9. Kapitel

S keptisch blickte Freyja sich um, doch es war alles so wie immer. Die Neuen saßen geschlossen auf ihren Plätzen. Das heißt: nicht ganz. Fabienne war nicht da.

Freyja atmete auf.

»Guten Morgen Allerseits.«, sagte sie freundlich und schickte ein Lächeln an die neuen Kollegen.

»Weiß jemand, was mit Fab … mit Frau Ebner los ist?«

»Fabienne ist mit Birgit im kleinen Besprechungsraum.«, antwortete eine junge Frau.

Freyjas Herz rutschte ein Stück tiefer. Nein. Es rutschte nicht. Es stürzte ab. Und krachte mit voller Wucht auf den Boden. Freyja glaubte sogar, den Aufprall zu hören. Ihre Gesichtszüge entglitten.

Um Freyja herum entstand Dunkelheit. Mit letzter Kraft versuchte sie, sich am Tisch festzuhalten, doch der Tisch bot ihr nicht den so dringend benötigten Halt. Sie rutschte ab. Und ging zu Boden. Die Nacht um sie herum schien übermächtig. Freyja brauchte sich nur hingeben. Dann war all der Schmerz weg.

»Hey … «, hörte sie eine weibliche Stimme zaghaft flüstern.

»Komm zu dir.«

Die Stimme war voller Weichheit.

Vorsichtig hob Freyja das linke Augenlid. Und dann das rechte. Das Gesicht der Frau verschwamm.

»Bleib da.«

Freyja gab sich ehrlich Mühe, aber die Augenlider waren so unendlich schwer. Den Rest erledigte die Schwerkraft.

»Ein Arzt! Wir brauchen einen Arzt!«, hörte Freyja eine andere Stimme rufen und schüttelte unwillig den Kopf.

Sie brauchte keinen Arzt. Sie war gesund. Gut. Okay. Nicht ganz. Aber fast.

»Bitte nicht.«, hauchte sie mit schwacher Stimme.

»Es geht mir gut. Nur einen kleinen Augenblick, dann bin ich wieder fit.«

Mit aller Kraft riss Freyja die Augen auf. Das verschwommene Gesicht der genauso verschwommenen Frau klarte sich langsam.

Birgit saß neben ihr und hielt ihre Hand. Mit der anderen Hand streichelte sie ihren Kopf.

»Was machst du denn für Sachen?«, fragte Birgit ehrlich betroffen.

»Du hast uns ganz schön erschreckt.«

Mit Birgits Hilfe richtete Freyja sich auf. Dicht hinter Birgit stand mit einem breiten Grinsen im Gesicht …

Fabienne. Dieses Miststück.

Nur zu gerne hätte Freyja die Augen wieder zugemacht. Alles war besser als dieses Gesicht sehen zu müssen. Sogar eine Ohnmacht.

Freyja drehte den Kopf. In Birgits Augen stand blanke Angst. Freyja wollte nicht, dass Birgit sich sorgte. Deswegen kämpfte sie ein Lächeln auf ihre Lippen. Ein Lächeln, das ihr alles abverlangte. Ein Lächeln, das reichlich verkrampft war.

Birgit hob ein Glas an Freyjas Lippen. Freyja schluckte gierig, doch dann schüttelte sie sich. Der Kaffee war kalt. Und pappsüß. Gefühlt rollten sich Freyja die Zehennägel auf.

»Der Kaffee schmeckt aber komisch.«, jammerte sie.

Birgit lachte leise.

»Kein Wunder. Das ist ja auch Cola. Wir dachten, dass du vielleicht unterzuckert bist. Deswegen ist Richard losgelaufen und hat Cola organisiert. Nicht gut?«

Gut schon. Nur eben unerwartet. Freyja lächelte und ließ sich einen weiteren Schluck einflößen. Oh, es war so schön, von Birgit umsorgt zu werden.

»Können wir reden?«, fragte Freyja mit brüchiger Stimme.

»Was ist denn heute los? Erst Fab …, äh, Frau Ebner, dann du … «

Freyja schielte an Birgit vorbei in Fabiennes Richtung. Sie suchte Fabiennes Blick, doch die neue Kollegin zuckte lediglich grinsend mit den Schultern. Aus ihrem Gesichtsausdruck ließ sich nichts ablesen. Gar nichts. Ihr Blick war verschlossen wie eine Auster. Schlagartig wusste Freyja, dass sie Birgit die Wahrheit sagen musste, wenn sie noch Hoffnung auf eine Chance haben wollte. Doch wie sollte sie es angehen? Was sollte sie sagen? Und vor allem, wie?

Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten, doch offensichtlich waren die mal wieder an einem anderen Ort der Welt unterwegs. Frustriert kaute Freyja auf der Innenseite ihrer Wange. Wenn sie doch wenigstens einen Plan hätte. Sie hätte ihre Nachbarin mitnehmen sollen. Als Schützenhilfe.

Mit Birgits Hilfe rappelte Freyja sich auf. Birgit ließ ihre Hand nicht los. Es kam Freyja sogar ein bisschen so vor, als ob Birgit sie bewusst fester hielt als nötig. War das ein gutes Zeichen?

Erneut blickte Freyja in Fabiennes Richtung. Fabienne hatte sich jedoch weggedreht. Ihr Kaffeebecher stand auf ihrem Tisch, ihre Tasche lag daneben. Somit war klar, dass Fabienne nicht gekündigt hatte. Was hatte sie stattdessen mit Birgit besprochen? Hatte sie den verhängnisvollen Freitag Abend erwähnt?

Freyja wusste nichts. Und das schnürte ihr die Kehle zu. Freyja fühlte sich schwach. Alles andere als bereit, sich Birgit zu stellen.

»Wenn du reden willst, dann jetzt. Oder in der Mittagspause.«, sagte Birgit und schaute Freyja fragend an.

»Lieber gleich.«, sagte Freyja.

Ihre Stimme klang so unsicher und wackelig, dass Birgit erschrocken innehielt.

»Okay. Und danach fahre ich dich heim. Verstanden?«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Freyja nickte schwach.

»Während ich Frau Wiemer nach Hause bringe, können Sie die Zeit nutzen und sich auf die morgige Zwischenprüfung vorbereiten.«

»Zwischenprüfung?«, schallte ein mehrstimmiger Chor.

»Ich wusste gar nichts von einer Zwischenprüfung.«

»Tja. Überraschung!«

Birgit hob grinsend die Arme.

»Ich sehe schon, Sie alle haben eine Menge zu tun. Legen Sie los. Ich erwarte, dass alle durch die Prüfung kommen.«

Ohne auf das unwillige Brummen der neuen Kolleginnen und Kollegen einzugehen, ergriff Birgit Freyjas und ihre eigene Tasche und hängte sie über ihre Schulter. Dann hakte sie sich bei Freyja ein. Seite an Seite verließen Freyja und Birgit den Schulungsraum und liefen durch den Gang.

»Ein schönes Paar.«, murmelte ein Kollege in den Vierzigern als die zwei an ihm vorbeikamen.

Hatte er es doch gewusst. Triumphierendes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Schon immer war er davon überzeugt, dass die Teammanagerin für den Bereich Fernreisen und die stellvertretende Geschäftsführerin mehr verband als kollegiale Freundschaft. Sie nun gemeinsam zu sehen, bestätigte seine Vermutung. Er drehte sich um und reckte den Daumen hoch.

Ein paar seiner Kollegen brummten genervt. Jemand nahm das Headset ab, stand auf und trug das Sparschwein, in dem sich die Wetteinsätze der Abteilung befanden, zu ihm.

»Scheint, als ob das dir gehört.«

»Ich habe es doch die ganze Zeit gesagt.«, gab der Mittvierziger zurück und drückte das Sparschwein an sich.

Sachte streichelte er über das bunte Porzellan und freute sich bereits jetzt auf den Moment der Schlachtung. Im Lauf der Zeit war so viel Geld dazugekommen, dass locker eine Woche Karibik für sich und seine Frau drin war.

Seine Frau hatte ihn verurteilt, weil er sich auf so eine Wette eingelassen hatte, aber heute … heute würde sie sich freuen, ihn umarmen und küssen. In diesem Punkt war er sich ganz sicher. Und morgen würde er bei Birgit seine Reise in die Karibik buchen.

Ferdinand Brinkmann freute sich ehrlich für Birgit und Freyja.

Und für sich selbst … freute er sich natürlich auch.

B irgit steuerte wider Erwarten nicht mit Freyja den kleinen Besprechungsraum an, sondern ging einfach daran vorbei zum Aufzug.

»Wo … willst du hin?«, fragte Freyja unsicher.

»Schon vergessen? Ich bringe dich nach Hause.«

Freyja schluckte. So weit sie sie kannte, war Birgit knallhart, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte.

»Aber … was ist mit reden?«

»Das können wir ein andermal machen. Jetzt werde ich erst mal dafür sorgen, dass du dich hinlegst und erst wieder aufstehst, wenn du wirklich fit bist. Gibt es jemanden, der sich um dich kümmert? Einen Partner? Oder eine Partnerin? Kinder?«

Freudlos schüttelte Freyja den Kopf.

»Okay. Warte hier. Ich bin gleich wieder da. Ich kann dich doch einen Augenblick alleine lassen, oder hast du vor, wieder irgendwelchen Blödsinn zu machen?«

Freyja rang sich ein Lächeln ab. Sie wusste zwar nicht genau, was Birgit im Schilde führte, dass sie das Heft in die Hand nahm, tat ihr aber gut.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Birgit wieder da war und »Auf geht’s.« sagte. Freyja drückte auf den Knopf am Aufzug.

Die Aufzugtür öffnete sich und schloss sich wenig später hinter Birgit und ihr.

Das erste Mal, dass sie mit Birgit ganz alleine war. Freyja lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Aufzugwand. Die Kühle tat ihr gut. Der warme, fast zärtliche Ausdruck in Birgits Augen erledigte den Rest. Freyja brach innerlich zusammen.

»Was hast du vor?«, fragte sie und verknotete vor lauter Nervosität die Hände.

»Ich werde dich nach Hause fahren und so lange bei dir bleiben, bis es dir wieder besser geht.«

»Aber … das geht doch nicht. Eine von uns muss die Neuen doch betreuen.«

»Dafür habe ich schon gesorgt. Petra übernimmt. Die Neuen sollen sich auf die Prüfung vorbereiten.«

Freyja musste kräftig schlucken. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Aufgrund ihrer Schwäche vernachlässigte Birgit nun ihren Job. Das konnte und durfte sie so nicht hinnehmen.

»Du musst nicht bei mir bleiben. Setz mich einfach vor meinem Haus ab. Meine Nachbarin kümmert sich.«

»Aber ich habe dich doch vorhin gefragt und du hast gesagt, dass du niemanden hast.«

»Nicht ganz. Ich habe nur weder einen Partner, noch eine Partnerin, noch habe ich Kinder. Aber ich habe eine ganz wunderbare junge Nachbarin. Bei ihr habe ich das Wochenende verbracht, nachdem ich … «

Im letzten Augenblick bremste Freyja sich und schluckte das, was sie noch hatte sagen wollen, hinunter.

»Nachdem du …?«, hakte Birgit nach.

»Ach … das ist nicht wichtig.«

So viele Phantasien hatte Freyja in der Vergangenheit gehabt. Von Birgit und ihr im Aufzug. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie Birgit an sich zog und sie so leidenschaftlich küsste, dass die Kleidung fast von selbst vom Körper fiel. Das hier war von Freyjas Traumbildern fast so weit entfernt wie der Nordpol von den Pinguinen.

Von einem plötzlichen Heiterkeitsanfall überrollt, fing Freyja an zu lachen. Sie lachte so sehr, dass ihr Lachen mehr nach Gackern klang. Was war denn nun wieder los? Verblüfft versuchte Birgit herauszufinden, was in Freyja abging.

»Bist du sicher, dass du jemanden hast, der sich um dich kümmert?«, fragte sie als Freyja sich beim Öffnen der Aufzugtür endlich beruhigte.

»Wenn du darauf bestehst, stelle ich dir Constanze vor.«

»Das ist ein Wort. Bist du mit dem Auto da?«

»Ja.«

»Gut. Dann fahre ich dich mit deinem Auto nach Hause.«

»Und wie kommst du dann wieder hierher?«

»Ich nehme mir ein Taxi.«

»Aber nur, wenn du mir die Rechnung dafür gibst.«

Mit einem Lächeln im Gesicht ließ Birgit sich auf den Fahrersitz von Freyjas Auto sinken. Sie selbst fuhr einen Mittelklassewagen, was kein Vergleich mit Freyjas Auto war.

»Wow. Sehr schnittig. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Jaguar so schnittig ist.«

Ehrfürchtig strich Birgit über das Armaturenbrett. Unauffällig suchte sie nach einem Loch für den Schlüssel. Freyja grinste und drückte auf einen Knopf. Der Motor brummte.

»Wow. Nicht schlecht. Ist vermutlich Automatik, oder?«

Birgits Stimme war unsicher geworden. Sie hasste Autos mit Automatikgetriebe. Inständig hoffte sie, dass sie sich vor Freyja nicht komplett zum Affen machen würde.

»Steuern muss man aber schon noch selbst, oder?«, neckte sie überfordert.

Nach einem ordentlichen Satz nach vorne, suchte sie verzweifelt Freyjas Unterstützung. Freyja half nur zu gerne. Dass bei Birgit nicht alles perfekt war, tat ihr gut und sorgte dafür, dass sie sich nicht mehr ganz so klein und unbedeutend vorkam.

Sie half Birgit beim Ausscheren aus der Parklücke. Dann übernahm Birgit. Das Auto hüpfte ein paar Mal, doch mit jedem Meter, den Birgit zurücklegte, wurde es besser.

»Was wollte Fabienne eigentlich von dir?«, fragte Freyja.

»Sie wollte mich zum Abendessen einladen.«, antwortete Birgit zurückhaltend.

Es war ihr sichtlich unangenehm, mit Freyja darüber zu sprechen.

»Und? Triffst du dich mit ihr?«, fragte Freyja.

Hoffentlich sagt sie nein., dachte Freyja und hielt die Luft an.

»Ich weiß es nicht. Es ist ja schon ganz süß, wie sie sich um mich bemüht. Jeden Tag liegt ein Blümchen in meinem Büro und seit ein paar Tagen legt sie mir sogar Schokolade auf meinen Platz im Schulungsraum.«

Freyja stieß die Luft aus. Das wäre doch jetzt der perfekte Zeitpunkt, Birgit zu beichten, dass die Schokolade nicht von Fabienne, sondern von ihr war. Aber wie immer im falschen Moment, war ihr Mund so staubtrocken, dass die Zunge am Gaumen festklebte. Freyja schluckte. Mühevoll kämpfte sie gegen das Bedürfnis, sich zu übergeben, an und begann allmählich, sich zu fragen, ob sie nicht doch ernsthaft krank war.

»Auf der anderen Seite kann ich nicht vergessen, dass sie gesagt hat, ich sei zu alt. Ich bin mir so unsicher. Was würdest du tun, wenn du an meiner Stelle wärst?«

Was für eine Frage. Absagen natürlich., würde Freyja am Liebsten sagen, wusste gleichzeitig aber, dass es ihr nicht zustand.

Birgit war eine erwachsene Frau, die sich bestimmt nicht dümmer anstellte, als sie selbst. Und abgesehen davon, was sprach denn gegen ein Abendessen? Solange es nicht so endete wie... Freyja stöhnte innerlich auf. Ihre Lippen blieben verschlossen.

»Ich denke, ich werde erst mal abwarten. Schauen, was noch so kommt. Ich weiß abgesehen davon auch gar nicht, was ich will. Es gefällt mir, dass sie um mich wirbt und sich um mich bemüht. Trotzdem bin ich vorsichtig. Klingt das irgendwie komisch?«

»Nur vernünftig.«

»Dann ist es ja gut.«

»Die nächste rechts. Dann noch hundertfünfzig Meter und schon sind wir da.«

Birgit bog ab und suchte nach einem Parkplatz. Das große Auto heil in der Parklücke zu platzieren, war gar nicht so einfach. Vier Versuche brauchte Birgit. Und Freyjas Hilfe. Doch dann stand sie. Wie eine Eins. In der Lücke.

Freyja drückte wieder auf den Knopf. Der Motor erstarb. Birgit riss die Fahrertür auf, sprang aus dem Auto und lief auf Freyjas Seite. Galant reichte sie Freyja die Hand und half ihr aus dem Auto. Obwohl Freyja mittlerweile wieder einigermaßen fit war, legte sie ihren Arm um ihre Vorgesetzte und stützte sie.

Freyja klingelte bei ihrer Nachbarin. Der Summer ertönte. Als Constanze Freyja erblickte, zuckte sie vor Schreck zusammen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du dir noch Zeit lassen sollst. Lass mich raten, diese Fabienne hat dir Vorwürfe gemacht, wegen eurer gemeinsamen Nacht.«

Freyja fühlte sich, als ob der Boden sich unter ihren Füßen auftat. Sie schwankte. Und wackelte. Erst jetzt nahm Constanze Birgits Anwesenheit wahr.

»Oh. Hallo. Ich bin Constanze.«, sagte sie freundlich lächelnd.

»Guten Morgen. Birgit Ernst mein Name.«, gab Birgit zurück.

Ihr Schnaufen klang tief.

»B … B … Birgit?«, stotterte Constanze und schlug die Hand vor den Mund.

»Kommt … kommt doch herein.«

Obwohl Birgits ursprünglicher Plan anders aussah, folgte sie Constanze und Freyja in die Wohnung. Freyja durchbohrte ihre Nachbarin mit ihren Blicken.

»Du bist so was von tot.«, knurrte sie.

»Tut mir leid. Ich konnte doch nicht wissen, dass du ausgerechnet … «

Constanze stockte. Es tat ihr wirklich leid, dass sie Freyja in eine so blöde Situation manövriert hatte.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte Constanze Birgit.

»Ein Schnaps wäre wohl besser.«, gab diese zurück und wandte sich an Freyja.

»Ich glaube, nun müssen wir doch reden.«, sagte sie leise.

Dankbar nahm sie den dampfenden Kaffeebecher an. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass sie eigentlich keinen Kaffee gebraucht hätte, aber so hatte sie wenigstens etwas, woran sie sich festhalten konnte. Genau das brauchte sie jetzt. Etwas zum Festhalten.

»Soll ich … euch alleine lassen?«, fragte Constanze zaghaft.

Sie fühlte sich schlecht. Weil sie sich das Fettnäpfchen zum hinein fallen selbst hingestellt hatte und Freyjas Geheimnis preisgab. Zu dumm. Warum musste ausgerechnet ihr so etwas passieren? Und warum ausgerechnet jetzt? Ihre Nachbarin fasste so schwer Vertrauen und dann … Constanze hätte sich in den Arsch beißen können.

»Sie müssen nicht raus gehen. Schließlich ist das ja wohl Ihre Wohnung.«

Birgit schaute Freyja erwartungsvoll an.

Freyja musste schlucken. Mehrmals. Zur Sicherheit nahm sie einen Schluck Kaffee.

»Das … äh … war das, worüber ich mit dir sprechen wollte.«

»Über was genau wolltest du mit mir sprechen?«

»Über das, was letzten Freitag passiert ist.«

Freyja druckste herum, doch nach und nach fingen die Worte an zu sprudeln. Birgit unterbrach sie nicht ein einziges Mal.

Freyja sprach alles aus. Sie ließ nichts weg und beschönigte auch nichts. Zu Constanzes Ärger gab sie sich selbst die Schuld an allem, was passiert ist.

»Dazu gehören immer noch zwei, so weit ich mich erinnere.«, schimpfte sie ärgerlich.

Diese Fabienne war ihr unsympathisch, obwohl sie sie nicht mal kannte. Aber sie brachte Freyja dazu, eine Schuld auf sich zu nehmen, die nicht ihr allein gehörte. Das allein disqualifizierte sie in Constanzes Augen.

Birgit lauschte aufmerksam. Ihre Miene verschloss jegliche Regung hinter einer dicken Fassade.

»Danke.«, sagte sie als Freyja geendet hatte.

»Ich bin sehr froh, dass du mit mir darüber gesprochen hast.«

Birgit stand auf und wandte sich zur Tür.

»Und was ist jetzt?«, eilte Constanze Freyja zur Hilfe, weil ihre liebe Nachbarin während der letzten halben Stunde so viel redete, dass sie nun keine Worte mehr hatte.

»Nun brauche ich Zeit. Ich muss nachdenken. Vielen Dank für den Kaffee.«

Birgit wandte sich um. Als sie Freyja in die Augen schaute, lag ein trauriger Schimmer in ihrem Blick.

»Versprich mir, dass du erst wieder in die Arbeit kommst, wenn es dir wirklich besser geht.«, sagte sie mit einer Sanftheit in der Stimme, die Freyja tief ins Herz drang.

Freyja nickte. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Sie stand auf.

»Ich komme sofort mit.«, erwiderte sie bestimmt.

»Vergiss es. Ich möchte dich heute nicht mehr in der Firma sehen. Erhol dich ein bisschen. Das wird dir sicher gut tun.«

Birgit wusste ganz genau, warum Freyja unbedingt mit in die Firma kommen wollte, doch das würde sie verhindern. Freyja brauchte Zeit. Und sie selbst brauchte auch Zeit. Um all das, was sie gehört hatte, zu verdauen. Und um mit Petra darüber zu sprechen.

»Habe ich es verschissen?«, fragte Freyja.

»Ich weiß es noch nicht.«, gab Birgit offen zu.

»Gib mir bitte einfach Zeit.«

Freyja senkte den Kopf und wich damit automatisch Birgits Blick aus. Constanze verstand. Sie stand auf und begleitete Birgit zur Tür. Bevor Birgit gehen konnte, hielt sie sie zurück.

»Gehen Sie nicht zu hart mit ihr ins Gericht. Sie hat es nicht böse gemeint.«

»Ich weiß. Trotzdem passiert so etwas nicht einfach so.«

»Freyja ist bis über beide Ohren in Sie verliebt.«

»Und warum fickt sie dann mit Fabienne?«

»Weil … «

Constanze zuckte mit den Schultern.

»Weil Freyja manchmal ein bisschen unlogisch ist.«

Birgit musste grinsen. Die Spannung der letzten Stunde fiel von ihr ab.

»Hat Freyja noch eine Chance bei Ihnen?«

»Ich weiß es wirklich noch nicht. Hilfreich wäre, wenn sie mir Zeit gibt. Ich muss alles verarbeiten und dann sehen wir weiter. Okay? Tun Sie mir einen Gefallen?«

»Jeden.«

»Geben Sie Freyja einen Kuss von mir und sagen ihr, dass sie sich keine Sorgen machen soll. Ich werde mich heute Abend bei ihr melden.«

»Wollen Sie vielleicht mit uns Abend essen?«

»Ich brauche … «

»... Zeit. Ich verstehe schon.«

»Gut. Danke trotzdem. Bis dann.«

Die Tür klappte hinter Birgit ins Schloss. Birgit war allein. Mit sich und ihren Gedanken. Statt ein Taxi zu nehmen, lief Birgit los. Der lange Marsch und die kalte Luft würden hoffentlich dazu beitragen, ihre Gedanken zu klaren.