Vor der Notaufnahme standen wieder mehrere Ambulanzfahrzeuge, und es kam, gerade als sie den Jaguar abstellten, noch eines mit Blaulicht und Sirene angerast. Die Sanitäter rollten eine Trage aus, darauf lag ein alter Mann, der über einen Tropf Flüssigkeit in die Vene geleitet bekam . Die Hitze. Immer noch die Hitze.
Sie gingen die langen Gänge entlang, der Commissaire roch wieder diesen Krankenhausgeruch, den er so verabscheute. Den er immer mied, wenn es möglich war. Doch dieser Fall hatte ihn nun schon deutlich zu oft hierhergeführt.
Sein Telefon klingelte, und er erkannte die Nummer der Präfektur in Bordeaux. Auf ein Gespräch über den Unterpräfekten und den vermeintlichen Mordanschlag auf ihn hatte Luc nun wirklich keine Lust. Er wartete, bis das Klingeln verstummt war.
Der junge Arzt war wieder da, auch heute Nachmittag. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, Erschöpfung lag in seinen Augen.
»Einmal ein neues Gesundheitssystem bitte«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf die Klimaanlage, die offensichtlich aus war.
»Heute Morgen hat sie ihren Geist aufgegeben. Im ganzen Haus. Wir lüften jetzt mit Ventilatoren. Großartig.«
Luc wurde wütend, als der Mann so sprach. Die Grande Nation prahlte mit militärischer Stärke, kaufte U-Boote und Rafale-Jets und marschierte mal hier und mal dort ein. Doch der Staat war chronisch blank, die Arbeitslosigkeit stieg, die Steuereinnahmen sanken – und die staatlichen Institutionen, Schulen, Krankenhäuser und Polizeistationen verkamen. Dafür wuchsen die Überstunden. Ausbaden mussten es die Leute vor Ort, so wie dieser Krankenhausarzt, der auch nicht eben fürstlich entlohnt wurde.
»Aber wenigstens haben Sie dem sous-préfet geholfen, mit Ihrem Tipp zum WPW-Syndrom. Jetzt wissen wir, wie wir ihn behandeln müssen.«
»Wie kam es denn, dass es über die Vorerkrankung des Unterpräfekten keine Daten gab?«
»Es wird immer wahrscheinlicher, dass er nicht wusste, worunter er litt. Das ist bei WPW sehr häufig der Fall. Die Menschen denken, sie hätten nur ein bisschen Herzklopfen, machen Atemübungen und das kann dann schon helfen. Und wenn sie trainiert sind oder Marathon laufen, dann tritt das auch seltener auf, die schlimmen Auswirkungen. Bei Hubert de Langeville war es anders, das haben wir jetzt bei der Obduktion herausgefunden. Er wusste schon lange davon. Und er hätte es auch operieren lassen können, eine sogenannte Verödung, damit haben die meisten Patienten Erfolg. Bei Hubert aber lag die zusätzliche Leitungsbahn im Herzen genau neben einem wichtigen Bündel Nerven zwischen Herzvorhöfen und Herzkammer. Würden diese bei der Verödung beschädigt, dann hätte Hubert sein Leben lang einen Herzschrittmacher gebraucht. Er wollte das wohl nicht machen lassen, denke ich. Aber wir haben keine Unterlagen darüber, die muss sein Arzt haben.«
»Sehr interessant. Und den Unterpräfekten können Sie jetzt entsprechend behandeln?«
»Ja, er wird wohl heute aufwachen, dann können wir mit ihm über einen möglichen Eingriff sprechen. Wenigstens eine Sorge weniger. Aber …«, er zeigte mit der Hand über den Flur, wo immer mehr Betten mit alten Leuten standen, »ich habe noch genug andere Sorgen.«
»Das tut uns sehr leid, Monsieur«, sagte Anouk, »und dann kommen wir auch noch andauernd und stellen Fragen. Haben Sie etwas herausbekommen über das Mittel, das verabreicht wurde?«
»Wenn Sie kommen, Mademoiselle, dann ist das schon mein Lichtblick«, sagte der Mediziner und lächelte schwach. »Aber ja, ich habe endlich etwas für Sie. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Es war kein Gift. Wie ich es mir schon gedacht hatte. Es war ein Medikament.«
Er holte eine Packung aus einer Schublade.
»Dieses hier.«
Luc las Verapamil. Der Arzt fuhr fort.
»Jeder der Läufer hatte Metaboliten dieses Medikaments in seinem Urin. Sehr viel Verapamil. Auch der Unterpräfekt.«
»Und was ist das für ein Medikament?«
»Wir benutzen es sehr häufig, es ist eigentlich unentbehrlich. Gegen viele Formen von Herzkrankheiten, bei Bluthochdruck und so weiter. Doch für Patienten mit WPW ist es lebensgefährlich. Oder sogar tödlich, wie bei Hubert.«
»Und wie kann man es verabreichen?«
»Am einfachsten in Flüssigkeit. Bei der vorliegenden Situation und bei allem, was Sie haben untersuchen lassen, würde ich tippen, dass das Mittel im Wein verabreicht wurde. Es lässt sich dann einfach auflösen, die Farbe verdeckt die Flockung, und der starke Weingeschmack überlagert alles andere. Nur schade, dass das Mittel in den Flaschen nicht mehr nachweisbar war. Es muss eine enorm hohe Dosis gewesen sein.«
»Glauben Sie, dass nur ein Profi das hinkriegt?«
»Ach, dank des Internets kann das mittlerweile jeder rausfinden. Wenn er denn wusste, dass das Opfer – oder besser: beide Opfer das WPW-Syndrom haben. Ein großer Zufall, dass beide die gleiche Krankheit hatten. Schließlich ist nur etwa jeder tausendste Mensch betroffen.«
»Es könnte also auch jemand gewesen sein, der nur kurz Medizin studiert hat«, sagte Luc. Anouk sah ihn an. Sie wusste sofort, wen er meinte.
»Dank Doktor Google muss das nicht mal sein. Es gibt die Informationen zur Krankheit auf jeder Seite, auf der Leute sich selbst therapieren«, sagte der Arzt. »Macht mein Geschäft nicht leichter.«
»Haben Sie vielen Dank, Doktor.«
Sie verließen die Station und traten hinaus vors Krankenhaus.
»Das Mittel war im Wein. Es wäre der perfekte Mord gewesen«, sagte Anouk, immer noch staunend über die neuen Erkenntnisse.
»Beinahe jedenfalls.«