B irgit wachte mit einem dicken Brummschädel auf. Sie war so wie sie war ins Bett gefallen. Gerade noch so hatte sie es hinbekommen, wenigstens die Schuhe auszuziehen.
Mühsam rappelte Birgit sich auf. Und stolperte über ihre Schuhe. Sie jammerte und stöhnte in höchsten Tönen.
»Leiser!«, donnerte Petras Stimme aus dem Wohnzimmer.
»Mach nicht so einen Lärm.«, schob eine zweite Stimme hinterher.
Irritiert blinzelte Birgit. Dass Petra nach einer feuchtfröhlichen Nacht auf ihrem Sofa schlief, war nichts Neues. Vorsichtig spähte Birgit um die Ecke. Ihre Vorgesetzte saß auf dem Sofa und hielt mit beiden Händen den Kopf fest. Als ihre Blicke sich begegneten, versuchte Freyja sich an einem Lächeln.
»Kaffee?«, brummelte Birgit.
»Oder möchtest du lieber einen Sekt?«
»Oh nein.«, gab Freyja zurück. »Ich werde nie wieder Alkohol trinken.«
»Sekt? Klingt gut.«, brummelte Petra unter einem wackeligen Deckenberg.
Mit den Füßen strampelte sie sich frei. Die erste Decke fiel auf den Boden. Eine zweite flog hinterher. Birgit und Freyja grinsten sich an.
»Guten Morgen ihr Zwei.«, flötete Birgit und schickte ein sanftes Lächeln in Petras Richtung.
»Gut geschlafen?«
»Als dein beschissenes Sofa endlich aufgehört hat, sich im Kreis zu drehen, schon.«
Petras Stimme klang noch leicht belegt. Freyja war ganz blass um die Nasenspitze. Die vergangene Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Auch in ihrem hübschen Gesicht. Die Augenringe waren tief. Und dunkel. Die Wimperntusche war verschmiert. Besonders fit sah Freyja definitiv nicht aus.
Nach einem spartanischen Frühstück brach Freyja ziemlich schnell auf. Sie brauchte ganz dringend Abstand. Noch länger ertrug sie Birgits Nähe nicht. Obwohl Birgit ähnlich fertig war wie sie selbst, sah sie so gut aus, dass es Freyja den Atem raubte.
»Danke für das Frühstück!«, rief Freyja und trat die Flucht an. Bis Birgit so richtig schnallte, was passiert war, war Freyja schon verschwunden.
Petra und Birgit dehnten das Frühstück bis in den frühen Nachmittag aus. Wie immer, wenn sie eine feuchtfröhliche Nacht miteinander erlebt hatten, genossen sie die Zeit danach. Sie schliefen, aßen zusammen, schauten einen Film und ließen die Zeit einfach verstreichen. Das war zu einem geliebten Ritual geworden. Die gemeinsame Zeit war ihnen kostbar. So kostbar, dass ihnen alles andere egal war.
Die Hausarbeit konnte auch bis zum Sonntag warten. Oder bis zum Sankt Nimmerleins Tag.
»Möchtest du wirklich schon los?«, fragte Birgit als Petra den Eindruck machte, langsam aufbrechen zu wollen.
»Hast du mal auf die Uhr geschaut? Es ist schon fast acht.«
»Na und? Wenn du willst, können wir uns noch mal was zum Essen bestellen.«
»Du willst mir dein Sofa für eine weitere Nacht anbieten? Warum eigentlich nicht? Daheim erwartet mich eh nur meine leere Wohnung.«
Statt sich weiter anzuziehen, schob Petra die Schuhe wieder von den Füßen und blieb einfach sitzen.
»Allerdings müsste ich kurz duschen. Hast du zufällig ein frisches Höschen?«
Petra und Birgit grinsten sich an.
F reyja hatte so dringend flüchten wollen und nun fühlte sie sich schrecklich allein. Rastlos lief sie durch die Wohnung und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Das Wochenende war schon so gut wie vorüber und sie war immer noch auf hundertachtzig.
Warum? Warum? Warum?
Warum war sie nicht in der Lage, ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten?
Warum musste ihr Herz ausgerechnet einer Untergebenen zufliegen? Einer äußerst attraktiven und sehr besonderen, aber eben trotzdem einer Untergebenen?
Warum musste ausgerechnet diese Untergebene mit der blöden Djane vögeln?
Ein schmerzerfüllter Schrei ließ die Wände erzittern. Freyja schrie sich den Frust aus der Seele. Eine gute Viertelstunde lang hielt sie durch, dann brach sie kraftlos zusammen.
Freyja war am Ende ihrer Kraft angekommen. Aus Schreien wurde Jammern. Jammern wurde zu Wimmern. Nach einer Weile kamen nur noch gurgelnde Laute aus ihrem Mund.
Freyja war fertig. Mit ihrem Latein am Ende. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Am Liebsten würde sie flüchten. Urlaub einreichen, oder sich krank melden. Aber das stand nicht zur Debatte. Nur noch wenige Stunden, dann würde eine neue Gruppe in der Firma anfangen. Erneut stöhnte Freyja schmerzerfüllt auf. Ausgerechnet. Das Leben konnte so schrecklich gemein sein. Und hinterfotzig. Jeden anderen Mitarbeiter hätte Freyja mit der Einarbeitung der neuen Kolleginnen und Kollegen beauftragen können. Aber nein. Sie hatte sich dafür entschieden, Birgit mit ins Boot zu holen. Ausgerechnet.
Vier Wochen musste sie auf engstem Raum mit Birgit arbeiten. Vier Wochen. Vier verdammt lange Wochen. Das Leben war ein Arschloch.
Freyja hatte sich so darauf gefreut, mit Birgit die neuen Kolleginnen und Kollegen einarbeiten zu dürfen. Doch von der Freude war nichts geblieben. Außer Angst. Und Unsicherheit.
Wie sollte sie Birgit begegnen? Was sollte sie machen?
Verzweifelt raufte Freyja sich die Haare. Sie fühlte sich schlecht. Und klein. Sie sank aufs Sofa und krümmte sich zusammen. Wie ein Säugling im Mutterleib lag sie zwischen Decken und Kissen. Freyja schloss die Augen. Und riss sie sofort wieder auf. Sie wollte schlafen. Sich einfach weg schlafen. Doch sobald sie die Augen schloss, tauchte Birgits Gesicht auf. Der entspannte und zufriedene Ausdruck in ihren Augen. Das Lächeln auf ihren Lippen. Und dann musste Freyja auch noch Fabiennes Gesicht ertragen, das zufrieden und selbstsicher die neueste Eroberung betrachtete.
Da es ihr nicht möglich war, zu schlafen, blieb Freyja nur noch die Ablenkung. Mühsam einen Fuß vor den anderen schiebend, schwankte Freyja durch die Wohnung und holte den Staubsauger aus der Kammer. Es war Sonntag, doch das war Freyja für den Moment egal. Sollten die Leute sich doch aufregen. Freyja ging es am Arsch vorbei. Sie musste etwas tun. Sonst würde sie durchdrehen. Dreimal saugte sie das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, den Flur, die Küche, das kleine Zimmer und sogar das Bad saugte sie. Obwohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Staubkörnchen übrig geblieben war, tauschte Freyja den Sauger gegen Putzeimer und Wischlappen. Auf allen Vieren kroch Freyja über den Boden und schrubbte, doch irgendwann war sie auch damit fertig. Mit in die Seiten gestemmten Händen stand sie da und überlegte, womit sie sich als nächstes die Zeit vertreiben könnte.
So gute Freunde, dass sie sich mit ihnen zum Zusammenschweigen hätte treffen können, hatte sie nicht. Ihre Eltern lebten schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Was also sollte sie tun?
In ihrer Not griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer einer Nachbarin. Drei Mal tutete es.
»Huber!«, meldete ihre Nachbarin sich.
»Hallo Constanze, Freyja hier.«
»Oh. Hallo. Was verschafft mir die Ehre?«
Die Stimme der Nachbarin klang verschnupft. Sofort regte sich schlechtes Gewissen in Freyja. So oft hatte die Nachbarin sie schon zu sich eingeladen und genauso oft hatte Freyja dankend abgelehnt.
»Hast du Lust, auf einen Kaffee zu mir rüber zu kommen?«, fragte Freyja bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Constanze schwieg.
»Wie kommt es dazu? Hast du Probleme?«
War sie so leicht zu durchschauen? Verdammt! Freyja rieb sich die Stirn.
»Wie man es nimmt.«
»Okay. Ich bin in zehn Minuten da.«
Es klickte in der Leitung. Eine Weile starrte Freyja das Handy überrascht an. Constanze Huber war nett. Ohne Frage. Aber so oft, wie Freyja sie schon versetzt und damit vermutlich auch verletzt hatte, war es schon eine Überraschung, dass sie sich so spontan bereit erklärte, ihr Gesellschaft zu leisten.
Auf die Sekunde zehn Minuten nach Beendigung des Telefonats klingelte es an der Tür. Freyja grinste. Vor dem Spiegel im Flur blieb sie stehen und schaute sich an. Müde sah sie aus. Und eingefallen. Die Augen lagen schwer in dunklen Höhlen. Da war nichts mehr zu machen. Selbst mit einer dicken Schicht Make-up könnte Freyja nur die allerschlimmsten Schäden beseitigen. Mehr war nicht drin. Für die Altbausanierung, die sie zweifellos brauchte, fehlte Freyja die Zeit. Und die Motivation. Constanze hatte zugesagt. Nun würde sie es wohl aushalten müssen, dass Freyja ausnahmsweise nicht aussah wie frisch aus dem Ei gepellt.
»Servus.«, flötete Constanze und hielt Freyja eine Tasche unter die Nase.
Freyja schaute in die Tasche und zog angewidert die Nase wieder zurück.
»Schau nicht so geschockt. Ich dachte, dass im Anbetracht der Lage ein paar Fläschchen Wein die bessere Wahl als Kaffee sind.«
Constanze zuckte grinsend mit den Schultern und stiefelte an Freyja vorbei ins Wohnzimmer. Ächzend ließ sie sich aufs Sofa fallen und schaute Freyja erwartungsvoll an. Obwohl bei Freyja sich schon beim Gedanken an Alkohol der Magen umdrehte, holte sie Korkenzieher und Gläser. Sie stellte eine Schüssel mit Crackern und eine mit Süßigkeiten auf den Tisch. Dann setzte sie sich Constanze gegenüber auf den Sessel, zog die Beine ein und entkorkte die erste Flasche.
Sie goss die rote Flüssigkeit ein und reichte eines der Gläser an Constanze weiter.
Constanze schaute sie immer noch erwartungsvoll an. Da Freyja nicht recht wusste, was sie sagen sollte, zog sie es vor zu schweigen.
»Wie heißt sie?«, fragte Constanze so unvermittelt, dass Freyja zusammenzuckte.
»Wer?«
»Die Frau, wegen der du so durchhängst.«
»Oh. Woher weißt du …?«
»Ich habe nun mal Augen im Kopf. Also, wie heißt sie?«
»Ihr Name ist Birgit.«
»Birgit also. Kenne ich sie?«
Freyja schüttelte den Kopf. Sie senkte den Blick und drehte gedankenverloren das Glas in den Händen.
»Dann erzähle mir von ihr. Damit ich mir ein Bild machen kann.«
Freyja schaute ihre Nachbarin prüfend an, doch in ihrem Blick war nichts als reines Interesse zu erkennen. Also gab Freyja sich einen Ruck und begann zu erzählen. Sie hatte das Bild von Birgit so deutlich vor Augen, dass sie aus dem Schwärmen nicht herauskam.
Sie beschrieb, wie Birgit durch die Firma wirbelte und aufgebrachte Kunden mit ihrem Charme in kürzester Zeit um den Finger wickelte.
»Sie einzustellen war ein echter Gewinn für die Firma.«
»Und für dich? War es für dich auch ein Gewinn, sie einzustellen.«
»Schon. So irgendwie. Ich meine … Birgit ist toll.«
»Aber?«
»Es gibt kein Aber. Nur … es ist schwer auszuhalten, mit ihr zu arbeiten und sie nicht anfassen zu dürfen. Verstehst du?«
»Ich denke schon, dass ich verstehe. Wie sieht sie denn aus, deine Birgit?«, hakte Constanze nach und beugte sich vor.
Dass Freyja rettungslos in ihre Kollegin verliebt war, gefiel ihr. Freyja wirkte auf sie immer so einsam. So in sich gekehrt hatte sie offenbar wenige Freunde. Seit sie in dem Haus, in dem Constanze schon ihr halbes Leben wohnte, einzog, hatten sich nicht viele Besucher zu ihr verirrt. Das war einer der Gründe, warum Constanze immer wieder versucht hatte, sie zu sich einzuladen. Constanze konnte nicht nachvollziehen, warum Freyja so wenige soziale Kontakte pflegte. Freyja hatte vom ersten Moment an einen netten und vertrauenswürdigen Eindruck auf Constanze gemacht. Daran konnte es in ihren Augen also nicht liegen, dass Freyja so wenige Menschen um sich herum hatte. Mit Freyja befreundet zu sein, musste eine echte Bereicherung sein. Davon war Constanze überzeugt. Noch ein Grund, warum sie hartnäckig immer wieder Einladungen ausgesprochen hatte.
Freyjas Problem lag vermutlich darin, dass sie sehr verschlossen und in sich gekehrt war. Eine Auster zu knacken war wahrlich einfacher und selbst da konnte man viel falsch machen.
»Wie sieht sie denn aus, deine Birgit?«, hakte Constanze erneut nach.
»Darauf kommt es doch überhaupt nicht an.«
»Nicht?«
Constanze schüttelte den Kopf. Natürlich kam es darauf an, wenn auch nicht ausschließlich. Aber das Auge fickte schließlich mit. So war es doch, oder?
»Beschreibe sie mir wenigstens ein bisschen. Wie sieht sie aus? Was hat sie für eine Augenfarbe? Ist sie schlank oder dick? Hat sie … keine Ahnung … hat sie Hängetitten?«
Nun musste Freyja lachen. Kopfschüttelnd wischte sie sich die Tränen aus den Augen.
»Du bist … oberflächlich.«
»Bin ich nicht. Ich möchte doch nur … Hältst du mich wirklich für oberflächlich?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne dich doch gar nicht.«
»Was definitiv nicht an mir liegt.«
»Stimmt. Tut mir leid, dass ich deine Einladungen immer ausgeschlagen habe.«
Constanze hob die Hand und machte eine wegwerfende Bewegung.
»Schnee von gestern. Jetzt sitzen wir ja hier zusammen. Also … erzähl.«
»Birgit hat dunkelbraune Augen. Wenn die Sonne in einem speziellen Winkel auf die Augen trifft, funkeln sie so sehr, dass es aussieht, als würde ein Kaminfeuer in ihnen lodern. Meistens ist Birgits Äußeres absolut perfekt. Außer Freitag… «
»Was war am Freitag?«
Neugierig beugte Constanze sich noch weiter vor und schenkte Freyja ein vertrauliches Lächeln.
Der Gedanke an Freitag früh brachte Freyja zum Lachen.
»Sie sah süß aus. Wie eine Indianersquaw.«
»Aha. Und das heißt jetzt genau … was?«
»Sie hat anscheinend am Donnerstag Abend ihre Haare gefärbt. Dabei ist ihr ein bisschen Farbe auf die Wangen geraten. Außerdem hat sie morgens wohl das falsche Make-up erwischt. Ihr Gesicht hat so süß geleuchtet. In blau-schwarz und rötlich.«
Freyja amüsierte sich köstlich, doch leider kamen die Erinnerungen an die Nacht nach dem Freitag viel zu schnell zurück. Und vor allem mit brachialer Gewalt. Erschüttert zuckte Freyja zusammen.
»Was ist passiert?«
»Nichts.«, flunkerte Freyja.
»Du hast Liebeskummer. Ich stelle mein kleinen Zweisitzer als Wetteinsatz zur Verfügung. Deine Birgit ist schuld an deinem desolaten Zustand.«
Freyjas Nicken fiel schwächlich aus, was Constanze dazu brachte, aufzustehen und zu ihr zu gehen. Von hinten lehnte sie sich an die Sessellehne und legte beide Arme um die Nachbarin.
»Wir waren mit ein paar anderen Kolleginnen aus. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, an diesem Abend um sie zu werben.«
»Was ist dazwischen gekommen?«
»Die beknackte Djane.«
Freyjas Gesicht verfinsterte sich. Der Stachel saß immer noch so tief in ihrem Herzen, dass der Schmerz ihr die Luft abschnürte. Hektisch griff Freyja nach ihrem Weinglas und nahm einen großen Schluck. Einen sehr großen Schluck. Sie schüttelte sich und goss nach. Der zweite Schluck war schon besser. Mit einem Zug hatte sie das Glas geleert.
»Ich habe Birgit und die Djane auf der Toilette erwischt. In sehr eindeutiger Position.«
»Ach du … scheiße. Und was ist dann passiert?«
»Nichts. Ich bin zurück an den Tisch und Petra, das ist Birgits Freundin, wollte sie sich vorknöpfen.«
»Und? Was ist dabei heraus gekommen?«
»Nicht viel. Die Djane hat Birgit wohl gleich nach dem Fick einen Korb verpasst.«
»Das ist doch … toll. Das ist deine Chance!«
»Von wegen. Birgit hat nicht mal ein Auge für mich über. Anscheinend steht sie eher auf junges Gemüse.«
»Papperlapups. Wenn du es nicht versuchst, wirst du nicht herausfinden, worauf sie steht.«
»Aber es ist doch offensichtlich. Die Djane war fast zwanzig Jahre jünger als ich. Da habe ich keine Chance.«
»Auch jüngere Frauen haben schon Orangenhaut.«
»Die bestimmt nicht.«
Freyja klang so traurig, dass Constanze sich genötigt fühlte, das Weinglas wieder aufzufüllen und es Freyja zu reichen.
»Ich kann doch meinen Kummer nicht im Wein ertränken.«, jammerte Freyja, nahm aber trotzdem einen großen Schluck.
»Das sollst du doch auch gar nicht.«, gab Constanze zurück.
»Und deswegen hast du gleich vier Flaschen mitgebracht?«
»Okay. Okay. Erwischt. Ich will dir doch nur helfen.«
»Du hilfst mir auch.«, wisperte Freyja ergriffen.
»Allein dass du da bist, ist eine große Hilfe.«
Constanze öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Freyjas Worte waren klar. Und deutlich. Fragen blieben keine offen.
»Danke, dass du zu mir gekommen bist, obwohl ich dich schon so oft versetzt habe.«
»Wie ich vorhin schon gesagt habe … Schnee von gestern. Du wirst deine Gründe gehabt haben.«
Hatte Freyja auch. Mittlerweile kam sie sich reichlich doof deswegen vor. Constanze war einfach nur nett. Ein rundum liebenswerter Mensch. Wenn sie gewusst hätte, wie entspannt man mit ihr Zeit verbringen konnte, wäre sie schon viel früher über ihren Schatten gesprungen.
Freyjas Problem war, dass sie nicht wusste, wie das ging – Freunde zu haben.
Sie war ein Einzelkind. Ihre Eltern hatten immer versucht, sie von allem fernzuhalten. Sie wollten sie um jeden Preis vor den Problemen der großen, bösen Welt schützen. Dafür packten sie sie in Watte. Als Kind hatte Freyja keine Gleichaltrigen um sich. Sie war nicht im Kindergarten. Ab dem sechsten Lebensjahr wurde sie von wechselnden Privatlehrern unterrichtet. Warum die Eltern nicht wollten, dass sie mit Gleichaltrigen in Kontakt kam, war Freyja lange nicht klar. Ihre Eltern waren zum Zeitpunkt ihrer Geburt schon über vierzig gewesen. Ihr Vater war sogar schon fast fünfzig.
Freyja hatte keine Ahnung, warum sie so lange gewartet hatten, bis sie sich dafür entschieden, ein Kind haben zu wollen. Ihre Mutter war schon ziemlich alt, als sie ihr endlich die Wahrheit erzählte.
Bevor Freyja ihre Ankunft ankündigte, war ihre Mutter schon mehrmals schwanger. Bei ihrer ersten Schwangerschaft maß sie gerade sechzehn Lenze. Von ihren Eltern und dem Vater des Kindes im Stich gelassen, musste sie eine Entscheidung treffen. Ganz allein musste sie diese Entscheidung treffen. Immer, wenn Freyja daran dachte, brachen die Tränen trotz massiver Gegenwehr durch. Niemand sollte so eine weitreichende Entscheidung alleine treffen müssen. Erst recht nicht ein so junger Mensch.
Freyjas Mutter hatte sich gegen das Kind entschieden. Nicht, weil sie das Kind nicht wollte, sondern weil sie keine andere Wahl hatte. Allein auf weiter Flur mit einem kleinen Wesen im Bauch. Sie hatte Angst. Große Angst. Dass sie es allein nicht schaffen würde.
Die Abtreibung schnitt eine tiefe Kerbe in das Herz von Freyjas Mutter. Sie brauchte lange, bis sie bereit war, sich wieder auf einen anderen Menschen einzulassen.
Doch dann …, sie war schon Anfang dreißig, lernte sie Freyjas Vater kennen. Er brachte all das mit, was Freyjas Mutter brauchte.
Er war … geduldig. Und hartnäckig. Mit Geduld und ganz viel Liebe begann er, die Mauer, die Freyjas Mutter um ihr Herz gebaut hatte, abzutragen. Das Herz einmal freigelegt, streichelte er es voller Liebe. Das tat Freyjas Mutter gut. So gut, dass sich der Wunsch nach einem Kind in ihr regte.
Fünf Regenbogenkinder mussten Freyjas Eltern verkraften. Sie wuchsen dadurch noch enger zusammen. Zwei Jahre vor Freyjas Geburt brachte Freyjas Mutter einen Jungen auf die Welt, doch der verstarb sehr früh.
Das Leben hatte mit Steinen, groß wie Felsen, nach Freyjas Eltern geworfen. Freyja fragte sich oft, wie sie es geschafft hatten, das ganze Leid zu überstehen. Sie fragte sich, wie sie ihre Liebe durch all die Verzweiflung und die Tiefschläge tragen konnten. Freyjas Eltern hatten sich geliebt. Nach dem Tod von Freyjas Vater wollte ihre Mutter nicht mehr. Sie konnte auch nicht mehr. Zu viel hatte das Leben ihr vor die Füße geworfen.
Bevor sie bereit war, loszulassen, suchte sie das Gespräch mit ihrer Tochter. Sie wollte endlich mit ihrer Vergangenheit aufräumen. Und Freyja erklären, warum sie sie so in Watte gepackt hatten.
Freyja war intelligent. Eine clevere Frau. Aber sie tat sich schwer, mit anderen Menschen klarzukommen. Dafür gab ihre Mutter sich und ihrem Mann die Schuld.
Vielleicht war es auch so. Aber Freyja konnte sie verstehen. Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wenn ihr so viel Schlimmes widerfahren wäre.
Freyjas Leben war okay. Sie war erfolgreich. Geld hatte sie auch. Alles, was sie wollte, konnte sie sich leisten. Freyja brauchte nicht viel. Das, wonach sie sich sehnte, konnte man mit Geld nicht kaufen.
Constanze spürte, dass Freyja ihren Gedanken nachhing und dass sie genau das für den Moment brauchte. Sie zog sich ein bisschen zurück, nahm ihr Handy und lenkte ihre Konzentration scheinbar auf ein Spiel. Trotzdem bekam sie jede Regung von Freyja mit.
Freyja rang mit sich. Constanze fragte sich, welchen Kampf ihre Nachbarin wohl mit sich auszufechten hatte. Dass es ein harter Kampf war, war nicht zu übersehen, so sehr, wie Freyja sich verkrampfte. Constanze spürte tiefes Mitgefühl.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie sanft.
Freyja zuckte zusammen und schüttelte sie den Kopf. Doch dann fing sie an zu sprechen.
»Ich weiß nicht, wie es ist, Freunde zu haben.«, platzte sie heraus.
Die Geschichte, die Constanze zu hören bekam, war intensiver, als sie sich jemals hätte vorstellen können.
»Oh, Gott.«, murmelte sie und schlug sich die Hand vor den Mund.
»Ich hoffe so sehr, dass meine Mutter die Ruhe gefunden hat, nach der sie sich so sehr sehnte.«
Constanze stand auf und ging auf Freyja zu. Sie war einfühlsam. Trotzdem wusste sie nicht recht, was sie tun sollte.
»Wenn du möchtest, kannst du gerne mit mir üben, Freunde zu haben. Du weißt, dass ich nicht weit weg bin.«
»Danke.«, hauchte Freyja.
»Ich danke dir so sehr.«
Freyja sprang auf und fiel Constanze um den Hals. Sie hatte Tränen in den Augen, weil es so neu für sie war, dass jemand einfach nur so für sie da war. Schon immer hatte Freyja gewusst, dass ihr etwas fehlte, nur konnte sie es bisher nicht benennen.
Constanze strich ihr über den Kopf.
»Schschsch … alles gut. Ich bin doch da.«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Und jetzt überlegen wir gemeinsam, wie du das bekommst, wonach du dich sehnst.«
Freyja schniefte. Gemeinsam … klang so schön. So unglaublich schön. Nur langsam begriff sie, was sie all die Jahre verpasst hatte. So viele Jahre, die sie wie ein einsamer Wolf durchs Leben zog, ohne zu wissen, dass es möglicherweise Menschen gab, die ihr gut taten und da waren. Einfach so. Weil sie sie mochten.
Eine komplett neue Erfahrung.
»Was weißt du über Birgit? Was mag sie? Was mag sie nicht? Womit verbringt sie ihre Freizeit? Wo geht sie hin?«
Freyja zuckte mit den Schultern und schniefte erneut. So viele Fragen auf einmal waren zu viel für sie. War sie doch gerade erst auf dem Weg, sich selbst kennenzulernen. Mit fast fünfzig. Freyja löste sich aus Constanzes Umarmung, ging los und kehrte mit einem Päckchen Taschentücher zurück. Sie schnäuzte sich geräuschvoll und musste über sich selbst lachen.
»Da ist man fast fünfzig und muss feststellen, dass man rein gar nichts über das Leben weiß. Schon sonderbar.«
»So sonderbar ist das gar nicht. Glaub mir. Es gibt viel sonderbarere Menschen als dich.«
»Sehr beruhigend. Noch Wein?«
»Logo. Wir müssen doch noch auf unsere neu gewonnene Freundschaft anstoßen.«
Da war was Wahres dran. Gläser klirrten.
Als sie mit Constanze die Köpfe zusammensteckte fühlte Freyja sich fast ein bisschen wie ein schwer verliebter Teenager auf der Suche nach einem Plan, um die Angebetete zu überzeugen.