Marco
»Wollen Sie schon mal etwas bestellen, solange Sie auf Ihre Begleitung warten?«
Ich hatte ein Déjà-vu. Verwirrt wandte ich den Blick von meinem Handydisplay ab und blinzelte in Jos amüsiertes Gesicht. »Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen«, meinte sie und rutschte auf die gegenüberliegende Bank. »Wo bleibt er denn? Wollt ihr euer erstes Treffen nachspielen oder sowas?«
Ihre Stimme klang dabei gleichermaßen spöttisch wie entzückt, als fände sie die Vorstellung zwar lächerlich, aber auch mindestens genauso süß.
Ich verdrehte grinsend die Augen und las nochmal die letzte Nachricht, die mir Aaron geschickt hatte, in der er schrieb, dass er sich ein paar Minuten verspäten würde.
»Nein.« Nicht wirklich jedenfalls, auch wenn uns durchaus sentimentale Gefühle dazu gebracht hatten, unseren Jahrestag ausgerechnet in dem Diner zu feiern, in dem unser katastrophales erstes Date stattgefunden hatte. Vor genau einem Jahr hatte ich mich auf genau diesem Platz wie der letzte Idiot gefühlt – wenn das nicht schöne Erinnerungen hervorrief! Nur dass der Tag dann definitiv noch sehr viel besser geworden war. »Er hat bis eben gearbeitet, aber er ist auf dem Weg.«
»Dann leiste ich dir so lange Gesellschaft«, lächelte sie und verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Also«, flüsterte sie und beugte sich etwas zu mir vor. »Was schenkst du ihm zum Jahrestag?«
Ich hatte echt Schwierigkeiten gehabt, etwas für Aaron zu finden. Was schenkte man jemandem, der sich nie etwas wünschte? Der so minimalistisch und praktisch lebte, dass er eine Weltreise mit einem einzigen Rucksack bestreiten wollte?
Als ich ihn darauf angesprochen hatte, was es mit der Rucksacktour durch die Welt auf sich hatte, war ein erfreutes Funkeln in seine Augen getreten, das ich bis dahin noch nie bei ihm gesehen hatte. »Ciara und ich haben früher immer davon geträumt, die Welt zu sehen. Wir haben immer darüber gesprochen, dass wir, solange wir einander hätten, eigentlich nicht viel bräuchten und uns mit ein paar Jobs hier und da schon durchschlagen würden.« Er hatte wehmütig gelächelt. »Letztendlich hat sie fast ihr gesamtes Leben im Krankenhaus verbracht. Unsere Rucksacktour durch die Welt blieb für sie ein bloßer Traum. Also muss ich diese Reise für uns beide machen. Ich bin mir sicher, sie hätte es so gewollt.«
Ich blinzelte, um die Erinnerung zu vertreiben, und Jo wieder meine volle Aufmerksamkeit zu widmen. »Das kann dir Aaron dann später erzählen«, blieb ich standhaft wie schon die letzten Wochen, als sie mich immer wieder danach gefragt hatte. Sie zog einen kleinen Schmollmund, der keinerlei Wirkung bei mir zeigte.
»Denkst du echt, ich sprinte sofort zur Tür, wenn er reinkommt, und erzähle ihm von deinem großen geheimnisvollen Geschenk?«, fragte sie gespielt pikiert.
Ich grinste schulterzuckend. »Ich gehe kein Risiko ein.« In Wirklichkeit glaubte ich das natürlich nicht, aber irgendwie wollte ich einfach nicht, dass jemand vor Aaron wusste, was ich ihm schenkte.
Okay, vielleicht fürchtete ich mich auch ein wenig davor, dass Jo mir mit ihrer Reaktion ein schlechtes Gefühl vermitteln könnte, weil sie es für keine gute Idee hielt.
Sie seufzte leidend, um wahrscheinlich noch ein letztes Mal den Versuch zu unternehmen, mein schlechtes Gewissen anzurühren, gab dann aber auf, als sie merkte, dass ich auch dagegen
immun war. »Ich weiß, was er dir
schenkt«, ließ sie mich dann mit einem fast diebischen Funkeln in den Augen wissen.
Bevor ich darauf jedoch eingehen konnte, tauchte Aaron schon schweratmend neben unserem Tisch auf. Wieder ein Déjà-vu. Mittlerweile wusste ich, dass er damals entgegen meiner Vermutung nicht zu unserem Date gerannt war. Jetzt sah er aber so durch den Wind aus, dass er sich diesmal anscheinend wirklich beeilt hatte. Er trug einen großen Rucksack auf den Schultern und die gleiche Kleidung wie vor einem Jahr: Ein weißes kurzärmeliges Stoffhemd und eine helle Jeans-Bermuda. Da schien jemand leicht sentimental zu sein.
»Wow, du scheinst daraus gelernt zu haben: Statt auf mich zu warten, suchst du dir einfach ein anderes Date – chapeau!« Aaron grinste Jo an, die sofort von der Bank rutschte, um ihn in den Arm zu nehmen und ihm auf der Bank Platz zu machen.
»Klasse Timing, Aaron. Ich hatte ihn fast schon so weit, dass er mir verraten hätte, was er dir zum Jahrestag schenkt.«
»Was für ein Jahrestag?«, fragte Aaron in dem lahmen Versuch, uns weiszumachen, er wüsste nicht, welcher Tag heute wäre. Seine Kleidung strafte seine Worte sofort Lügen, weshalb Jo und ich ihn auch einfach ignorierten.
»Ja, du warst so kurz davor.« Ich tätschelte Jo den Arm, woraufhin sie mir keck die Zunge herausstreckte.
Bevor ich darauf in irgendeiner Weise eingehen konnte, wurde mein gesamtes Sichtfeld auf einmal nur noch von Aaron eingenommen, sodass ich ihn diesmal unmöglich ignorieren konnte. Er legte seine Hand in meinen Nacken, beugte sich zu mir herunter und hauchte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. Als er sich sofort wieder zurückzog und ich unwillkürlich einen
protestierenden Laut von mir gab, lachte er. Anstatt jedoch meinem unausgesprochenen Wunsch nach einem längeren Kuss nachzukommen, rutschte er gnadenlos auf die Bank vor mir und begann, Jo über ihren neuen Mitbewohner auszufragen, der vor einigen Tagen bei ihr eingezogen war.
Nicht einmal bewusst klinkte ich mich aus der Unterhaltung aus, indem ich meinen Freund musterte. Ich konnte mich noch zu gut daran erinnern, wie ich ihn das allererste Mal ausgiebig betrachtet hatte. Ich hatte mich auf Anhieb von ihm angezogen gefühlt, obwohl ich gewisse Vorbehalte seinem Tattoo gegenüber gehabt hatte. Natürlich konnte sich jeder aus Lust und Laune so viele Tattoos stechen, wie er oder sie wollte, aber ich persönlich hatte mir schon immer gedacht, dass ich mich nur dann unter eine Nadel legen würde, wenn ich ein Motiv mit Bedeutung für mich gefunden hätte. Schließlich war ein Tattoo für die Ewigkeit. Ich wollte es nicht irgendwann einmal bereuen. Aufgrund dessen hatte ich Aarons Tattoo zugegebenermaßen mit einer gewissen Skepsis zum ersten Mal zur Kenntnis genommen, womit klar war, dass ich wie er auch nicht davor gefeit war, Menschen vorschnell zu verurteilen.
Auch jetzt blitzte die schwarze Tinte durch sein leicht geöffnetes Hemd hervor und teilte jedem, dessen Blick sich an diese Stelle verirrte, mit, dass Aaron „forever young“ und am 01.04.2000 geboren war. Genauso wie seine Zwillingsschwester.
Als er Jo nun anlächelte, fragte ich mich unwillkürlich, wie unsere Begegnung wohl verlaufen wäre, wenn er sich von Anfang an so gegeben hätte, wie er in Wirklichkeit war. Wenn er mich direkt so angelächelt hätte, wie er Jo gerade anlächelte: Freundlich, aufmerksam und als wäre jedes einzelne Wort aus ihrem Mund von Bedeutung, selbst wenn sie nur davon erzählte, dass ihr neuer Mitbewohner immer wieder ihre Milch leertrank.
Ob wir uns dann auch so schnell so nahegekommen wären? Ich bezweifelte, dass wir uns dann schon am ersten Tag
gegenseitig unsere Lebensgeschichte erzählt hätten, und sehr wahrscheinlich hätte ich mich dann auch nicht so schnell in ihn verliebt. Das hatte zwar auch länger gedauert als einen Tag, aber ich hatte mich noch nie so schnell jemandem so nahe gefühlt wie ihm.
Es war also letztendlich gut, dass sich Aaron damals wie das größte Arschloch überhaupt verhalten hatte – auch wenn ich ihm das natürlich niemals sagen würde.
»Also, was möchtet ihr?«, riss mich Jo aus meinen Gedanken, als sie sich nun wieder uns beiden zuwandte. »Das Gleiche wie letztes Jahr?«
Ich löste meinen Blick von dem Tattoo, das sich Aaron genau über seinem Herzen hatte stechen lassen, und blinzelte zu ihr hoch.
»Weißt du denn noch, was das war?«, wollte ich von ihr wissen.
»Ein Wasser, einen Schokoladen-Milchshake, einen Cheeseburger mit und einen ohne Bacon, aber beide mit Pommes«, ratterte sie die Bestellung von unserem Katastrophendate herunter.
»Damit hast du sie aber auch nicht gerade herausgefordert«, meinte Aaron belustigt und mit einem fragenden Blick auf mich fügte er an Jo gewandt hinzu: »Ja, das passt so. Danke, Jo.«
Sie erwiderte sein warmes Lächeln und ließ uns beide für gefühlte zwei Minuten allein, um mit unserer Getränkebestellung dann sofort wieder an unseren Tisch zu kommen.
Wir bedankten uns lächelnd bei ihr. »Und lasst euch mit dem Essen ruhig ein bisschen Zeit, okay?« Jo zwinkerte mir wissend zu und verschwand in der Küche.
Sobald sie außer Hörweite war, faltete Aaron die Hände auf dem Tisch und beugte sich leicht zu mir vor. »Also, was schenkst du mir denn nun?« Seine Augen funkelten genauso neugierig
und übermütig wie nur wenige Momente zuvor Jos, was mich zum Lachen brachte.
»Wow. Da bekommt man ja fast den Eindruck, als wärst du nur mit mir zusammen, damit du am Jahrestag Geschenke abstauben kannst.«
»Und am Valentinstag«, sagte er zwinkernd. »Gibt es etwa noch einen anderen Grund?«, fragte er zweifelnd und stieß mir auffordernd seinen Zeigefinger in die Schulter.
»Ist ja gut«, seufzte ich und griff nach dem Umschlag in meiner Tasche. Ich merkte sofort, wie meine Finger anfingen, zu zittern, und sich Nervosität in mir ausbreitete. Es graute mir echt vor Aarons Reaktion, weil ich sie so rein gar nicht einschätzen konnte. Vielleicht überschritt ich mit dem Geschenk eine Grenze.
Scheinbar entging Aaron mein Stimmungsumschwung nicht, denn er legte fragend den Kopf schief und lächelte mich etwas unsicher an. »Alles okay, Baby?«
Der liebevolle Kosename drängte meine Aufregung etwas zurück und ich brachte es fertig, sein Lächeln zu erwidern. »Ja. Hier.« Ich schob ihm den Briefumschlag zu und krümmte mich im selben Moment innerlich, weil meine Stimme so kratzig klang und offenlegte, wie gelogen meine Worte waren.
Mir entging nicht, wie mich Aaron einen Moment nachdenklich musterte, bevor er nach dem Briefumschlag griff und ihn langsam öffnete. Er zog zwei Flugtickets heraus und starrte diese mit großen Augen an.
Mein Mund entwickelte sofort ein Eigenleben. »Du hast gesagt, der Ort, zu dem deine Schwester am dringendsten wollte, sei Sydney, weil ihr Lieblingsfilm „Findet Nemo“ war«, begann ich zu erklären und musste mich räuspern. Aaron starrte noch immer regungslos die Flugtickets in seinen Händen an, was meine Nervosität noch weiter anheizte. »Also dachte ich, das wäre der perfekte Ort, um die Reise zu starten und äh … ich
… würde gerne mitkommen.« Ich fuhr mir verlegen durch das Haar. »Ist das … okay?«
Als mir Aaron noch immer nicht antwortete, sondern sich urplötzlich von mir wegdrehte, wurde aus meiner Nervosität Panik. »Oh Gott. Es tut mir leid, ich wollte keine Grenze oder so überschreiten. Ich verstehe das absolut, wenn du diese Reise alleine unternehmen möchtest. Das gehört dir und deiner Schwester, ich wollte nicht -«
Mein Redeschwall wurde abrupt unterbrochen, als sich Aaron ruckartig zu mir vorbeugte und mir seine Lippen auf den Mund drückte. Seine Hände legten sich um mein Gesicht und seine Daumen strichen unendlich sanft über meine Wangen. Ich erwiderte den Kuss verwirrt, weil ich seine Reaktion nicht deuten konnte. Freute er sich – oder wollte er einfach nur, dass ich den Mund hielt?
Als sich auf einmal ein salziger Geschmack in unseren Kuss mischte, zog ich mich schockiert zurück und starrte die nassen Tränenspuren auf seinen Wangen an. »Scheiße. Aaron, sorry, ich wollte nicht –«, hilflos stockte ich.
Aarons Lippen verzogen sich leicht, dann lachte er unter Tränen auf und verdrehte die Augen. Mit dem Handrücken schlug er mir gegen den Oberkörper. »Du Idiot, das sind Freudentränen. Das ist das wunderbarste Geschenk, das mir je jemand gemacht hat.« Er lächelte mich so warm und lieb an, dass sich mein Herz zusammenzog. »Und damit meine ich nicht die wahrscheinlich unfassbar teuren Flugtickets, über die wir noch reden werden, sondern dass du dich nicht nur daran erinnert hast, dass Ciara unbedingt nach Sydney wollte, sondern dass du mich auch begleiten möchtest. Ich würde nichts lieber tun, als dich mitzunehmen.« Als mir Aaron mit liebevollem Blick über die Wangen strich, merkte ich, dass mir anscheinend ab einem ungewissen Punkt auch die Tränen gekommen waren.
Oh man. Vielleicht hätten wir unsere Geschenke doch zuhause austauschen sollen. Glücklicherweise befand sich außer uns gerade niemand sonst im Diner – abgesehen von den Leuten in der Küche und Jo, die uns wahrscheinlich von irgendeinem geheimen Versteck aus beobachtete.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich Aaron zu. Bisher hatte ich noch keine anderen Worte gefunden, die seine Augen so zum Leuchten brachten wie diese. Aber ich würde niemals aufhören, weitere zu suchen.