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nkel Gideon war nicht sein Onkel. Sie waren weder verwandt noch verschwägert. Aber irgendwie hatte er immer zur Familie gehört, seit er denken konnte, und jetzt gerade schaute dieser auf eine herausfordernde Art seinen Quasi-Neffen an. Der Schein trog: Gideon Sanders war ausgesprochen gelassen und die Herausforderung lag darin, dass er ihn zu verspotten schien. Fast war es, als hätte er dieses Gespräch bereits seit einer sehr langen Zeit erwartet. Arthur beobachtete ihn dabei, wie er eine Zigarette aus dem Etui zog und sie entzündete.
„Wenn du weiter so guckst, mein Kleiner, dann wirst du dir noch was abbrechen“, brach Gideon das kleine Duell ab.
„Ich bin schon lange kein Kleiner mehr. Aber offenbar denkt das jeder.“
Gideon schnalzte mit der Zunge. „Dein Vater wollte, dass du mit bestimmten Teilen des Geschäfts so spät wie möglich in Berührung kommst. Er meinte, es verdunkelt die Seele. Seit … nun, seit das mit deiner Mutter passiert ist, redete er sehr häufig über Gott und die Seele und über die Verdorbenheit der Welt. Er hasst Schwäche! Oder hasst die Schwachen, weil sie ihn zu sehr an seine eigene Unzulänglichkeit erinnern.“ Gideon lachte nicht. Er sog an seiner Zigarette und winkte dann damit herum. Langsam blies er den Rauch aus. Die Geste zupfte an Arthurs Nerven.
„Ich habe keine Geduld mit deinen langatmigen Ausführungen. Komm bitte auf den Punkt“, forderte er ihn harsch auf.
Gideon hielt inne und beugte sich dann vor. Seine Haut wirkte etwas ungepflegt und wettergegerbt. Die noch dunklen, mit nur wenig Grau durchzogenen Haare klebten am Schädel, dessen Scharfkantigkeit vermuten ließen, dass der Mann eher unregelmäßig aß und mehr dem Cognac und den Zigaretten zugetan war.
„Du hast die gleiche Ungeduld wie dein Vater“, meinte Gideon und lachte dunkel. „Okay, die Kurzfassung? Dein Vater ist ein eifersüchtiger Mann und er ist ein Sadist. Aber das würde er niemals zugeben, denn …“ Er öffnete in einer allumfassenden Geste die Arme. „… er sieht sich als reinen Christen, der von Gott auf seine Kraft und seine Standhaftigkeit geprüft wird. Deine Mutter, die wundervolle Florence, hatte sich in seinen Schwager verguckt. Onkel Henry. Du weißt, schon lange tot. Und er sich in sie.“
Arthur wagte nicht, zu atmen. Das war nicht wahr! Das konnte nicht sein, dass Gideon davon wusste. Es hatte für ihn damals nichts Peinlicheres gegeben. Seine Mutter, die ihre Familie verraten hatte.
„Oh, wie hat damals die Luft gebrannt“, fuhr Gideon fast vergnügt fort, als würde er nichts merken. „Aber eine Scheidung kam nicht infrage. Also verkaufte dein Vater deine Mutter an Henry. Denn
wer sein Haus und seine Familie nicht in Ordnung hält, dessen Besitz löst sich in Luft auf. Wenn du so dumm bist, wirst du schließlich zum Sklaven eines Klügeren
. Sprüche 11, 29. Henry hatte einiges hingelegt, um mehr als einmal über sie rüber zu rutschen. Damals gab es das erste Mal Probleme mit der Firma und dein Vater ging recht regelmäßig in die Kirche. Wie genau das eine zum anderen kam, kann ich nicht sagen. Nur eines Tages schleppte er diesen Reverend an. Father Bartholomew Perish. Du kennst den Prediger. Guter Mann mit einer eigenen Sicht auf die Welt und ihre Verderbnisse. Was genau sie besprachen, keine Ahnung, aber es gab eine Art biblischen Pakt: ein Kind gegen Glück. Charles vermachte Cecil, der seinem Vater Henry wie aus dem Gesicht geschnitten aussah, der Kirche und die nahm mit beiden Händen, was er gab. Eigentlich habe ich nichts mit solchen Typen zu tun. Ich meine Typen, die Menschen kaufen. Aber Geld stinkt nicht und die Kirche ist zuverlässig und nun ja … Ich profitiere auch davon.“ Gideon lächelte, während Arthur zu schwitzen begann. Was genau sagte er ihm da? „Es war nichts dabei, weißt du? Der Father nimmt dir die Beichte ab und er versteht. Sie haben einen inneren Kreis und ich wurde Mitglied. Dein Vater ebenso. Sie haben die besten Mädchen, die ich je ficken durfte. Kein Bordell hat bessere. Sie sind perfekt erzogen, widersprechen nicht und ich muss mich nicht mit irgendwelchen Zickereien rumplagen. Denn was ist eine Frau ohne Benehmen? Nicht mehr als ein Tier!“
„Von was redest du?“
Gideon betrachtete seine Zigarette und entzündete sie mit einem Seufzer neu. „Nun, die Gemeinde nimmt es mit der Altersgrenze nicht so genau, da Gott das nicht gewollt hat. Es steht bereits in der Bibel. Ab vierzehn sind sie zu verheiraten. Und so ein junges Ding ist wie ein Jungbrunnen. Gehörst du zum inneren Kreis, dann kannst du wählen. Es gibt immer ein paar, die ausschließlich den verdienstvollen Männern dienen. Ausgesuchte Exemplare mit besonderer Reinheit und ausgefeilten Manieren. Father Bartholomew sähe es lieber, einer wie ich würde heiraten und ein gottgefälligeres Leben führen. Ich bekäme dann auch eine Frau ausgesucht, aber …“
Arthur hatte den Eindruck, dass in den Ausführungen immer noch sehr viel fehlte, wenn er auch begriff, dass Gideon vom Sex mit Minderjährigen sprach und sein Vater dabei seine Finger im Spiel gehabt hatte.
Sein Onkel grinste, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Wenn du übrigens glaubst, dass du etwas Besseres bist, dann erinnere ich dich an deine Verfehlungen. Die kleine Clara in der Neunten? Das haben dein Vater und ich wieder in Ordnung gebracht. Und dann gibt es noch ein paar nette Fotos von einer Popi. Eine kleine, minderjährige Hure, der du es so richtig besorgt hast, als du einundzwanzig warst. Der beste Geburtstag deines Lebens. Father Bartholomew liebt diese Bilder. Er meint, sie wären ein großartiges Investment gewesen. Du zeigst die harte Hand eines guten Mannes. Eines wahren Christen, der eine ungehorsame Frau zu züchtigen weiß. Deine künftige Verlobte wird genau wissen, wo ihr Platz ist. Wie heißt sie noch mal?“
Arthur fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen war. Gideon paffte. „Es ist gut“, sagte er sinnierend, „wenn die Gemeinde weiß, wo die Schwächen des anderen sind. Dann weiß sie, wie du geschützt werden musst und dein Weg geradlinig ist.“
„Was hat Cecil damit zu tun?“
„Nun …“ Gideon lächelte. „Er ist ein guter Junge, wenn er auch ein sündiges Fleisch hat und in Sünde gezeugt und geboren wurde. Er taugt nicht zu einem guten Christen und ihn zu bekehren ist Zeitverschwendung. Seine Seele ist in der Hölle besser aufgehoben. Außerdem dient er auf diese Weise den Männern, die nach der Sünde Ausschau halten und ihr Fleisch mit ihrem Begehren besudeln. Es ist besser, den Drang unter Kontrolle zu halten und den Moment der Heilung abzuwarten. Ein Mann sollte nicht bei einem Manne liegen, das weißt du doch. Aber die Sehnsucht und der Trieb sind stärker. Also braucht es Hilfe und wenn der Mann noch keiner ist, dann ist es nur eine halbe Sünde.“ Gideon zog wieder an seiner Zigarette und schuf beim Ausatmen kleine, feine Kringel. Er lächelte mokierend und ließ Arthur keine Sekunde aus den Augen. „Du hast natürlich keine Probleme mit Homosexualität. Du bist ein Mann, der es Frauen so richtig besorgen kann. Deine Sehnsucht ist leicht zu heilen. Du versenkst deinen Schwanz in zarte Mösen. Du bist ganz der Sohn deines Vaters. An einem Mann gibt es für dich nichts Begehrenswertes. Aber ich hatte die Ehre, deinen Bruder zu kosten, und er war süß und saftig und willig …“ Das Zucken der Mundwinkel verzog sich zu einem spöttischen Grinsen.
In Arthurs Ohren rauschte es. Das, was Gideon behauptete, war pervers und ganz offenkundig eine Lüge, um ihn aus der Reserve zu locken. Offenbar waren die „Freunde“ seines Vaters darauf aus, seine Geduld zu testen. Was auch immer das zu bedeuten hatte, er würde den Test bestehen.
„Ich vergaß“, fuhr Gideon ungerührt fort. „Halbbruder. Dein Onkel war ja der Vater. Denn du bist nie so filigran und zart gewesen. Schon immer gröber und kaum reizvoll. Das rettete deinen Arsch. Eigentlich war der Father ziemlich sauer, weil Charles dich der Kirche verweigert hatte. Aber Cecil wog alles auf.“
„Du hast meinen Bruder gefickt?“, stieß Arthur angeekelt aus und war sich mehr denn je sicher, dass er angelogen wurde.
„Ja, und ich habe es genossen. Doch wie gesagt, du solltest dir genau überlegen, was du tust. Denn so wie es aussieht, steckst du ziemlich in der Klemme. Und ja, ich weiß Bescheid. Thomes meinte, dass ich demnächst wieder ein paar Schecks für Aufträge bekäme. Von dir unterschrieben.“
Arthur hatte den Briefumschlag, der in der Firmenpost gelegen hatte, erst vorsichtig geöffnet und dann regelrecht zerrissen. Der Schrei hallte noch immer in seinen Ohren. Es war sein eigener gewesen. Wut. Frust und der unendliche Wunsch, irgendwem richtig wehzutun.
Was hatte sein Vater nur getan? Mit welchem Pack hatte er sich da eingelassen? Sein eigenes Gesicht verhöhnte ihn von unzähligen Bildern. Er, geil, besitzergreifend und gewalttätig. Er fickte. Er fickte auf unzähligen Fotos. Ein ganzes Dossier nur darüber. Fein säuberlich nach Alter sortiert. Gut ein Drittel der Huren waren minderjährig. Er hatte es nur von der einen gewusst. Die anderen?
Arthur ahnte, dass sie von keinem Escort-Service kamen. Einerlei, was Madam Corvin, sollte er sie anrufen, auch immer sagen würde. Die Mädchen waren ihm direkt von der Kirche geschickt worden und Madam Corvin hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, die Vermittlungsprovision kassiert. Arthur ging fest davon aus. Das Weib log, wenn es das Maul aufmachte.
Um das Maß vollzumachen, steckte in dem Briefumschlag noch ein weiteres Dossier. Eines über seine Eltern. Es gab ein Bild mit Cecil und seiner Mutter darin. Sie hielt ihn im Arm. Kaum zwei oder drei Jahre alt musste er da gewesen sein. Und es gab noch eines, das ihn als erwachsenen Mann zeigte. Die Augen, das Gesicht. Unverkennbar.
Sein Bruder!
Im Abgleich zu seinen Erinnerungen hatte er sich kaum verändert. Und jetzt war es für Arthur unübersehbar, dass er kein Ward war. Warum war ihm das nie aufgefallen? Cecil war ein verweichlichtes Mannsbild. Schwul. Ganz eindeutig. Zu sanfte Augen. Farblos. Es war, als wäre Gott bei dessen Erschaffung die Farbe ausgegangen. Graublonde Haare, graue Augen, blasse Haut. Und dann die Hände!
Allein die Hände!
Wie konnte ein Mann nur so kleine Hände haben? Wie groß war der Kerl jetzt eigentlich? Hundertfünfundsiebzig? Wenn überhaupt. Wahrscheinlich war er ein Zwerg. Vater hätte ihn nach der Geburt ersäufen sollen. Dann hätten sie nicht all den Ärger gehabt. Cecil war schuld am Beinahe-Bankrott der Firma. Er trug die Verantwortung dafür, dass sein Vater sich mit den Hunden der Hölle eingelassen hatte. Arthur bemerkte nur am Rande, dass er sich in den Worten seines Vaters verlor.
Gideons Stimme legte sich darüber. Die Probleme waren nicht erst mit Cecils Diebstahl da gewesen. Aber das war es, was sein Vater die ganzen Jahre über gesagt hatte. Wem verdammt noch mal sollte er glauben? Möglicherweise, so ahnte er, logen hier alle und er war der Dumme. Doch, so ahnte er, wenn er die Firma retten wollte, musste er erst einmal mitspielen. Die Aufforderung samt den Schecks, die mit in dem Umschlag lagen, waren eindeutig: Bring uns Cecil. Mehrere Verträge waren beigefügt. Schenkungen. Darlehen.
Und ein aktuelles Bild seiner Verlobten.
Er wollte nicht heiraten, aber Vater hatte ihm damals bei der Verlobung keine Wahl gelassen und langsam ahnte er, dass dieser genauso wenig eine gehabt hatte. Die Hochzeit würde den Pakt mit ihm und der Kirche besiegeln.
Heftig schrak er zusammen, als die Stille seines Appartements vom Klingeln des Telefons unterbrochen wurde. Er rappelte sich mit Mühe auf und schlurfte zum Schreibtisch. Irgendwie war er bei seinem Wutanfall auf dem Boden gelandet. Kein Ort, an dem er Zeit verbringen sollte. Ein Ward stand auf seinen beiden Beinen. Er kniete nicht, noch lag er auf dem Boden. Schlagartig setzte sein schlechtes Gewissen ein, als er die Telefonnummer sah, und im gleichen Moment hätte er erneut schreien mögen. Wie ein kleiner Junge, der die Hand des Vaters fürchtete. Er hasste sich dafür.
Trotzdem nahm er ab und war stolz, als ohne ein verräterisches Nebengeräusch oder ein Wanken seiner Stimme das „Vater, dir geht es gut?“ über die Lippen kam.
„Thomes ist bei mir gewesen. Er meinte, er hätte dir geholfen“, sagte er und jedes Wort schien er nur mit Mühe klar aussprechen zu können. Aber auch so verstand Arthur. Hart schlug er die Zähne aufeinander.
„Mach das, was er sagt. Halte dich an die Verträge! Es ist so weit alles abgesprochen.“
„Bin ich dein Handlanger oder dein Sohn?“, fragte Arthur, ehe es ihm gelang, seine Zunge im Zaum zu halten.
Er hörte das Keuchen seines Vaters. Ihm ging es noch lange nicht gut genug. Er hasste dieses Anzeichen von Schwäche. Niemand durfte ihn sehen und selbst ihn, seinen Sohn, hatte er fortschicken lassen. Arthur war gezwungen gewesen, sich heimlich Zutritt zu verschaffen, um sich von seiner Genesung überzeugen zu können.
Ein Ward war nicht schwach und wenn doch, dann zeigte er das niemals vor Fremden.
Wie hatte er diese Lektionen inhaliert? Als Kind war ihm sein Vater ein Gott gewesen. Jetzt war er erschrocken darüber gewesen, wie zerbrechlich dieser starke Mann aussehen konnte. Gleichzeitig beeindruckte ihn dessen Unnachgiebigkeit und er hasste ihn dafür. Aber mehr noch hasste er sich selbst.
„Wage es noch einmal!“, hörte er ihn sagen. Leiser. Bestimmter. Die Wut sorgfältig in den knappen Satz gepackt. „Ich entscheide, wann du so weit bist. Du wirst dich jetzt zusammenreißen und deinen Bruder ausfindig machen.“
„Bis ich mich mit Onkel Gideon unterhalten habe, der mir erzählte, dass er es von Mr. Grady weiß, wusste ich nicht einmal, dass er in den Staaten ist.“
„Weil dich dieser widerliche kleine Bastard bisher auch nichts anging. Jetzt kümmre dich darum wie vom Father aufgetragen. Sorge dafür, dass Gideon dranbleibt. Der Faulpelz will meist schon ernten, bevor die Frucht reif ist, und Cecil mag ein Schwächling sein, ein Dummkopf ist er auf keinen Fall.“
„Du willst ihn wirklich ausliefern?“
„Arthur! Wenn du diese Frage noch einmal stellst oder eine ähnliche, dann werde ich dich dafür bestrafen.“
Arthur verspürte den Drang, seinen Vater darauf hinzuweisen, dass er keine fünf Jahre mehr alt war. Er verzichtete darauf, weil er ahnte, dass dieser sehr genau wusste, wie er ihn würde treffen können. Es gab viele Wege, ihn zu strafen. Arthur biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte.
Zwei Stunden später saß er in seinem sehr stillen Appartement, das ihm unheimlich vorkam. Der Single Malt, den er bis auf ein Drittel der Flasche intus hatte, brannte nicht genug. Er brauchte etwas, was wehtat. Arthur wankte zur Bar und holte eine Flasche aus dem hinteren Bereich, staubte sie grob ab, drehte an einem ordinären Schraubverschluss und nahm direkt aus der Flasche einen großen Schluck Schwarzgebrannten, der ihm ein Keuchen quer in die Kehle trieb. Als der Schmerz langsam nachließ, hörte auch der andere Schmerz auf.
Es war an der Zeit.
Ein Ward tat, was ein Ward tun musste.