»Sie ist wach.«
Der Ruf des Arztes hatte Luc aus seinen Gedanken gerissen. Er stand sofort auf und sah auf die große Uhr am Ende des Flurs. Nicht einmal eine Stunde war vergangen.
»Ich komme.«
Er ging über den Flur und betrat das Zimmer durch die Tür, die der Arzt immer noch aufhielt. Luc dankte, und der Doktor schloss die Tür von außen.
Jacqueline Georgieva war wach, und sie funkelte ihn mit ihren Augen böse an. Sie war noch schwach, so wirkte es, aber durchaus in der Lage, mit ihrem Blick zu töten.
»Sie …«, fuhr sie ihn an, »Sie Bastard, Sie haben mich vergiftet … Ich werde Sie …«
Sie brach ab. Luc wartete ab, bis er ganz ruhig antwortete:
»Was werden Sie? Mich anzeigen? Darauf bin ich aber sehr gespannt, Mademoiselle. Also, gehen wir es doch einmal durch. Was hätten Sie mit mir gemacht, wenn ich, Ihrem Plan folgend, nach dem Genuss Ihres Glases Wein friedlich auf Ihrem Sofa eingeschlafen wäre?«
Die Apothekerin hatte viel von ihrer Schönheit eingebüßt. Ihr Gesicht war nur noch eine Maske. Perfekt gezeichnet, ja, aber ihre Bewegungen, ihre Mimik, das alles war nur noch eingefroren und voller Bosheit.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich hätte wahrscheinlich meinen Freund angerufen und gefragt, ob er weit genug aus der Schusslinie ist. Und dann hätte ich entschieden. Entweder hätte ich Sie eingesperrt, oder … oder ich hätte Sie … nun ja, umgebracht.«
Luc hatte mit ziemlich viel gerechnet bei dieser Frau, aber über diese Skrupellosigkeit war er dann doch überrascht.
»Sie wollen gerne wissen, was mit ›Ihrem Freund‹ ist, wie Sie sagen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Nein, ist mir egal. Jetzt ist es mir egal. Er war ein Langweiler. Als reicher Langweiler hätte er mir gefallen. Aber jetzt? Ich gehe doch sowieso ins Gefängnis. Und wenn Sie so fragen: Sie haben ihn, oder?«
Sie hatte einen wachen Verstand. Selbst jetzt. Dabei war Jacqueline immer noch sichtlich benommen von den Tropfen, die sie eigentlich Luc verabreichen wollte.
»Ja. Wir haben ihn. Und – so wie ich ihn kennengelernt habe – er wird aussagen wie ein Schuljunge. Diese Sorte Mann wird Ihnen alles anzuhängen versuchen, wenn ich das hinzufügen darf.«
Sie legte ihren Kopf wieder matt auf dem Kissen ab. Sie antwortete nicht, stattdessen schien sie zu überlegen.
»Mademoiselle Georgieva.« Luc sagte ihren Namen mit Nachdruck. »Am Ende ist es eben doch wie immer. Sie werden verlieren. Sie haben verloren bei den jungen Winzern, die einfach nur Ihren Körper wollten – und Sie werden dieses Mal verlieren. Weil Sie zwar den Plan hatten, aber am Ende auch die Drecksarbeit gemacht haben. Meinen Sie, Monsieur Vauquiez wird das auf sich nehmen? Niemals wird er das.«
Sie schaute ziellos im Zimmer umher. Und dann sah sie es ein. Sie fing erst leise an zu schluchzen, dann ging es über in ein bitterliches Weinen, wie ein kleines Mädchen weinte sie, verbarg ihr Gesicht in den Händen, immer weiter, minutenlang. Luc saß mittlerweile ganz nah an ihrem Bett auf einem Stuhl, aber anfassen mochte er sie nicht. Er wollte sie nicht beruhigen oder schützen, jetzt musste alles raus. Als sie sich langsam beruhigte, sagte er:
»Erzählen Sie mir davon.«
Sie schaute zu ihm auf, aus verheulten Augen, die Schminke von vorhin war verlaufen, ihre Maske hatte wieder etwas Menschliches bekommen.
»Warum sind alle gegen mich? Warum? Warum hat keiner dieser verdammten Winzerjungs um meine Hand angehalten? Und ich glaube, verdammt noch mal, auch, dass es stimmt, was Sie sagen. Über Guy.«
»Jacqueline, wie ist es abgelaufen?«
»Es war ganz in unserer Anfangszeit. Ich habe Guy in einer Weinbar kennengelernt. Da war ich oft. Immer mal gucken, was geht. Und in Saint-Émilion geht nicht viel. Er saß da. Und er war … wie soll ich sagen … bedauernswert. Wie er da hockte. Mit seinem grauen Sakko. Und diesen riesigen Augenbrauen. Haben Sie seine Augenbrauen gesehen? Wahnsinn!«
Es war eine rhetorische Frage, Luc antwortete nicht.
»Ich habe ihn angesprochen. Und dachte kurz darauf, der Typ kriegt gleich ’nen Infarkt. Der hat richtig gejapst. Aber dann haben wir noch was getrunken, und ich war wirklich sehr nett. Er hat sich langsam beruhigt und angefangen, ein wenig von sich zu erzählen. Von seiner Karriere als Filialleiter. Dass er sehr erfolgreich sei in dem was er mache. Er war nicht prahlerisch oder so. Er war sehr nett. Und dann sagte er, irgendwann nach einer Flasche, die ich mir nie hätte leisten können, dass er so was nie mache. In eine Bar gehen. Es sei das erste Mal heute. Und dann würde ich ihn auch noch ansprechen. Er hatte sich richtig lockergequasselt. Und ich …«
Sie wartete. Dann gab sie sich einen Ruck.
»… Ich hab … Na ja, Sie haben Guy ja gesehen. Ich habe gedacht, ich könnte jetzt noch zwei Jahre auf irgendeinen Jungen warten, der hübsch ist und reich – und der wahrscheinlich nie kommt. Oder es mit dem netten Banker versuchen, der wenigstens wohlhabend ist. Dachte ich zu dem Zeitpunkt. Ich hab mich an ihn geschmiegt, immer weiter, und da war es um ihn geschehen. Er war völlig außer sich. Ich hab mich quasi in sein Auto gezwungen und mich zu ihm fahren lassen. Und dann hab ich es ihm besorgt, dass es kein morgen mehr gab. Er ist richtig aus sich rausgegangen. Es war für mich jetzt nicht unbedingt die Erfüllung mit einem Mann wie ihm. Aber ich hatte ein Ziel vor Augen.«
Luc wusste nicht, ob er die Geschichte überhaupt noch weiter hören wollte. Dieses hübsche Mädchen war eine echte Psychopathin. Aber die Neugier siegte. Vielleicht gab es noch irgendetwas zu verstehen. Außerdem wollte er sichergehen, dass er genug gegen Guy in der Hand hatte, um auch ihn ins Gefängnis zu bringen.
»Was war denn das Ziel?«
»Ich wollte wissen, wie viel so ein Banker mit nach Hause bringt. Und was noch möglich wäre in seinem Gewerbe. Und dann, eines Tages«, sie zögerte, und ihr Blick bekam etwas Träumerisches, als begebe sie sich zurück in diese Zeit, »eines Tages erzählte er mir etwas von einem Stück Land, das der Bank gehörte. Und dass er es schon seit Wochen hätte verkaufen können. An jemanden, der sehr solvent ist. Dass sich nun aber jemand anderes gemeldet hätte. Er sprach von Hubert. Dass der diese Wahnsinnserbschaft gemacht habe. Und unbedingt dieses Stück Land wolle. Wegen der Bewertung seines Weines. Ich habe zuerst kein Wort verstanden. Aber dann, es war eine schöne Sommernacht, habe ich mich, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, an Guys Computer gesetzt und die ganze Nacht recherchiert. Ich habe alles über Weinbewertungen gelesen. Und wie die den Ruf eines Châteaus veränderten. Was da für Gewinne möglich waren. Mir wurde klar, wie sehr Hubert de Langeville diese Aufwertung wollte und brauchte. Am Morgen haben wir zusammen gefrühstückt, und ich habe gesagt: ›Guy, ich habe eine Idee.‹ Und dann hab ich ihm gesagt, wie wir es anstellen. Und was wir dann machen mit den Millionen.«
»Mit den Millionen?«
»Guy hatte mir einige Tage vorher ganz stolz erzählt, er habe noch ein paar Hunderttausend auf der hohen Kante. Damit wollte er mit mir auswandern. Aber ein paar Hunderttausend? Damit hätten wir auf die Île de Ré auswandern können. Ich will aber lieber in die Südsee. Und deshalb habe ich den Plan aufgestellt, dass wir zwei Millionen von Hubert verlangen. Dafür, dass er den Zuschlag bekommt. Er bekäme das Château genau für die Summe, die er bezahlen konnte. Und der solventere Kunde würde dann nie erfahren, für welche Summe Hubert das Land gekauft hatte. Schließlich hätte er lässig mehr bieten können.«
»Der solventere Kunde war Monsieur Trintignant?«
Sie nickte.
»Ja. Er hatte schon eine Woche vorher bei Guy angerufen und als Anfangsgebot zehn Millionen aufgerufen. Der wollte das Weinfeld unbedingt, wahrscheinlich, weil er keine neue Konkurrenz in seiner Gegend wollte. Und hätte er erfahren, dass Hubert mehr bietet – was der gar nicht gekonnt hätte, dann hätte Trintignant locker darüber geboten. Und dann wäre das Geschäft geplatzt. Unser Geschäft.«
»Aber warum haben Sie sich denn nicht von Monsieur Trintignant bestechen lassen? Der hatte doch viel mehr Geld.«
»Ich hatte Guy genau zugehört. Und er hatte von diesem Hubert geschwärmt. Ein ehrlicher, guter Mann. Sein ganzes Leben ehrlich gearbeitet. Eigentlich war er wie Guy. Und dass er sein ganzes Leben nur ein Ziel verfolgt hatte: einen guten Wein zu machen. Er war fast manisch, der perfekte Winzer zu werden, erzählte Guy. Deshalb dachte ich: Das ist unser Mann. Weil er es so dringend wollte. Der andere, dieser Trintignant, der wäre der Falsche gewesen für diese Erpressung. Er ist steinreich, er hat schon einen Grand-Cru-Wein. Und der Wein war für ihn nicht so wichtig, er lebt für das Geld. Genau wie sein Sohn. Das weiß ich, seitdem der mich abserviert hat. Was für eine schmierige Familie. Trintignant hätte uns mit der Erpressung in der Hand gehabt. Er hätte den Weinberg bekommen und uns danach vielleicht vernichtet, uns an die Bullen verraten, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich habe mich durchgesetzt: Wir haben die Erpressung bei Hubert durchgezogen. Obwohl es ja keine richtige Erpressung war, sondern ein gutes Geschäft für beide Seiten.«
»Doch Hubert wurde es dann schwummerig?«
»Ein schönes Wort, Commissaire. Ja. Schwummerig. Hubert kam drei Tage vor dem Marathon in der Mittagspause in die Bank. Zu Guy. Er sagte, er habe Zweifel bekommen. Wie das denn alles gehen solle. Und dass er Gewissensbisse habe. Wegen seines Rufes. Guy hat ihn beruhigt. Er hat ganz ruhig auf ihn eingeredet. Und gesagt, dass wir das jetzt durchziehen sollten. Dass es schon so weit gediehen sei. Hubert wollte aber nicht. Er sagte, er würde das Geschäft gerne rückgängig machen. Und wenn Guy das nicht tun wolle, dann würde er zur Crédit Agricole nach Bordeaux fahren. Und alles klarstellen. Guy wusste nicht mehr weiter. Er hat Hubert gehen lassen. Und gesagt, er würde sich kümmern. Und dann kam Guy, der Trottel, zu mir in die Apotheke. Unter einem Vorwand. Er brauche Halstabletten, sagte er. Und dann hat er mich ganz leise angesprochen. Vollidiot. Fast wären wir aufgeflogen. Ich habe ihm zugeflüstert, er solle gehen. Ich würde ihm folgen. Und dann haben wir uns bei mir getroffen.«
»Und Sie haben die Dinge in die Hand genommen?«
Ihr Blick war entschlossen und klar. Sie nickte.
»Ich habe ihm gesagt, was zu tun sei. Dass er ganz entspannt bei Hubert anrufen solle. Ich habe ihm sogar den Text aufgeschrieben. Also hat Guy da angerufen. Und von meinem Zettel abgelesen: Er sei eben zu forsch gewesen, zu drängend. Natürlich könne man alles rückgängig machen. Das sei dann aber unumkehrbar, dann sei das Château samt Weinfeld wirklich weg. Ob Hubert nicht noch mal zwei Nächte darüber schlafen wolle. Dann könne er sich entscheiden. Und Hubert murmelte etwas von ›das sei doch alles kriminell‹, entschied sich aber, doch darüber zu schlafen. Da wusste ich, dass es kein Zurück gäbe. Dass ich etwas tun musste. Ich steckte schließlich mit drin. Und der Marathon war der ideale Ort. Es war perfekt. Die perfekte Gelegenheit. Dieser irrwitzige Marathon. Ihr Franzosen, ihr habt schon ein Gespür für Kuriositäten.«
Sie lachte bitter. Luc war überrascht von ihrer Kaltblütigkeit. Er war beinahe gefesselt davon, wie kalkuliert sie vorgegangen war.
»Ich wusste von seiner Krankheit. Ich kenne alle Medikamente auswendig. Ich bin eine sehr gute Pharmazeutin. Also hab ich es geplant. Und Sie«, sie zeigte auf Luc, »habe ich zweimal gesehen. Sie haben uns auf dem Motorrad überholt, ohne Helm, und dann standen Sie am Straßenrand bei Château Lecœur-Saint-Julien. Ich hab da schon gedacht: ›Wow‹. Nicht erst in der Apotheke. Ich saß nämlich auf einem Sanitäter-Motorrad, als Ersthelferin. Der Fahrer war einer meiner Exfreunde, er ist bei der SAMU, er ist dort Rettungsfahrer, und ich habe ihn gefragt, ob sie noch Freiwillige brauchen. Und dann hat er mich mitgenommen. Ich konnte kurz anhalten, als ich wusste, Hubert würde bald an die Station kommen. Da war ja totales Chaos, keiner hat auf den anderen geachtet. Und dann habe ich meine präparierte Flasche bereitgestellt, sie wurde als Nächste in die Gläser gegossen. Das ging alles so schnell, hätte ich nie gedacht. Es war der erste Versuch. Den anderen Läufern konnte ja nichts passieren. Nun gut, der sous-préfet, das war der pure Zufall, dass er die gleiche Erkrankung hatte. Mein Ex auf dem Motorrad hat gar nichts kapiert, so verknallt ist der immer noch … Und dann habe ich noch bei der Rettung angerufen und die Ambulanz mit dem Defibrillator an eine weit entfernte Stelle geschickt.«
»Sie waren das?«
»Ja, das war geplant. Ich wollte jedes Risiko vermeiden.«
Sie stockte, dann sagte sie tonlos.
»Es hat alles perfekt geklappt. Dass Sie darauf kommen könnten, das hätte ich nie gedacht. Niemals.«
»Ihre Öffnungszeiten. Und Guy.«
»Ich verstehe Sie nicht. Wieso denn Guy?«
»Er hat mir einmal nicht die Wahrheit gesagt.«
»Was? Er hat was?«
»Fragen Sie ihn. Ich löse jetzt nicht auch noch für Sie den Fall. Er hat Sie verraten. Und Sie haben sich selbst verraten. Doch das Dümmste ist: Wir werden Sie richtig heftig drankriegen, bei ihm aber wird es deutlich schwieriger. Mademoiselle, Sie waren so perfide. Dabei kannten Sie Hubert nicht einmal. Er war ein feiner Kerl. Ein wirklich feiner Kerl.«
Luc hatte seine Fäuste geballt, vor Wut, vor Trauer über diesen unnötigen Mord. Er stand auf und verließ das Zimmer, ohne sich umzusehen.