ihr steht auf, schaut in den Spiegel und müsst feststellen, dass ihr über Nacht alt geworden seid?«
»Nicht wirklich. Aber ich kann dich beruhigen.«, gackerte Petra.
»Du bist nicht über Nacht alt geworden.«
»Was willst du damit sagen?«, zischte Birgit.
Durch ihr Zischen fiel ihr aus Versehen ein Krümel aus dem Mund.
»Ich will damit sagen … «
Petra musste so sehr lachen, dass ihr nichts Anderes übrig blieb, als kurz inne zu halten.
»Ich will damit sagen, dass das keine Sache von Heute auf Morgen ist. Bei dir auch nicht. Das zieht sich schon eine ganze Weile hin. Deine Fältchen sind tiefer geworden. Und … hey, schau mich nicht so böse an. Was kann ich für die Biologie, die auch vor dir keinen Halt macht? Seit wann färbst du deine Haare, damit man die Grauen nicht so sieht?«
Birgit schnaubte. Freyja schluckte ihr Stück Pizza hinunter und spülte mit Wein nach, bevor es sich im Hals verhakte. Petra prustete.
In dieser Art ging der Abend weiter. Allmählich begann sogar Freyja, sich zu entspannen.
Gegen halb elf drängte Petra zum Aufbruch. Weder Birgit, noch Freyja hatten richtig Lust. Birgit versuchte noch, sich zu drücken, doch Petra blieb hart. Für sie war eine Zusage eine Zusage. Und Birgit hatte zugesagt. Ebenso wie Freyja.
Gute zwanzig Minuten später reihten sie sich in die Schlange vor dem Club.
Offensichtlich waren zu Beginn der kalten und dunklen Jahreszeit besonders viele Frauen und Männer auf der Suche nach einem passenden Gegenstück. Die Schlange war fast fünfzig Meter lang.
Während Birgit und Freyja ihren Platz am hinteren Ende einnahmen, machte Petra sich auf die Suche nach jemandem, den sie kannte.
»Die anderen sind schon so gut wie drin!«, rief Petra mit rudernden Armen.
»Kommt schon!«
Da Birgit und Freya nicht reagierten, packte sie die zwei Frauen am Ärmel und zog sie einfach hinter sich her.
Von Petras Übereifer überrumpelt stolperte Birgit beinahe über die eigenen Füße.