Am liebsten wäre Luc geflohen. An den Strand. Aufs Board. Weg von hier. Weg von immer neuen Aussagen, die alle in die gänzlich falsche Richtung führten. Zu Richard nämlich. Sonst hatte er sich doch auf sein Bauchgefühl immer verlassen können. Hier nun lief alles völlig aus dem Ruder.

Wie ferngesteuert lenkte er den alten Jaguar von der Pont François Mitterand hinein nach Bordeaux. Vorbei am alten Schlachthof, dem hässlichen Gewerbegebiet, er ließ den Bahnhof links liegen und fuhr dann einen Kilometer später nach links, hinein in die Altstadt. Er parkte den Wagen auf einem Livraison-Stellplatz für Händler, klappte die Police-Sichtblende herunter und stieg aus.

Wo war Richard? Verdammt. Er würde ihn festnehmen müssen. Obwohl er ihn für unschuldig hielt. Aber war er sich da noch so sicher?

Drei Minuten später wartete er auf der Place Canteloup und sah Anouk schon von weitem aus ihrem Haus kommen. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille. Und ging energisch und zielstrebig auf ihn zu.

»Salut«, sagte sie geschäftig, statt eines Kusses gab sie ihm die drei bises.

Sie gingen den Place Canteloup entlang bis zu einer kleinen Bar. Es war nicht Anouks Stammbar, die Luc schon kannte. Sie hatte für dieses Gespräch wohl eine Bar gewählt, die nicht einer ihrer Lieblingsorte war.

Die Bar hieß Julo, sie bestand aus einem schönen offenen Raum mit hellem Holz. An der Wand in einem Regal standen Dutzende Weinflaschen. Sie setzten sich ans Fenster auf zwei Barhocker, hier drinnen gab es sogar eine Klimaanlage. Es war herrlich kühl.

»Alors, können wir zwei Gläser Saint-Estephe haben? Diesen da«, Anouk zeigte auf die Tafel, den La Chapelle de Calon.

Anouk bestellte immer sehr treffsicher, doch Luc konnte sich nicht recht freuen. Was gleich kam, würde unangenehm werden.

Erst mal aber kamen die Gläser. Luc hätte gerne eine geraucht. Später, ermahnte er sich.

Er nahm eine Nase vom Bukett, Vanille und Zimt. Als Luc das Glas wieder gerade hielt, floss der Rotwein ganz ölig am Rand des Glases hinab. Ein wunderbarer Tropfen, für einen Zweitwein besaß er eine unglaubliche Qualität.

Ein kurzes Anstoßen, dann der erste Schluck: Tiefdunkel prallte der Geschmack auf die Zunge, der Geschmack von Wald und Erde. Erst dann kam die Frucht, hinten im Gaumen, im Abgang spürte Luc die Frische, schließlich war der Wein erst zwei Jahre alt.

Sie tranken, und Luc dachte darüber nach, worum es in diesem ganzen Fall wirklich ging: um diese rote Flüssigkeit im Glas? Um ein eigentlich doch simples Getränk, das zu einem Milliardengeschäft geworden war? Oder war das eine falsche Fährte?

Sie hingen ihren Gedanken nach, leise Bluesmusik spielte im Hintergrund. Es war Anouk, die zuerst sprach.

»Gut, hm?« Sie zeigte auf ihr Glas, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Luc, ich dachte, du würdest auf mich zukom

Luc sah sie an. Er schwieg. Sie sah ihm in die Augen, als wollte sie ihn prüfen. Doch von ihm kam nichts.

»Mein Gott, du willst es auch nicht anders. Ich war in Saint-Émilion. Nachdem uns der alte Trintignant erzählt hat, dass Richard Fragen über Hubert gestellt hatte. Aber das war nicht alles, das habe ich gespürt. Deshalb bin ich in die Stadt gefahren. Ohne dich, um dort zu ermitteln.«

Luc hatte also doch richtig gesehen.

»Richard hat Hubert regelrecht ausspioniert. Ich habe auch im Rathaus Leute gefunden, die sich erinnern konnten, dass Richard Fragen über Hubert gestellt hat. Und in der Apotheke waren Richard und Hubert einmal zusammen. Dein Freund wusste also von der Erkrankung. Mann, Luc. Und du …«, sie setzte sich erst aufrecht, beugte sich dann ein wenig vor, »und du wusstest davon und hast nichts getan. Die Apothekerin hat es dir erzählt.«

Und der Arzt hatte es Luc bestätigt. Aber das verschwieg er jetzt lieber. Zeit zum Kopfeinziehen. Anouk machte eine Pause und ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Sie nahm noch einen Schluck und fuhr dann ruhiger fort:

»Richard hat ein knallhartes Motiv. Wir haben seine Finanzen gecheckt. Ich wollte dir das nicht sagen, falls wir nichts finden. Aber wir haben was gefunden: er ist richtig am Arsch. Die Bank will nicht mehr, und auf den Firmenkonten sieht es mau aus. Ich weiß, wieviel dir der Mann bedeutet. Aber es spricht zu viel gegen ihn.«

Luc sah aus dem Fenster.

»Und nur, weil er pleite ist, wie du sagst. Meinst du, deshalb würde er es schaffen, jemanden umzubringen? Einen ehrbaren Winzer? Den er sogar mochte? Glaubst du das?«

»Luc. Ich weiß, wohin Verzweiflung die Menschen treiben kann. Und wir haben doch selbst darüber gesprochen, wie riesig der Druck ist in den Sphären, in denen sich Richard und die anderen Winzer bewegen. Und nun geht es eben ausgerechnet um deinen besten alten Freund – und schon kannst du es dir nicht mehr vorstellen?«

Luc wollte antworten. Er hätte tausend Argumente gehabt. Erwiderungen. Verteidigungen. Das Problem: Sie klangen alle schwach, müde. Und er wusste das. Er trank noch einen Schluck.

»Luc, jetzt sag was. Ich habe mich entschieden, dir zu vertrauen«, Anouks Stimme nahm jetzt an Fahrt auf, sie wurde lauter und entschiedener, »und ich habe diese Karte bekommen, die mir empfahl, vorsichtig zu sein. Geschenkt. Ich habe dich, verdammt noch mal, sogar geküsst. Und nun machst du genau das, was da stand. Du schützt jemanden, den du normalerweise einfach festnehmen würdest. Wenn er nicht dein Freund wäre. Und ich soll das auch noch decken. Das kann ich nicht. Das kann ich nicht tun.«

Sie starrte kurz aus dem Fenster. Sah ihn nicht wieder an, als sie fortfuhr:

»Ich kann dich nicht zwingen. Ich kann dich vielleicht sogar verstehen. Meinst du, ich würde meine beste Freundin festnehmen wollen? Aber du musst etwas tun. Einen Tag, Luc. Sonst mach ich es.«

Anouk stand auf, knallte einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch und verließ das Lokal. Wortlos. Grußlos.

Er sah ihr nach, bis sie zwischen den Flaneuren des Abends auf der kleinen Gasse verschwand.

Dann nahm er sein Handy. Und endlich war sie da, die SMS

Richard ist eben hier angekommen. Sah fertig aus. Hab aber auch meine Brille vergessen. Komm her! Ich warte hier und hau dann ab. L.

Gerade als Luc aus der Bar stürmte, klingelte das Telefon wieder. Als er den Anruf annahm, erkannte er sofort die näselnde Stimme. Heute war sie noch schneidender.

»Bonjour, Commissaire. Ich dachte, ich melde mich mal wieder – wenn Sie es nicht tun. Was machen die Ermittlungen? Haben Sie den Unterpräfekten als mögliches Opfer wirklich ausgeschlossen?«

Der Präfekt hatte ihm nun gerade noch gefehlt.

»Monsieur le Préfet, alles deutet darauf hin, dass der Winzer aus Saint-Émilion getroffen werden sollte. Ihr werter Unterpräfekt war ein Zufallsopfer.«

»Haben Sie denn endlich einen Verdächtigen? Der Mord ist fast eine Woche her. Wie stehe ich denn da? Die Presse fragt dauernd nach.«

Luc fragte sich, wie das gehen sollte – denn die Journalisten waren immer noch erfolgreich ruhig gestellt.

»Wir haben einen Hauptverdächtigen. Einen Winzer aus dem Médoc. Er hat ein starkes finanzielles Motiv und die Möglichkeit, den Wein zu vergiften.«

Der Präfekt seufzte ungeduldig.

»Und wo ist der Mann? Haben Sie ihn schon in Haft?«

»Ich bin auf dem Weg zu ihm.«