Aaron
Ich musste irgendetwas in einem früheren Leben unglaublich richtig gemacht haben, denn ich hatte den wohl besten Freund überhaupt.
Als Marco mir erklärt hatte, warum er Sydney als Startpunkt unserer Reise ausgewählt hatte, waren mir sofort die Tränen gekommen und ich hatte reflexartig den Kopf wegdrehen müssen. Für einen Moment war es einfach zu viel gewesen. Zu viel Schmerz, zu viel Freude. Zu viel Sehnsucht, zu viel Liebe
.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte ich zurück und ließ es mir nicht nehmen, mich noch einmal über den Tisch zu beugen und ihm ein weiteres Mal meine Lippen auf den Mund zu pressen.
»Okay. Jetzt bist du dran«, sagte er, als ich mich wieder auf meinen Platz zurücksinken ließ.
»Oh. Stimmt, ich hab’ ja auch was für dich.« Ich lachte leise, fuhr mir noch einmal mit den Händen über die Wangen und hievte dann den großen Rucksack, den ich neben mich auf die Bank gestellt hatte, auf den Tisch. So, wie er mir eben den Briefumschlag zugeschoben hatte, schob ich ihm nun den Rucksack zu.
Marco hob fragend eine Augenbraue an. »Was …?«
»Das ist deiner. Für die Rucksacktour. Ich wollte dich auch fragen, ob du die Reise mit mir machen möchtest.«
Sein Mund klappte auf und ich konnte nicht anders: Ich war auf einmal so glücklich, dass ich schon wieder lachen musste. »Du verarschst mich.«
»Nope.«
»Oh man, das ist nicht dein Ernst. Wenn du mir dein Geschenk zuerst gegeben hättest, hätte ich es mir sparen können, mein Shirt durchzuschwitzen«, beschwerte er sich, aber er grinste breit und seine Augen funkelten voller Freude. Ich bedeutete ihm, den Rucksack zu öffnen.
»Dein Gestammel hätte ich um nichts auf der Welt missen wollen.«
Er zeigte mir den Mittelfinger.
»Oha.« Ich schlug seine Hand zur Seite. »Ich meinte das ernst.«
Marco verdrehte die Augen und begann, den Inhalt des Rucksacks in Augenschein zu nehmen. »Ich weiß, dass du das ernst meintest, deswegen habe ich dir ja auch den Mittelfinger gezeigt. Du stehst drauf, wenn ich mich zum Volltrottel mache.«
Meine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. »Jep. Du bist ja auch ein hinreißender Volltrottel.«
Als Antwort darauf schnaubte Marco bloß. »Also was hast du da alles reingestopft?«
Ich machte eine Geste mit der Hand, die bedeuten sollte, dass er es selbst herausfinden sollte.
Er zog einen Rasierer, Rasierschaum, zwei verschiedene Sorten einer Gesichtscreme, Feuchttücher, drei verschiedene After-Shaves, eine Bodylotion, eine Tube Sonnencreme, ein Deodorant, eine Handcreme, vier Flaschen Duschgel, vier Flaschen Shampoo, eine Flasche Haarspülung, einen Nasenhaartrimmer, ein Set aus Pinzette, Nagelschere und -feile, fünf Tuben Zahnpasta und ein 50er-Pack Zahnbürsten heraus. Ratlos betrachtete er all die Pflegeprodukte, die jetzt ausgebreitet vor uns auf dem Tisch lagen. »Äh. Danke?«
Ich zog unzufrieden eine Grimasse. »Man. Ich dachte, du checkst selbst, dass das eine Anspielung darauf war, dass ich dich anfangs für einen eingebildeten Schönling gehalten habe.«
»Du spinnst«, meinte er und schüttelte belustigt den Kopf, während er sich die Titel auf den verschiedenen Verpackungen durchlas. »Ich bin wahnsinnig froh, dass du dein hart verdientes Geld für solch einen Unsinn ausgibst. Es wäre ja ungeheuerlich, wenn wir irgendetwas von dem Kram hier wirklich
gebrauchen könnten.«
»Hey, der Nasenhaartrimmer war kein Scherz. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl.«
Marco warf mir einen finsteren Blick zu, der mich aber bloß zum Grinsen brachte. Ich warf ihm einen Luftkuss zu.
Als Jo mit unseren Tellern auftauchte, beförderte Marco alle Pflegeprodukte in Rekordzeit wieder in den Rucksack.
»Oh wow, Marco, bist du einer von diesen Typen, die fünf Jahre im Bad brauchen?«, fragte sie überrascht und stellte die Teller vor uns ab, als der Tisch wieder frei war.
Marco warf mir einen weiteren finsteren Blick zu und verdrehte die Augen, als ich mir die Hand auf den Mund presste, um mein Grinsen zu unterdrücken. »Nein. Aaron hat einfach nur einen schrägen Sinn für Humor.«
»Oh, ich weiß«, meinte Jo sofort. »Aaron schenkt mir seit 10 Jahren Abführmittel zum Geburtstag, weil ich bei unserer ersten Begegnung meinte, dass ich lieber eine ganze Flasche Abführmittel trinken würde, als mit ihm zu spielen.«
Ich beobachtete, wie Marco eine Augenbraue hochzog. »Wow. Was hat er getan?«
»Hey«, beschwerte ich mich augenblicklich und trat ihm unter dem Tisch leicht gegen das Schienbein. »Wieso glaubst du, ich
habe etwas getan?«
Daraufhin sah er mich an, als wäre das eine völlig absurde Frage. Mistkerl.
Jo kicherte. »Er hat tatsächlich nichts getan. Ich war damals einfach in meiner „Ich hasse Jungs“-Phase. Ciara mochte ich dagegen auf Anhieb.« Nun geriet ihr Lächeln etwas traurig und
sie tauschte einen kurzen Blick mit mir aus, wie wir es so oft taten, wenn Ciara das Gesprächsthema war. Das war ein Blick voller Wärme und Verständnis. Ich zog unglaublich viel Kraft daraus, mit anderen Menschen, die meine Schwester ebenfalls gekannt und geliebt hatten, über sie zu sprechen und in Erinnerungen zu schwelgen. Statt den Schmerz zu verdrängen, empfing ich ihn – aber auch die vielen schönen Erinnerungen, die mit ihm einhergingen – mit offenen Armen. Um ihr so oft wie möglich nah zu sein.
»Ciara hat ihr dann verklickert, dass ich ja eigentlich Ciara bin, nur mit einem „Pipimatz“.« Ich malte Gänsefüßchen in die Luft und Marco prustete.
»Das waren tatsächlich ihre exakten Worte«, bestätigte Jo grinsend und wuschelte mir durch die Haare. »Und jetzt lasst es euch schmecken. Ruft, wenn ihr etwas braucht.« Sie ging, um an dem einzigen anderen besetzten Tisch, an den sich gerade eine Gruppe von Teenagern niedergelassen hatte, die Bestellung aufzunehmen.
Ich griff hungrig nach meinem Burger. »Also. Sydney.«
Marco nickte. »Jap. In zwei Wochen geht’s los.«
»Ich kann noch gar nicht fassen, dass du echt mitkommst«, sagte ich und nahm einen großen Bissen von meinem Cheeseburger.
Marco lächelte mir so lieb entgegen, dass mir warm wurde. »Ich will immer da sein, wo du auch bist.«
Die Bemerkung kam so unerwartet, dass sich meine Wangen fast schon flutartig rot färbten. Noch immer hatte ich mich nicht daran gewöhnt, dass es für Marco völlig natürlich war, solche Dinge zu mir zu sagen. Dass er sie vor allem nicht nur sagte, um einen erniedrigenden Kommentar hinterherzuschieben, sondern dass er sie auch wirklich so meinte. Er sprach all das aus, was er gerade fühlte
, und forderte mich damit immer wieder aufs Neue heraus.
Manchmal ließ es mein Herz vor Glück überfluten und manchmal … krümmte ich mich vor Verlegenheit zusammen. So wie jetzt. »Welchen Film – Schrägstrich Buch – hast du da jetzt zitiert? Irgendetwas von Nicholas Sparks?« Mein Blick fixierte den Burger in meinen Händen, aber ich sah aus dem Augenwinkel, dass Marco unbeeindruckt die Augen verdrehte. Vielleicht hatte er mit der Reaktion sogar schon gerechnet. Im Laufe unserer Beziehung war er immer besser darin geworden, meine spöttischen Kommentare als das zu nehmen, was sie waren: ein Zeichen von Unsicherheit.
»Da spricht einmal
mein Herz
und du machst dich darüber lustig.«
Dass er nun ebenfalls einen scherzenden, flirtenden Ton anschlug, drängte die Scham glücklicherweise sofort zurück. »Was heißt hier „einmal“? Willst du etwa sagen, du hast immer gelogen, wenn du gesagt hast, dass dein Herz dich zu irgendetwas gebracht hat? Wenn es nicht dein Herz war – welches Körperteil von dir wollte denn dann, dass ich diese Plüschhandschellen kaufe?« Ich zog völlig ernst eine Augenbraue in die Höhe.
Marco verdrehte mit einem Schmunzeln auf den Lippen die Augen und wandte den Blick auf seinen Burger, als wäre der im Gegensatz zu mir unglaublich spannend. Leise lachend schob er sich eine Pommes in den Mund.
»Ich bin so verliebt in dich. Es ist echt peinlich«, nuschelte er leise in sich hinein und schüttelte über sich selbst den Kopf.
Und diesmal, als sein Herz sprach, flutete meins vor Glück über.