Vendredi – Freitag
Kopfschmerzen. Und dazu dieses helle Licht, das Luc förmlich durch die Augenlider drang. Es war heiß. Elendig heiß. Das spürte er, bevor er die Augen schmerzhaft öffnete. Der Anblick dort oben war blau. Wolkenlos. Der Himmel des Aquitaine. Luc stutzte. Er richtete sich langsam auf und stützte sich dabei auf den Ellenbogen ab.
Sein Hinterkopf war voller Sand – und sein Blick fiel nach vorne auf den Ozean. Was war denn hier los?
Und dann kam die Erinnerung zurück. Langsam. Gemächlich. Wie der Nachhall des Rausches von vor ein paar Stunden.
Er lag am Hauptstrand von Carcans Plage, und als er den Blick ein wenig wendete, entdeckte er neben sich Yacine, seinen Pariser Kollegen und Freund. Auch er sah reichlich verwüstet aus, wie er da lag, den Kopf in der gleißenden Sonne, den Mund im Schlaf ein wenig geöffnet.
»Mein Gott«, stöhnte Luc und dachte an die vergangene Nacht.
Sie hatten gefeiert und getrunken, erst in der Ortsmitte in der Bar L’Aperock, dann hatten sie am Strand einen Grill aufgebaut und ein Barbecue gemacht.
Bier, jede Menge Bier, dann gab es kalten Weißwein, und später, zum Lagerfeuer, waren sie auf Eau de Vie umgeschwenkt. Härter als dieser Schnaps war wirklich wenig. Dazu hatten sie unzählige Zigaretten geraucht. Lucs Vorrat seiner geliebten Schweizer Zigaretten Parisienne war bis auf wenige Restexemplare zusammengeschmolzen, und der Dorf-Tabac in Carcans führte sie nicht. Da gab es nur rote Gauloises.
Aber Yacine hatte ihm fünfzig Schachteln Parisienne mitgebracht.
»Hast du ’nen Tabac überfallen?«, hatte Luc gefragt.
»Alles für meinen Commissaire«, war Yacines Antwort gewesen.
Gut möglich, dass die Zigaretten wirklich aus der Schmuggelware des Pariser Polizeikellers stammten. Luc hatte gelernt, bei Yacine nicht genauer nachzufragen.
All diese Ingredienzen des Abends hatten den Weg zurück über die Düne in Lucs Cabane und ins Bett unmöglich gemacht. So kam es jetzt jedenfalls als Erinnerung langsam wieder im Kopf des Commissaire an.
Also mussten sie sich offenbar in ihrer Not entschieden haben, hier am Strand zu schlafen. Mit allen Konsequenzen. Keine geputzten Zähne, Kopfschmerzen bis an die Ohren und ein beginnender Sonnenbrand. Gott sei Dank war Luc durch den heißen Sommer vorgebräunt, und Yacine war Kind algerischer Einwanderer, ihm machte die Sonne nicht so viel aus. Würde also alles nicht so schlimm werden. Was allerdings schlimm werden würde, war, dass es gerade einmal zehn Uhr war und die Sonne bereits wie ein Feuerball auf den Strand brannte. Die letzten zwei Wochen waren im Aquitaine backofenheiß gewesen, ganz Frankreich klagte über eine enorme Hitzewelle. Dabei war es schon Anfang September.
Im Büro herrschte gähnende Langeweile. Luc hatte sich darauf verlegt, morgens um zehn an seinem Schreibtisch aufzutauchen und kurz nach dem Mittagessen und einiger Aktenlektüre das Präsidium wieder zu verlassen. Richtung Strand, Richtung Bar, Richtung Schatten.
Yacine war gestern angekommen, er war vor der Hitze aus Paris geflohen, nun wollte er übers Wochenende bleiben, Kurzurlaub in Lucs Holzhütte, viel Bier und Wein, gute Gespräche, noch besseres Essen unter Freunden und Kollegen.
Luc war sehr froh, dass Yacine hier war. Denn auch Anouk sollte in den nächsten Tagen zurückkehren – nach fast acht Wochen Abwesenheit. Da traf es sich gut, dass sein treuer Freund aus Paris etwas Distanz brachte – zwischen ihn und Cecilia. Seit Anouk weggefahren war, hatte die Surflehrerin viele Nächte in Lucs Bett in der Cabane verbracht. Unzählige Nächte mit wenigen Gesprächen, dafür mit viel Sex und Schweiß und Flaschenbier.
Cecilia. Anouk. Das Aquitaine. Was war das für ein Wahnsinn. Hierher war Luc gezogen, um seinen todkranken Vater zu pflegen. War vor zweieinhalb Monaten aus Paris abgereist, mit der Angst, nichts mehr zu erleben, keine Frauengeschichten, kein Großstadtleben, keine Abenteuer.
Nun kam er gar nicht dazu, etwas zu vermissen. Denn er hatte neue Freunde, jede Menge Ablenkung und wenig Arbeit. Ein gutes Leben. Wären da nur nicht diese vermaledeiten Kopfschmerzen.
Er schlug Yacine auf die Schulter, etwas zu fest, wie er hinterher fand.
»Ey, Mann, aufwachen.«
Der junge Algerier räkelte sich, ließ die Augen aber noch zu und schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Merde, mec. Was ist denn das für eine Hitze?«, fragte er und sah noch total verschlafen herüber zu Luc.
»Wir nennen es Sonne«, antwortete der, »und sie verträgt sich nicht mit dem vergangenen Abend. Ich glaube, der letzte Schnaps war schlecht.«
Beide mussten grinsen, Luc erhob sich langsam auf die noch wackeligen Beine, und Yacine tat es ihm nach. Das Bild, das sich beiden bot, war majestätisch: Der Ozean rauschte mit großen Wogen heran, weiße Schaumkronen tänzelten auf den Wellen, die Sonne spiegelte sich weiter hinten im kristallblauen Wasser.
»So, was machen wir heute?«, fragte Yacine seinen ehemaligen Chef.
»Also, ich könnte gut noch so zehn Stunden schlafen«, antwortete Luc, »aber wir müssen die Strecke abfahren, und später am Abend ist ja das Nudel-Dinner.«
Yacine musste lachen.
»Ich kann’s wirklich kaum erwarten, dieses verrückte Event kennenzulernen«, sagte er.
Auch deshalb war er von Paris hierhergefahren, in seiner riesigen Karre, die nun vor Lucs Holzhütte stand.
Die beiden wollten ehrenamtlich mithelfen, als Streckenposten beim Marathon du Médoc, dem wohl speziellsten Marathon der Welt. Nicht nur, dass die rund 7500 Läufer in wilden Kostümen auf die Strecke gingen. Nein, es gab auch noch in den schönsten Weinschlössern im ganzen Médoc-Gebiet die besten Tropfen zu probieren – und zwar für die Sportler während des Laufes.
Das versprach ein heiteres Treiben zu werden, bei 35 Grad im Schatten. Luc spürte eine unangenehme Vorahnung, dass es dort zu mehr kommen könnte als nur zu einigen Kreislaufkollapsen, schob sie aber von sich weg – lag bestimmt nur an den eigenen Kopfschmerzen nach dem gestrigen Abend.
»Nun los, wir müssen nach Pauillac, dort stehen unsere Motorräder«, sagte er, »aber vorher gehen wir zu Jacques, ich muss etwas essen, sonst überleb ich den Tag nicht.«
Vor der kleinen Boulangerie im Strandort standen die Touristen Schlange an diesem Morgen, Jacques machte hier in den vier Sommermonaten das Geschäft des Jahres. Der Commissaire drängelte sich an den strandtaschenbewehrten Deutschen und den blassen Briten vorbei an die Theke und zeigte auf zwei Sandwiches mit Schinken und Käse, wortlos, der Schädel war immer noch angespannt. Und er musste sowieso nicht warten, Jacques hatte für die Einheimischen stets eine kleine Extrakasse links neben dem Tresen.
Lucs Blick fiel auf den Stapel mit der Lokalzeitung Sud Ouest und auf die Schlagzeile »Canicule du Siècle«. Die »Hitzewelle des Jahrhunderts« wurde da vermeldet, darunter die neuesten Meldungen zu Hitzetoten und Verhaltenstipps für Senioren. Regen war laut der Schlagzeile nicht in Sicht. Luc stöhnte auf.
Mit je einem Sandwich mixte in der Hand saßen die beiden wenig später in Lucs blauem Jaguar XJ6, Richtung Médoc. Luc hatte sich geweigert, in Yacines fetten Mercedes einzusteigen – in Paris ließ er sich gerne damit durch die Vororte kutschieren, die getunte Karre mit den getönten Scheiben sorgte für Respekt bei den kleinen Gaunern. Aber hier im Aquitaine war ihm der dicke Gangsterschlitten doch ein bisschen zu viel, obwohl er zugeben musste, dass sein englischer Oldtimer wahrscheinlich genauso viel Aufsehen erregte.
In Pauillac wollten sie die Motorräder abholen, die ihnen die Police Municipale zur Verfügung stellte, wenn sie beim Marathon als Streckenposten arbeiten würden. Luc freute sich auf die wilde Fahrt, den Fahrtwind auf der Maschine und auf den spaßigen Lauf durch die Weinberge. Obwohl er sich fragte, wie er die Hitze unter dem vorgeschriebenen Helm wohl aushalten sollte.
»Luc, Augen auf die Straße«, rief Yacine lachend und am Baguette kauend gleichzeitig. »Oder sollen uns die Cops anhalten?« Der Commissaire war in der Tat kurz abgelenkt. Zum ersten Mal seit gestern Abend hatte er aufs Handy geschaut. Da waren zwei Nachrichten. Eine von seinem Freund Richard. Und eine von … Luc bremste augenblicklich und hielt den Wagen an einem Waldweg auf der kerzengeraden Départementstraße hinauf vom Meer ins Médoc-Weingebiet.
»Warte kurz«, sagte er zu Yacine und stieg aus.
Wie lange hatte er auf diese Nachricht gewartet!
»Anouk« stand da auf seinem Handy über der SMS. Die erste Nachricht seit ein paar Wochen.
Lieber Luc, ich fahre in der Nacht mit dem Zug von Venedig zurück nach Bordeaux. Freue mich auf Dich. Es ist viel passiert, viel Schlimmes. Viele Gedanken, viele Erinnerungen. Komme morgen an. Vielleicht machen wir was Schönes in den nächsten Tagen. Anouk.
Lucs Herz pochte. Ein anderes Pochen als in den vergangenen Nächten, in denen Cecilia leise an seine Tür geklopft hatte, eingetreten war, sich wortlos ausgezogen hatte und zu Luc ins Bett geschlüpft war. Dieses Pochen in seiner Brust war nicht nur pures Begehren. Es war dasselbe wie vor zwei Monaten am Strand von Carcans. Beim ersten Kuss. Und plötzlich war es wieder da.
Luc schaute noch mal aufs Handy, nach Richards Nachricht. Bestimmt nur eine lose Verabredung für das »Dinner Mille Pâtes« – das alljährliche Nudelessen mit 1500 Teilnehmern, das immer am Abend vor dem Marathon stattfand. Und dieses Jahr hatte Richard die Ehre, dieses traditionelle Gelage ausrichten zu dürfen.
Doch es war keine heitere Einladung, ganz im Gegenteil:
Luc, bitte melde Dich bei mir. Wir müssen dringend reden, auf jeden Fall vor heute Abend. Es steht viel auf dem Spiel. Können wir uns treffen? Gruß, R.
Luc wusste, dass sein Freund niemand war, der dramatisierte, deshalb antwortete er sofort:
Lieber Richard, Lunch in der Bar in Saint-Julien? Ich werde um eins da sein.
Als er ins Auto stieg, sah ihn Yacine schon verschwörerisch an:
»Wenn du rechts ranfährst, um eine SMS zu lesen, dann ist es was Wichtiges. War von Anouk, oder, mein Alter?«
Luc grinste, verdrängte die Sorgen um seinen Freund Richard und dachte wieder an Anouks Nachricht. Sie freute sich also auf ihn.
»Ja, es war Anouk«, antwortete er. »Jetzt kannst du dir ein eigenes Bild machen, sie kommt morgen wieder. Dann weißt du, warum sie ein Grund ist, schlaflose Nächte zu haben. Und nenn mich nicht ›Alter‹, du weißt, ich hasse das.«
Gestern Nacht hatte er Yacine die Geschichte von Anouk und ihm erzählt, vom ersten Kennenlernen im Büro bis zum Kuss am Strand. Und von ihrem Verschwinden schon am nächsten Tag. Commandante Preud’homme war ins Büro gekommen und hatte verkündet, dass »Mademoiselle Filipetti« über den Sommer nach Italien reisen müsse, »aus persönlichen Gründen«. Luc hatte ihr kurz darauf geschrieben, was los sei, ob er ihr vielleicht helfen könne. Sie hatte nur einmal kurz geantwortet: Ein Trauerfall. Er könne nichts tun. Er möge sich erst mal nicht melden. Sie brauche Zeit. Schluss, aus. Danach kein Wort mehr, bis zu der Nachricht von gestern Abend. Einer Nachricht, die ihn deutlich ruhiger sein ließ. Aber auch aufgeregter, auf ihr Wiedersehen.
Nun fuhr Luc hinein in die berühmteste Weinstadt des Médoc: nach Pauillac. Hier würde der Marathon morgen starten, und auch der Zieleinlauf wäre an der Promenade der Stadt, unten am Ufer der Gironde. Entlang der hübschen Hauptstraße mit ihren niedrigen Häusern und kleinen Cafés. Luc bog in die breite Straße am Fluss, noch war sie nicht abgesperrt. An ihrem Ende war das Revier der Police Municipale. Luc hatte mit Yacine alles besprochen. Der würde erst ein Motorrad von den Kollegen übernehmen und auftanken und dann das andere, und beide im Stadtzentrum stehen lassen. So könnte Luc jetzt bequem nach Saint-Julien fahren und Richard sehen, am Nachmittag würden sie sich dann in Pauillac wiedertreffen.
Luc wusste, dass Yacine große Lust hatte auf diesen Kurzurlaub und auf viele neue Entdeckungen – und genau das mochte er an dem Capitaine de Police, deshalb hatte er ihn damals aus der Banlieue geholt, ihm die Ausbildung ermöglicht und ihn später zu sich ins Team geholt. Denn Yacine Zitouna war keiner, der nur die Banlieues, die Pariser Vororte also, kannte und das andere französische Leben verachtete. Er hatte immer Lust, neue Orte kennenzulernen – und, noch wichtiger, neue Menschen. Das machte ihn zu einem guten Kriminalbeamten mit Menschenkenntnis und zu einem Mann mit Charakter, mit dem Luc gut auskam. Luc, der sich nur sehr selten öffnete und der andere Menschen nicht so leicht in sein Herz schauen ließ. Mit Yacine war Luc nicht gezwungen, sein Innerstes zu besprechen, aber er wusste, dass er es könnte, wenn er mal das Bedürfnis hatte – so wie gestern Abend.
Er lenkte seinen alten Jaguar einmal quer über die Hauptstraße, um zu wenden, sah dabei die Gironde in der Sonne blitzen und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Luc mochte keine Klimaanlagen, deswegen waren alle Fenster des Oldtimers runtergekurbelt, doch selbst die Luft, die von draußen durch die geöffneten Scheiben hereindrang, war glühend heiß. Als er nach dem letzten Kreisverkehr des Ortes, kurz hinterm Carrefour-Supermarkt, auf die enge Landstraße kam, konnte er dem Jaguar die Sporen geben – bei 70 Stundenkilometern drang endlich der Fahrtwind ins Auto und schenkte ein wenig Abkühlung.
Es war nicht weit bis nach Saint-Julien, und Luc wollte eigentlich darüber nachdenken, was Richard wohl von ihm wollen könnte – doch es war nur Anouks Gesicht, das vor seinem inneren Auge erschien, die Vorfreude auf das Wiedersehen, die Sorge, was wohl in Venedig geschehen war.
Und die Frage: Was war denn nun zwischen ihnen beiden? Würde es so weitergehen, wie es beim ersten Kuss am Strand vorläufig aufgehört hatte? Sicher nicht, dachte Luc, es war zu viel passiert, und er wusste nicht mal, was bei Anouk los war. Er wusste nur, was in den letzten paar Wochen bei Cecilia und ihm im Bett in der Cabane passiert war. Und er wusste, dass auch immer noch Delphine in Paris wartete. Dass sie beide eigentlich als Paar galten. Mann, war das alles kompliziert.
Ein Blick nach draußen brachte zusammen mit der Musik aus den Lautsprechern sofortige Beruhigung. Leslie Feist, die kanadische Singer-Songwriterin und Lucs Lieblingssängerin, sang wunderschön, und draußen flogen die Weinberge vorbei, Tausende Reben mit mittlerweile reifen Rotweintrauben.
An jedem Weinberg stand ein großes Schild. Château Talbot stand darauf, Château Pichon-Longueville oder hier das Traditionshaus Château Lynch-Bages. Die Schilder kennzeichneten, zu welchem Schloss das jeweilige Weinfeld gehörte.
Für Luc war all das ein kleines Wunder: Aus all den Reben unter dem grünen Weinlaub würden schon in kurzer Zeit Weine in dunklen Flaschen, die Hunderte oder Tausende Euro wert waren und Weinkennern auf der ganzen Welt das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.
Luc freute sich sehr auf die Weinlese, er würde Richard dabei helfen, das war ausgemachte Sache. Und er freute sich darauf, den ersten Korken des neuen Weines aus der Probierflasche zu ziehen und zu spüren, wie Sonne, Regen und Wind auf die Trauben gewirkt hatten – in seinem ersten Spätsommer im Aquitaine als erwachsener Mann.