Sie stiegen vom Motorrad. Wieder im Garten von Château Lecœur-Saint-Julien. Wie vor einer Stunde. Nur unter ganz anderen Umständen. Dabei sah hier alles so aus wie vorhin. Der Himmel war strahlend blau. Der Sandstein des Schlosses war majestätisch. Und immer noch rannten Läufer durch den Schlossgarten. Wie konnte das sein? Luc hatte doch vorhin über Funk Anweisungen gegeben, die Strecke des Marathons umzuleiten. Damit nicht noch mehr Läufer vergiftete Bananen aßen? Oder vergifteten Wein tranken? Luc wusste nicht, was es gewesen war, das zu Huberts Tod geführt hatte – und es machte ihn verrückt. Lag die Ursache überhaupt hier?
Er pfiff einen Streckenposten heran und zeigte seinen Polizeiausweis.
»Stellen Sie sich hundert Meter vor dem Château an die Strecke und weisen Sie die Läufer an, nicht in den Schlossgarten abzubiegen. Wer die Anweisung nicht befolgt, wird disqualifiziert.«
»Aber wenn wir die Strecke verändern, dann stimmt die Gesamtlänge des Marathons nicht mehr«, antwortete der junge Streckenposten sehr pflichtbewusst.
Das stimmte. Es war Luc trotzdem egal.
»Machen Sie bitte, was ich gesagt habe. Es wird morgen Wichtigeres in den Zeitungen geben, als einen gefälschten Marathonlauf. Ich schicke Ihnen gleich ein paar Gendarmen zu Hilfe, die die Strecke offiziell umleiten.«
Der junge Mann eilte davon.
»Luc. Was ist passiert? Ihr wart vorhin einfach verschwunden.«
»Richard. Ja, es ist in der Tat etwas Schlimmes passiert.«
Anouk nahm bereits den Probiertisch in Augenschein und roch an den leeren Gläsern, die von den Läufern zurückgelassen worden waren.
»Warum sperrt ihr denn den Einlauf da vorne. Luc?« Seine Stimme wurde drängender. »Was ist hier los?«
»Das frage ich mich auch, Richard. Es ist ein Läufer zu Tode gekommen, und ein weiterer ist fast gestorben. Der sous-préfet von Lesparre-Médoc. Nachdem beide hier bei dir Rast gemacht haben.«
Richard schaute ihn entgeistert an.
»Luc, was soll denn der Quatsch? Was meinst du damit?«
»Dass wir rausfinden müssen …«, doch Anouk unterbrach ihr Zwiegespräch.
»Monsieur Lecœur, wo sind die Flaschen, die Sie an die Läufer ausgeschenkt haben? Vorhin standen hier doch zwei Kisten, in denen die leeren Flaschen gesammelt wurden?«
Anouk hatte alles genau im Gedächtnis abgespeichert, obwohl es gar keinen Anlass dafür gegeben hatte. Beeindruckend.
»Wir …«, stammelte Richard, »ich … meine Frau hat die Kisten in den Schuppen holen lassen.«
»Um was damit zu tun?« Anouks Stimme war schneidend. »Wo sind sie?«
Richard zeigte in Richtung Nebengebäude.
»Dort in der Küche.«
»Kommst du mit, Luc?«
»Ja, noch einen Moment.«
Luc trat an die Kisten mit Bananen und wühlte darin herum.
»Hier ist nichts.«
Er schaute zu den Plastikfolien, in denen die kleinen Wasserflaschen der Marke Source des Pins aufbewahrt wurden. Schwierig, hier etwas hineinzutun. Er sah, dass die Flaschen links und rechts der Strecke herumlagen. Die Läufer warfen sie nach dem Trinken einfach weg oder nahmen sie mit auf die Route. Hier jemanden zu vergiften, wäre unplanbar gewesen. Reiner Zufall.
»Monsieur Lecœur, lassen Sie die drei leeren Weinflaschen dort stehen«, befahl Anouk, »wir nehmen sie nachher mit.«
Sie gingen die paar Schritte durch den Garten bis zu den Nebengebäuden des Schlosses. Hier war die Weinproduktionshalle untergebracht, nebenan standen die Fässer für die Zweitweine des Châteaus.
In der Hofküche fanden sie Christine Lecœur zusammen mit einer Angestellten am Spülbecken.
»Madame Lecœur«, sagte Anouk drängend, »was machen Sie denn da?«
»Christine …«, sagte Luc, »nicht.«
Sie sahen, wie die beiden dabei waren, die letzten Flaschen abzuspülen. Behutsam, um die Etiketten nicht zu beschädigen.
»Was meint ihr damit?«, fragte Christine Lecœur vorsichtig. »Wieso soll ich meine Flaschen nicht …«
»Sie vernichten Beweismaterial«, sagte Anouk und nahm ihr eine der Weinflaschen aus der Hand, die innen rot schimmerte. Sie war noch nicht mit dem Wasser in Kontakt gekommen.
»Ich spüle Flaschen«, antwortete die Hausherrin entgeistert. »Was fällt Ihnen ein?«
»Das ist in diesem Falle leider dasselbe«, sagte Luc und stellte sich zwischen Christine und Anouk. »Du, Christine, beruhige dich. Es sind zwei tragische Dinge geschehen. Ein Mann ist gestorben, und einer liegt im Krankenhaus. Und zwar kurz nachdem sie hier bei euch Wein getrunken haben. Wir müssen wissen, warum das passiert ist.«
Die Frau ließ ihr Geschirrhandtuch fallen und zitterte am ganzen Körper.
»Was ist passiert? Und wem?«
»Leider jemandem, den ihr kennt. Dürfen wir Sie bitten?«
Er wies die Hausangestellte an, den Raum zu verlassen. Erst als sie draußen war, sagte er:
»Hubert de Langeville ist tot. Womöglich wurde er vergiftet.«
»Was?«
Das Wort war ihr laut entglitten und warf Echos in der großen Küche. Sie war kreidebleich.
»Ja, es tut mir leid.«
»Madame Lecœur, mir tut es auch leid«, sagte Anouk, »und trotzdem komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wie Sie dazu kommen, während des laufenden Marathons in aller Seelenruhe Dutzende Weinflaschen abzuwaschen.«
Alle drei schauten in diesem Moment zu einer Kiste hinter dem Spülbecken, in der sicher drei Dutzend leere und blitzblank geputzte und getrocknete Flaschen des 2013er Château Lecœur-Saint-Julien standen.
»Wir … ich«, stammelte Christine, »ich bereite alles für die Gäste vor, die zur Weinlese gebucht haben. Wir wollen eine wunderschöne neue Dekoration in der Eingangshalle aufbauen. Und ich konnte an der Verpflegungsstation nichts mehr tun. Also dachte ich …«
»Also dachten Sie, Sie machen mal alle Beweismittel zunichte?«
»Nun hören Sie mal, ich wusste doch nicht …«
»Ist schon gut, Christine, ist schon gut.« Luc versuchte, Ruhe zu bewahren.
»Wir nehmen die Flaschen mit, die noch nicht Ihre Sonderbehandlung erfahren haben«, sagte seine Partnerin, griff nach den beiden Flaschen und drehte sich um.
Luc konnte sich irren, aber er fand, dass Anouk äußerst angespannt war. Ganz anders als bei ihrer Begrüßung vorhin. Und sie schaute nicht nur Christine Lecœur fast schon wütend an, sie sah auch immer wieder mit einem zweifelnden Blick zu ihm, das sah er aus den Augenwinkeln. Merkwürdig war das.
»Christine, wir informieren dich, wenn wir mehr wissen«, sagte Luc und folgte seiner Kollegin. Die Frau seines besten Freundes sah ihnen nach, mit offenem Mund. Fassungslos.
Als sie draußen waren, vor dem Château, sagte Luc:
»Hey, was ist mit dir? Wir wissen doch noch gar nichts.«
»Fandest du das alles nicht sehr verdächtig?«
»Dass sie Flaschen spült?«
»Genau.« Sie funkelte ihn aus ihren braunen Augen wütend an.
»Nicht wirklich«, antwortete Luc, betont ruhig. Dabei brodelte es in ihm. Was war da los? Und was war hier los? Was war passiert auf diesem Marathon? An dieser Pausenstation? Er hatte doch quasi daneben gestanden. Hatte Richard …? Natürlich hatte er nicht.
»Gut, ich bringe die Flaschen zur Untersuchung nach Bordeaux. Das wird das Beste sein. Vielleicht haben wir schnell Ergebnisse.«
»Wird schwierig, jetzt am Wochenende. Aber du hast recht. Ich werde Yacine einsammeln. Dann sollten wir ins Krankenhaus fahren. Vielleicht treffen wir uns da?«
»Machen wir. Bis nachher, Luc.«
»Bis nachher, Anouk.«
Da war sie schon verschwunden. Luc hatte die Begrüßung vorhin deutlich schöner gefunden.