Marco
10 Minuten später sperrte Aaron die Tür zu seiner Wohnung auf und ich versuchte ihm währenddessen nicht auf den Hintern zu starren, der in seiner hellen Jeans-Bermuda viel zu gut betont wurde.
»Ich finde es immer noch faszinierend, dass du mich geküsst hast, als du noch dachtest, dass ich ein Arsch wäre«, flüsterte mir Aaron zu, um vermutlich seine Nachbarn nicht zu stören. Dann stieß er die Tür auf und deutete mir, voranzugehen.
Ich warf ihm im Vorbeigehen einen erheiterten Blick zu. »Als ich noch dachte ? Wer sagt, dass das Vergangenheit ist?«
Aaron schnaubte gespielt beleidigt. Es war süß. »Schön. Das stützt nur meinen Standpunkt: Du bist leicht zu haben, junger Mann.«
Ich plusterte die Wangen auf, musste aber sofort lachen. »Wie bitte?«
»Oder ist dein bevorzugtes Beuteschema einfach „Arschloch“?«, zog er mich weiter auf. Er schaltete das Licht im Flur an und ich konnte mir einen ersten Überblick über seine Wohnung verschaffen.
Sie war nicht besonders groß und der Flur war relativ minimalistisch eingerichtet. Außer einem Kleiderhaken, einer kleinen weißen Kommode, auf der unter anderem ein Schlüsselschälchen stand, und einem Spiegel, der darüber angebracht war, fand man hier nichts. Es hingen auch keine Bilder, ob gemalt oder fotografiert, an den Wänden. Drei Türen führten in andere Räume: Vermutlich Küche, Bad und Schlafzimmer.
Aaron zog mich zielstrebig in die Küche, die in hellen Tönen gehalten und gerade so groß war, dass sich drei bis vier große Männer gleichzeitig darin aufhalten konnten, für jede weitere Person wäre es eng geworden. Ein kleiner Küchentisch stand in der Ecke, genau gegenüber von dem Kühlschrank, den Aaron gerade öffnete.
»Wenn du in das Beuteschema fällst, dann ist mein Beuteschema vielleicht echt „Arschloch“«, grinste ich und nahm dankend das Glas Wasser entgegen. Es enthielt keine Kohlensäure, obwohl ich beim Hineinlinsen gesehen hatte, dass Aaron auch Sprudelwasser vorrätig hatte.
Er war trotz seines Benehmens bei unserem Date also sehr wohl aufmerksam gewesen.
»Wie du es schaffst, selbst das charmant klingen zu lassen, finde ich beeindruckend«, gluckste er und trank von seinem eigenen Wasser. »Komm.« Ehe ich mich versah, packte er mein Handgelenk und zog mich hinter sich her in den gegenüberliegenden Raum, der sich schnell als sein Schlafzimmer entpuppte.
Bevor ich einen dummen Spruch bringen konnte, setzte sich Aaron im Schneidersitz auf das Bett und klopfte auf die leere Stelle vor sich. Sofort kam ich seiner Aufforderung nach und stellte mein Glas auf den kleinen weißen Nachttisch, der auf meiner Seite neben dem Bett stand. Er hatte ein großes Boxspringbett und eine Matratze, die so weich war, dass meine Müdigkeit sie viel zu verlockend fand und mir einredete, mich kurz hinzulegen. Nur ganz kurz. Zwei Minuten, fünf, zehn, …
Aber als ich Aaron in dem schwachen Schein musterte, den das Flurlicht ins Zimmer warf – Aaron hatte hier nicht das Licht angeschaltet –, konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als nicht zu schlafen.
Aaron lächelte mich an und für den Bruchteil einer Sekunde flackerten seine ozeanblauen Augen auf meine Lippen, als würden seine Gedanken gerade in die gleiche Richtung wandern wie meine. Ehe ich mich versah, beugte er sich kurz vor, raffte mit der Hand wie vorhin im Bad mein Shirt zusammen und nahm meine Unterlippe in den Mund, um spielerisch darauf zu beißen. Dann zog er sich zurück, bevor ich auch nur den Versuch unternehmen konnte, einen richtigen Kuss daraus entstehen zu lassen. »Wie bist du zum Modeln gekommen?«
Der plötzliche Themenwechsel ließ mich blinzeln, was Aaron selbstzufrieden grinsen ließ. »Äh«, machte ich und versuchte, mich zu sammeln. »Ehrlich gesagt wurde ich einfach auf der Straße angesprochen.«
Aarons Augen wurden groß. »Was? Echt?«
»Ja.« Ich lachte verlegen. »Ich war mit Maxim gerade auf dem Weg ins Fitnessstudio, als mich auf einmal so ein Typ mitten auf der Straße angehalten hat. Er hat mich gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könnte, mich für eine Sportmodelinie fotografieren zu lassen und … ja«, ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich habe ich erstmal überprüft, ob es sich auch um ein seriöses Angebot handelt, aber dann habe ich eingewilligt. Es kam ziemlich gelegen, weil ich zu der Zeit echt knapp bei Kasse war und unbedingt Medizin studieren wollte. Auf die Weise konnte ich meine Studiengebühren zahlen … und später dann auch die von Maxim.«
Eine Falte bildete sich zwischen Aarons Augenbrauen, die ich mit dem Finger nachfahren wollte. »Oh wow. Warum auch Maxims? Hatten eure Eltern …«
»Sie hätten das Geld gehabt«, sagte ich schnell und strich mit den Händen über die weiche Baumwollbettwäsche. »Aber sie haben mich rausgeworfen, als ich mich mit 17 geoutet habe. Und weil mein Bruder sich geweigert hat, den Kontakt zu mir abzubrechen, ihn gleich mit.«
Ruhig erwiderte ich Aarons Blick, während er mich sichtlich sprachlos anstarrte. Sein Gesichtsausdruck war so aussagekräftig, dass es nicht schwer war, sich vorzustellen, was er gerade dachte: Wie konnte man als Elternteil sein eigenes Kind vor die Tür setzen, nur weil es nicht so war, wie es ihrer Meinung nach sein sollte? Ich weiß noch, wie mich ihre Ignoranz mit 17 hauptsächlich traurig und unglaublich wütend gemacht hatte, aber mittlerweile war da nur noch Ernüchterung. Sie hatten in all den Jahren kein einziges Mal versucht, den Kontakt wieder aufzunehmen. Hatten sich nicht erkundigt, ob ihre Kinder nicht vielleicht auf der Straße lebten, ob sie genug zu essen hatten, ob sie überhaupt noch am Leben waren. Auch wenn sie in dem Fall sicher informiert worden wären.
Wie konnte man die Menschen, die man eigentlich bedingungslos lieben sollte, einfach so aus seinem Leben streichen? Mir wäre das niemals gelungen. So sehr ich sie auch verachtete, ich liebte sie trotz allem, weil ich gar nicht anders konnte. Und das war es, was noch am meisten wehtat.
»Das tut mir leid«, antwortete Aaron leise auf meine Worte und nahm eine meiner Hände in seine. Seine Berührung hatte etwas Tröstendes an sich.
»Ist schon gut, ich habe mich mittlerweile damit abgefunden.« Um meine Worte zu unterstreichen, zuckte ich leicht mit den Schultern, aber Aaron sah trotzdem nicht hundertprozentig überzeugt aus. Als könnte er problemlos hinter meine Mauer aus Gleichgültigkeit sehen.
»Aber Maxim hat sich auf deine Seite gestellt«, sagte er und brachte mich damit zum Lächeln.
»Ja, er ist der Beste.«
Aaron nickte zustimmend und für ein paar Minuten, in denen wir beide unseren Gedanken nachhingen, wurde es zwischen uns ganz leise. Anders als bei unserem Date im Diner war es jedoch ein behagliches Schweigen.
»Tut mir leid, dass ich dich vorschnell verurteilt habe.« Aarons Stimme war nur ein leises Flüstern und ich musste mich etwas vorbeugen, um ihn richtig verstehen zu können. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte seine Hand an, die immer noch meine hielt. Sein Daumen, der über meinen Handrücken strich, sandte ein Kribbeln über meinen Arm.
»Schon als Mo mir erzählt hat, dass du modelst, war ich skeptisch. Was das angeht, bin ich wohl ein bisschen … „angeknackst“«, fuhr er fort. Ich wollte nachhaken, was genau er mit „angeknackst“ meinte, aber er plapperte schon weiter. Ja, er plapperte . Offenbar wurde er von Wort zu Wort nervöser. »Und als ich dich dann im Diner gesehen habe, bin ich ein bisschen durchgedreht.«
Ich runzelte die Stirn. »Du wirktest nicht, als würdest du durchdrehen. Nur, als wärst du einen Marathon gerannt«, meinte ich schmunzelnd, aber Aaron blieb ernst.
»Ich war mit Absicht eine Viertelstunde zu spät«, platzte er heraus und warf mir einen schuldbewussten Blick zu. »Ich war eigentlich pünktlich. Du warst zwar schon da, aber du warst anscheinend überpünktlich. Und dann sahst – siehst – du so gut aus«, verbesserte er sich und ließ meine Hand los, um sich mit beiden Händen durch seine blonden Haare zu fahren. »Ich konnte einfach nicht reingehen.«
»Warum?«, fragte ich, weil ich ihm immer noch nicht ganz folgen konnte.
Ungläubig sah er mich an, als hätte ich gerade das Dämlichste gesagt, was überhaupt jemals gesagt wurde. Er schnaubte. »Bitte. Hast du dich mal im Spiegel gesehen?«
Ich zuckte mit einer Schulter. »Und?«
»Und?« Er verdrehte die Augen und deutete fast widerwillig auf sich selbst. »Ich hab’ nicht erwartet, dass du das hier mögen könntest. Neben dir sehe ich aus wie … wie …«, er seufzte frustriert. »Du könntest jeden haben«, schloss er und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Es wirkte aber weniger wie eine ablehnende Haltung als vielmehr wie eine defensive . Er schützte sich. Vor mir. Vor dem, was ich als nächstes sagen könnte.
Langsam sickerte in meinen Kopf ein, was er mit seinen Worten gerade von sich preisgab. Dass er unsicher war. Sich nicht genug fühlte. Zu gern hätte ich geschnaubt und ihm den Vogel gezeigt, weil ich nicht glauben konnte, dass er tatsächlich so wenig von sich selbst hielt. Ich wollte ihn fragen, ob er mal in den Spiegel gesehen hatte, weil er wunderschön war. Vielleicht entsprach er nicht dem typischen Schönheitsideal, vielleicht fand ihn nicht jeder einzelne Mensch auf dem Planeten schön (aber auf wen traf das schon zu?), aber der Widerspruch zwischen lässiger Verwegenheit und Sonnyboy ließ zumindest mein Herz höherschlagen.
»Du weißt aber schon, dass ich vorhin wegen dir eine Erektion hatte, oder?«, fragte ich ihn reichlich unromantisch, was aber seinen Zweck nicht verfehlte. Ich meinte, es zumindest leicht an seinen Mundwinkeln zucken zu sehen. Er verdrehte die Augen. »Du bist verdammt heiß. Wer redet dir so einen Scheiß ein?«
Aaron presste die Lippen aufeinander und ich rechnete nicht wirklich mit einer Antwort, weil er dem Thema jetzt schon mehrmals ausgewichen war. Aber ich täuschte mich. »Mein Exfreund«, gab er zu und das überraschte mich nicht allzu sehr. Ich begann langsam, ihn besser zu verstehen.
Als ich ihn bloß abwartend ansah, weil ich ihn nicht drängen wollte, fuhr er fort. »Er ist auch einer von diesen überirdisch schönen Menschen wie du«, sagte er fast ein wenig ironisch und brachte mich damit zum Schnauben. »Damals hatte ich noch nicht diese Gedanken . Ich hab’ überhaupt nicht darüber nachgedacht, warum er ausgerechnet mit mir zusammen war. Ich hab’ mich in meinem Körper eigentlich wohlgefühlt«, murmelte er matt und ein trauriges Lächeln zupfte an seinen Lippen, als ich mit dem Daumen über seinen Zeigefinger strich.