Luc parkte den Wagen unter einer der großen Linden auf dem Dorfplatz, genau vor der alten Mairie, dem Rathaus mit den schön gepflanzten Geranien, und ging die paar Schritte hinüber zum Bistro von Saint-Julien-Beychevelle. Der Platz sah malerisch aus, doch Richard saß da mit Grabesmiene, sein Fuß wackelte unter dem Bistrotisch, und als er Luc von weitem kommen sah, stand er sofort auf und kam auf ihn zu. »Gut, Luc, gut, dass du da bist, ich habe schon auf dich gewartet.«
So hektisch, so voller innerer Unruhe hatte der Commissaire seinen alten Schulfreund noch nie gesehen.
Und dann trug er auch noch einen grauen Anzug mit Krawatte, bei diesem Wetter! Es schien, als sei er sogar vor dem Kleiderschrank in Gedanken gewesen.
»Setz dich, setz dich«, sagte Richard und zog Luc förmlich auf den Stuhl neben sich. Der konnte gerade noch dem Wirt winken und ein Zeichen machen, das nach einer Café-Tasse aussah, dann sprudelte es schon aus Richard heraus.
»Es ist alles ganz furchtbar, jetzt habe ich schon den Zuschlag bekommen für dieses Dinner heute Abend, und zudem geht der Marathon auch noch genau durch unseren Schlossgarten. Das sollte ein ganz großer Höhepunkt werden für unseren Betrieb, und nun droht alles schiefzugehen.«
»Was ist denn los, Richard? Immer der Reihe nach … Jetzt atme erst mal tief durch.«
Richard tat wie geheißen, holte zwei-, dreimal tief Luft und fuhr fort:
»Es ist wie verhext. Wir wollten morgen nach dem Marathon eine Pressekonferenz abhalten. Meine Frau, unsere Tochter und ich. Wir wollten verkünden, dass unser Château Lecœur-Saint-Julien expandiert, um der steigenden Nachfrage aus Fernost zu begegnen, und dass wir ins Weingeschäft in Saint-Émilion einsteigen. Es waren monatelange Geheimverhandlungen, und nun droht alles zu platzen. Ich weiß es erst seit ein paar Tagen, und jetzt müssen wir alles absagen.«
Luc hörte der atemlosen Erzählung zu und war sehr überrascht. Dass alteingesessene Châteaus aus einer Weinregion in eine andere expandierten, geschah selten und war sehr kostspielig. Zudem waren die beiden Gebiete recht weit voneinander entfernt. Die Appellation Médoc lag nordwestlich von Bordeaux, Saint-Émilion dagegen befand sich über eine Stunde von hier entfernt östlich der Stadt. Dennoch waren beide Anbaugebiete der Spitzenklasse – vielleicht die besten der Welt.
Luc wusste, wie hart der Wettbewerb um die besten Weine war, und dass die einstigen Bauern nun Unternehmer geworden waren, die statt mit dem Traktor durch die Weinberge mit dem Jet von Weinmesse zu Weinmesse um die halbe Welt flogen.
»Es ist so: Wir hatten ein Weingut gefunden, ein kleines Château am Rande von Saint-Émilion. Es gehört einem alten, sehr renommierten Winzer, Hubert de Langeville. Er hatte Geldprobleme, und er hatte auch keine rechte Lust mehr, denn sein Wein war kein Grand Cru, weil er nicht die beste Lage hatte, um mit den großen Schlössern mitzuhalten. Für uns wäre das egal, wir haben die besten Lagen hier im Médoc, ich hatte ohnehin nur vor, einen einfachen Vin de Saint-Émilion zu produzieren, und dann hätte ich irgendwann noch weitere Anbauflächen zugekauft. Wir waren uns schnell handelseinig. Es war ein guter Preis, zwei Millionen für den ganzen Weinberg und das Schloss, das würde für de Langeville bis zum Lebensende reichen, und für ein schönes Erbe für seine Tochter – und für uns wäre es ein perfekter Einstieg in Saint-Émilion. Alles war vorbereitet. Und wir hätten schon in zwei, drei Wochen die Trauben dort ernten können. Es wäre der erste Jahrgang von Lecœur in Saint-Émilion geworden. Was da für eine Geschichte drinsteckt. Ich hatte sogar schon die Homepage reserviert – stell dir vor, Hubert de Langeville hatte bisher nicht mal einen Internetauftritt.«
Richard schien immer noch ganz überrascht über diesen Fakt, er war atemlos, als könne er nicht verstehen, dass es Winzer gab, die den modernen Zirkus für kein Geld der Welt mitmachen wollten. Luc wunderte sich insgeheim über die enge Sichtweise seines Freundes, während der fortfuhr:
»Die ganze neue Welt interessierte ihn nicht. Er wollte einfach nur Wein machen. Aber das reicht heute eben nicht mehr zum Überleben. Also – du siehst: alles war vorbereitet. Ich habe dem Deal vertraut, weil de Langeville als ein wirklich respektabler Geschäftsmann gilt, wie man in Saint-Émilion sagt. Das war wohl ein Schuss in den Ofen …«
Richard trommelte mit den Fingern auf den Tisch, so erregt war er. Luc wartete ab, er wollte nicht nachfragen, aber er war gespannt, was eigentlich genau geschehen war. Sein Espresso stand unberührt auf dem Tisch, er wollte Richard nicht von seiner Geschichte ablenken.
»Vor ein paar Tagen hat de Langeville angerufen und abgesagt. Er könne nicht mehr verkaufen. Es sei Familienbesitz, seit Jahrhunderten, er hätte es sich anders überlegt. Dann hat er einfach aufgelegt. Es ist alles so verrückt. Wir hatten schon einen Notar beauftragt. Das Ganze hat mich locker fünfzigtausend Euro gekostet. Alleine die Kosten bis hierhin. Und jetzt soll alles umsonst gewesen sein?«
Richard verbarg sein Gesicht in den Händen, es war eine verzweifelte Geste.
»Luc …« Er stockte und wiederholte dann den Namen des Commissaire, drängend, eindringlich. »Luc … Christine ist völlig außer sich.«
Richards Frau. Luc kannte sie gut. Und er mochte sie. Sie war bodenständig, ehrlich, und sie war gut zu Richard.
»Sie hatte sich schon so gefreut auf den Zukauf. Sie wollte das neue Schloss managen. Und es irgendwann unserer Tochter übergeben. Luc, kannst du bitte nachforschen, was da los ist? Heute Abend? Hubert de Langeville war wegen des Verkaufs als mein persönlicher Ehrengast eingeladen, in den nächsten Tagen wollten wir den Wechsel öffentlich machen. Er läuft morgen den Marathon mit, also wird er heute Abend dabei sein. Meinst du, dass du ihm ein wenig auf den Zahn fühlen kannst?«
Luc war unwohl bei dem Gedanken, schließlich wollte er mit Yacine einen schönen Abend verbringen – und er wollte sich auf das Zusammentreffen mit Anouk vorbereiten. Aber Richard war sein Freund, keine Frage, dass er ihm helfen würde, und die ganze Sache klang wirklich mysteriös.
Er atmete einmal tief durch, nahm die kleine weiße Tasse und trank den mittlerweile lauwarmen Espresso in einem Schluck. Es war eine idyllische Szenerie auf diesem kleinen Dorfplatz, der Verkehr der Départementstraße rauschte hinter den Bäumen vorbei, hier aber bei den vier kleinen Tischen sangen die Vögel, es roch nach frischer Landluft, und die Trikolore hing träge, aber in stolzen kräftigen Farben am Fahnenmast der Mairie herunter. Luc fühlte sich wohl in der Campagne, fast konnte er vergessen, dass er nur auf Zeit hier war – und hauptberuflich eigentlich der Leiter der zweiten Pariser Mordkommission. So entspannt fühlte er sich in diesem Moment, und so belebt. Der Kopfschmerz von vorhin war fast vergessen.
»Gut, ich werde heute Abend mal mit ihm reden. Aber nur, wenn ich dabei kein einziges Nudelgericht verpasse. Und kein einziges Glas Wein.«
Luc lachte probehalber ein wenig, als wartete er darauf, dass Richard einstimmte, aber der Winzer schaute nur gedankenverloren. Nichts zu machen, nicht mal ein so schwacher Scherz konnte ihn aufmuntern. Denn jeder im Médoc wusste, dass das Nudelessen vor dem Marathon eigentlich eine ziemlich unappetitliche Angelegenheit war. Die Schlossherren, die das jährliche Fest ausrichteten, mussten auf die Minute Nudeln für anderthalbtausend Menschen kochen. Das verhieß nichts Gutes für die Qualität der Pasta, statt al dente war die eher bien cuit. Dafür entschädigten die Weine, und so wie Luc seinen perfektionistischen Freund kannte, würde der diesmal auch für besseres Essen sorgen. Nur die gute Stimmung würde heute Abend eventuell auf der Strecke bleiben, dachte Luc, als er Richard bei der Verabschiedung in die traurigen Augen schaute.