V erdammt!“, rief Cecil. Er keuchte und hatte Mühe, mit den anderen mitzuhalten. Er wäre zurückgefallen, wenn Seth ihn nicht gepackt und festgehalten hätte. Marvin fragte sich, wie sie nur in diese Situation hatten geraten können. Es war seine Schuld. So viel wusste er. Daran gab es nichts falsch zu verstehen. Wegen ihm waren sie auf der Straße. Wegen ihm waren sie auch auf der Flucht. Doch der Grund selbst erschloss sich ihm nicht vollständig. Einschließlich der Dragqueen in einem grünen Kostüm mit einem ebenso grünen Federputz auf dem Kopf. Sie lief ihnen mit weit ausgreifenden Schritten voraus, gab die Fluchtrichtung vor, während sie von einem Kerl in Lederkluft verfolgt wurden. Er hatte eine Waffe und das war Grund genug, um nicht stehen zu bleiben.
Während Cecil keuchte, hatte Marvin so viel Luft, um sich um ein paar weitere Dinge Gedanken zu machen. Wie gelang es diesem Kerl, in Plateauschuhen und Fummel, so schnell zu laufen, während Cecil klang, als würde er gleich sterben? Sein Freund hatte so wenig Ausdauer, dass es besorgniserregend war.
„Ich knall euch ab!“, erscholl es hinter ihnen.
Das war motivierend, aber Cecil war eindeutig am Ende seiner Kraft. Seth zog ihn nachdrücklich mit sich. Wieder knallte es. Ein Schuss!
Sie wurden von einem durchgeknallten, bewaffneten Irren durch die dunklen Seitengassen irgendwo in Chelsea gejagt. Der Laden, den sie eilig hatten verlassen müssen, war das Black Leather gewesen. Im Grunde hatte Marvin nur tanzen wollen und sie hatten sich auf das Plakat verlassen. Die Drag offenbar genauso. Aber das Black Leather war nicht das, was sie sich erhofft hatten. Wahrscheinlich hätte der Name sie vor dem Publikum warnen sollen. Nur, das war letzten Endes nicht das Problem gewesen. Die Drag hatte es gewusst und provoziert. Sie war es, die sich mit dem Türsteher angelegt hatte. Mit ihm und einem Kunden und irgendwie war dann alles eskaliert und sie waren gemeinsam mit dem Kerl im Fummel auf der Flucht.
Marvin ging trotz seines hervorragenden Trainingsstands langsam die Luft aus und er bekam Seitenstechen.
Die Drag schlidderte in dem Moment um eine Ecke, hielt sich dabei an der Mauer fest und Marvin wäre fast in sie reingelaufen. Denn dahinter war gleich ein Geschäft und der Kerl stoppte. Es war offen. Mehr noch, die Drag hielt die Tür für sie geöffnet und winkte ihnen hektisch zu.
Seth zog Cecil mit sich und die Drag ließ mit einem lauten Scheppern die Eisenjalousien herunter, knallte die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel um. Mit bebendem Busen stand sie vor ihnen, dann prallte sie zurück, als ihr Verfolger gegen die Barriere trat oder darauf einschlug.
Die Drag betrachtete die Bewegungen der Lamellen. Dann nickte sie langsam. „Sollte halten. Aber gehen wir besser tiefer hinein. Wenn er auf die Idee kommt, direkt auf den Laden zu schießen, könnte er sich selbst erschießen oder er kommt doch durch den Stahl. Das ist eine Wette, die ich nicht abschließen möchte.“
Der Kerl in Frauenklamotten ging an ihnen vorbei, als wäre es das Normalste auf der Welt. Cecil krallte sich noch immer an Seth fest und schnappte nach Luft. Marvin ging zu ihm und sah ihn etwas fassungslos an. Cecils Blick war trotz seines Aussetzers eindeutig: Sag kein Wort!
Marvin musste grinsen. Das Gefühl der Erleichterung, dass sie es alle geschafft hatten, endete aber, als der Verfolger noch einmal voller Kraft gegen die Jalousien knallte. Zum Glück war es kein Schuss gewesen.
„Herrgott noch mal. Was soll diese Fucking-Scheiße um diese Uhrzeit?“, kam die Frage aus der Richtung, in der in etwa die Drag verschwunden war. „Melody! Hast du wieder was angestellt? Kann man dich nicht mal für fünf Minuten allein lassen, ohne dass der dritte Weltkrieg ausbricht?“
Marvin fand den Wortlaut erhellend. Denn die Antwort auf die rein rhetorische Frage lautete wohl „Nein!“.
„Und wer seid ihr?“
„Ah, da bist du ja“, rief Melody, wie die Drag sich offenbar selbst nannte. Denn Melody war ganz sicher nicht der Name, den sie bei ihrer Geburt erhalten hatte.
Marvin war sauer. Denn obwohl es irgendwie ein wenig lustig war, Cecil außer Atem zu sehen und damit unweigerlich vor Augen geführt zu bekommen, dass der eher beherrschte Mann ganz außer sich sein konnte, war es alles andere als lustig. Sie waren in Gefahr gebracht worden. Und es war seine Schuld. Er hatte die Idee gehabt und den Wunsch geäußert, mit seinen Männern ausgehen zu wollen. Ohne ihn wären sie erst gar nicht in die Bredouille geraten. Die Stadt war gefährlich. Überhaupt war alles, was sich außerhalb ihres Appartements befand, gefährlich. Das hatte dieses Ereignis eindrücklich gezeigt. Sie waren nirgendwo sicher.
Marvin versuchte seine Angst zu bändigen, aber er wusste nicht, wie. Plötzlich sah er sich Auge in Auge mit Cecil wieder. Dessen Pupillen waren winzig.
„Ruhig!“, sagte Cecil. Sanft legte er eine Hand auf Marvins Brust. „Alles ist in Ordnung.“
Das war Panik gewesen, wie Marvin aufging. Noch immer war er nicht ruhig. Aber Cecils Nähe hielt ihn fest und verhinderte, dass er in der Spirale weiter abwärts trudelte.
„Das, meine liebe Araigne, sind ein paar sehr gute Freunde“, flötete Melody. „Dieses Schnuffelchen und die zwei Leckerli gehören zusammen.“ Melody hängte sich dreist an Seths Arm und betastete dessen Muskeln. Seth verzog keine Miene. Er sah Melody nur für einen Moment an und wirkte dabei alles andere als unfreundlich. Dann schaute er wieder ausschließlich Marvin an, der begriff, dass seine beiden Geliebten gerade zusammenarbeiteten und für ihn da waren. Sie standen ihm bei. Jeder auf seine Art. Dabei war es egal, dass sie Zeugen hatten. „Ich glaube, ich habe noch nie eine Dreierbeziehung in Aktion gesehen. Das hättest du sehen sollen, als ich sie entdeckt habe. Es war, als würde Gott persönlich Glitter vom Himmel regnen lassen. Das ist das Wundervollste, was mir je passieren konnte. Natürlich außer dir. Keiner kommt an deinen Charme und deine Schönheit heran.“
„Lass den Schmalz. Wer sind sie? Und warum donnert …“ Araigne unterbrach sich und lauschte dem Gebrüll. „Bullard gegen meine Jalousie? Ich habe dir gesagt, du sollst dich vom Black Leather fernhalten. Das ist nicht deine Szene. Ich habe keine Lust, dich eines Tages mit zerschmetterten Knochen aus der Gosse zu ziehen oder dich gar zu begraben. Die macht dein Flitterkram nur irre und lässt sie denken, sie könnten dich zerquetschen wie einen Schmetterling.“
„Finger weg“, knurrte Marvin, der seinen Atem wiedergefunden hatte, in Melodys Richtung. Dabei hielt er Cecils Hand auf seiner Brust fest. Die Wut und der Beistand genügten vollauf, jede noch so winzige Angst beiseite zu fegen. „Das ist nicht deiner! Er ist mein Mann!“
„Oh!“, machte Melody und in den Augen lag ein Funkeln, das Bewunderung vermuten ließ. Marvin erinnerte sich, dass der eine oder andere Freier ihn manchmal so angesehen hatte. Nur, dass er danach meist keine Hose mehr angehabt hatte, während sich ein fremder Schwanz in seinen Hintern hämmerte. Eine gewisse Gier! Genau das war es: Gier.
Melody ließ Seth los, kam näher und Marvin brauchte alle Kraft, um nicht zurückzuweichen.
„Das ist Marvin“, mischte sich Cecil mit ruhiger Stimme ein, bei der sich Marvins Haare sträubten. „Da drüben steht Seth und ich bin Cecil. Und ich würde dir raten, werte Melody, dass du die Finger von Seth nimmst, bevor Marvin sie dir abbeißt.“
Bisher hatte er nur zarte Kostproben dieser Stimme zu hören bekommen. Dann, wenn Cecil ihren Sex bestimmte. So, wie heute beim Training. Gott, er bekam einen Steifen allein von der Erinnerung.
„Und auch das habe ich dir schon mal gesagt“, ließ sich Araigne vernehmen. „Finger weg von anderer Leute Eigentum. Irgendwann hacken sie dir noch die Hände ab.“
Marvin riskierte einen Blick auf die Ladeneigentümerin. Sie wirkte im Vergleich zu Melody wie ein schwarzes Loch. Denn da, wo Melody brillierte wie ein frisch polierter, hellgrüner Stein, war sie dunkel und abweisend. Und sie war eine Frau. Eindeutig eine Frau. Kurze schwarze Haare, Tunnel durch beide Ohren, Piercings an Augenbrauen, Nasen und Ohren. Und Tattoos. Unzählige davon, aber sie schienen alle das gleiche Thema zu haben: Spinnen. Die Klamotten wirkten dagegen eher unspektakulär, da sie schwarz waren. Trotzdem: Korsett und Spitzenbluse waren ganz sicher kein Business Casual. Erst jetzt bemerkte er auch, in was für einer Art Laden sie sich befanden, während Bullard darauf aufmerksam machte, dass er nicht gedachte, so schnell seinen Posten zu räumen. Wie eine Katze, die vor einem Mauseloch wartete.
„Lasst uns in den hinteren Teil des Ladens gehen. Da haben wir unsere Ruhe. Die Nachbarn rufen bald die Polizei. Der Kerl nervt und die Dealer hassen es, wenn jemand die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sie zieht. Heute Nacht macht keiner mehr große Geschäfte.“
Araigne ging vor und Marvin sah sich gezwungen zu folgen, da Cecil einen Arm um seine Hüften legte und ihn mit sich zog.
„Alles gut mit dir?“, fragte er ihn leise ins Ohr. Marvin bekam eine Gänsehaut. Die Wärme Cecils tat gut und von dessen Schwäche beim Laufen war jetzt nichts mehr zu spüren.
„Geht schon. Aber ich hasse es. Ich … ich weiß nicht“, flüsterte Marvin zurück. „Es war eine dumme Idee, rauszugehen. Das hier ist …“
„New York. Nicht Boston“, unterbrach ihn Cecil. „Wir hätten schon eher rausgehen sollen. Wir sind sicher. Die Stadt ist irre. Aber … man versucht ja auch nicht jeden Tag einer Dragqueen auszuweichen, die sich mit einem Lederkerl einen Faustkampf liefert, weil sie Fan von einem Pole-Tänzer ist.“ Marvin konnte das Grinsen heraushören. Cecil amüsierte sich.
„Das ist ein Kerl im Fummel!“, gab er mit einem Knurren seine Beobachtung bekannt.
„Eine Drag. Ja!“
Marvin gab auf.
„Er nervt!“
Cecil drückte ihn sanft an der Hüfte und küsste ihn dann am Nacken. „Ja!“, sagte er leise.
Vor ihnen erklang ein ausgeprägter Seufzer. „Ich liebe Romanzen. Ich könnte glatt zur Pfütze werden.“
„Reiß dich zusammen, Melody!“ Araigne stellte sich an seine Seite und lächelte dann die drei Männer an. „Ich fürchte, das wird heute nicht besser und Flucht von hier ist gerade nicht möglich. Ich könnte euch zwar hinten rausgehen lassen, aber dann müsstet ihr dennoch zurück auf die Straße. Ist etwas tricky. Wie wäre es mit einer alternativen Abendplanung? So, wie ihr ausseht, wundere ich mich, dass ihr überhaupt in der Warteschlange vor dem Black Leather geduldet wurdet. Auf keinen Fall hätten sie euch so reingelassen. Zu bieder. Wenn ihr auch ein schnuckeliger Anblick seid, ihr drei.“
„Meine Männer und ich waren bereits aussortiert worden, als Ihre Freundin vorbeikam“, erklärte Seth. „Der Türsteher meinte etwas in fast gleicher Wortbedeutung. Wir hatten uns eher für das Tanzen interessiert. Aber es kam dann etwas anders.“
„Ja, Melody kam!“ Araigne grinste.
„Was?“ Melody war empört und stemmte seine Hände in die Hüften, die eindeutig zu männlich waren. Da halfen auch die Polster nicht. Er kannte das von Helen, doch die war ein anderes Kaliber und wirkte mehr wie eine Frau, sodass man schnell vergaß, einen Kerl vor sich zu haben.
„Es tut mir leid, dass euch Melody einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, aber schaut euch im Laden um. Für das nächste Mal seid ihr richtig gekleidet.“ Araigne musterte sie von oben bis unten. „Was in Lederrichtung? Oder gleich in SM? Lack? Halsbänder? Ich hätte auch was mit Glitzer in allen Farben des Regenbogens. Aufgrund von Melodys Vorlieben …“
„Hey, Leute, ich bin noch da. Ignorier mich nicht, Araigne-Schätzchen!“
„… habe ich auch eine umfangreiche Garderobe samt Zubehör in dieser Richtung. Für langfristige Investitionen sind maßgeschneiderte Modelle möglich. Einschließlich der Schuhe.“
„Ich werde keinen Fummel anziehen“, entfleuchte es Marvin und er war erschrocken über den Hass in seiner eigenen Stimme. Cecil wandte sich ihm zu, musterte ihn und schaute dann Araigne an. „Ich denke, wir nehmen das Angebot wahr.“ An ihn gewandt, sagte er: „Komm, Marvin! Schauen wir uns um.“
Marvin wollte sich kurz widersetzen, aber der Blick Cecils ließ ihn innehalten. Bald darauf fand er sich in Reihen von Klamotten wieder, die bis weit unter die Decke reichten. Wer auch immer dort etwas finden wollte, würde eine Leiter benötigen.
Cecil drängte ihn in eine Ecke und Samt streifte seine Haut.
Er rechnete damit, dass dieser ihn anfauchen würde. Doch er berührte ihn nur an der Wange. „Was ist mit dir los?“, fragte er. „Melody hat einen Fehler gemacht. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass das dein Problem ist.“
„Nenn ihn nicht Melody!“, gab Marvin leise von sich – und hoffte, dass niemand ihn hören konnte. Es war schon peinlich genug.
„Wieso nicht?“
„Er ist ein Kerl!“
Cecil wich ein wenig zurück und ließ ihm damit Luft und Raum. „Verstehe“, sagte er. „Du hast ein Problem mit ihrer Wahl!“
„Mit seiner!“
Cecil lächelte. „Mit ihrer. Du musst sie nicht mögen. Aber sie hat Respekt verdient wie jeder anderer auch. Und sie hätte uns sitzen lassen können. Angesichts der etwas chaotischen Lage hätte sie sogar eine Ausrede gehabt. Sie hat uns den Arsch gerettet. Darüber hinaus, sie hat gewählt eine Drag zu sein, in dem Moment, als sie die Sachen anlegte. Ich respektiere das. Wenn du Probleme damit hast, versuch ihr aus dem Weg zu gehen. Ich denke aber, dass es dir besser geht, wenn du endlich tanzen kannst. Auf der Bühne stehst. Ich dachte, der Fick würde dir helfen. Aber du bist immer noch so unruhig wie Quecksilber. Wenn du tanzen kannst, bist du vielleicht auch nicht mehr so eifersüchtig.“
„Ich bin nicht eifersüchtig!“, fuhr Marvin auf. Er konnte die Peinlichkeit des Gesprächs nicht fassen. Er war nicht … er war unruhig wie Quecksilber. Gepeinigt atmete er tief ein und wieder aus.
Cecil küsste ihn und lächelte. „Und wie eifersüchtig du bist. Ich glaube, ich liebe es. Es macht mich kribblig und Seth ist auch ganz angetan.“
Marvin riss die Augen auf.
„Ich habe mich gefragt, ob einer von euch beiden überhaupt zu Eifersucht in der Lage ist. Von mir weiß ich es noch nicht. Ich hatte bisher keine Beziehungen, die länger als eine Nacht hielten. Ich war mir nicht sicher, ob ich es hätte sein müssen. Nur, da war keine Eifersucht zwischen uns. Und jetzt glühst du geradezu.“
„Mistkerl! Kann es sein, dass du gerade ziemlich selbstzufrieden bist?“
Cecil grinste breit.
„Oh Gott!“ Marvin legte den Kopf in den Nacken und erstarrte, als Cecil ihn auf den Adamsapfel küsste. Ergeben schloss er die Augen und gab einen Seufzer von sich. Das tat gut.
Cecil umfasste sein Gesicht und zwang ihn, ihn wieder anzusehen. „Ich liebe dich, Marvin Parker. Jeden Aspekt deiner Persönlichkeit.“
„Auch den, dass ich Drags offenbar nicht mag?“
Cecil zuckte mit der Schulter. „Du musst sie nicht lieben. Bleib aber fair. Und es ist ihr Zuhause.“
Marvin nickte langsam.
„Kann es sein, dass du einfach nur Kerle in Frauenklamotten nicht magst? Weil sie …“
Marvin weigerte sich, darauf zu antworten und er ahnte, dass Cecil gerade an Helen dachte. Er musste sie kennengelernt haben, denn sie betreute bereits den VIP-Bereich, als er das erste Mal auf eine Bühne geschickt wurde. Er hatte nie viel mit ihr zu tun gehabt. Aber im Grunde war er auch froh darüber. Dessen ungeachtet, erschrak ihn die Heftigkeit seiner Reaktion. Es war, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Schultafel kratzen. Nur Cecil hatte recht: Melody konnte für seine Abneigung nichts. Besser, er riss sich zusammen.
„Lass uns einkaufen!“, schlug Cecil vor. „Araigne hat recht: Ohne die passende Garderobe wird sich zumindest ein Desaster wiederholen.“
Marvin ging darauf ein. Er blickte sich zusammen mit Cecil um. Das Geschäft war das Paradies auf Erden, wenn man auf Klamotten stand, die so gar nicht in einen gewöhnlichen Kleiderschrank passten. Weit ab von Anzug und Krawatte – fast. Eine Kleiderpuppe steckte in einem Herrenanzug. Schmal geschnitten. Er schillerte im Licht und veränderte die Farbe bei jedem neuen Blickwinkel und die schwarze Krawatte dazu war wie ein Faustschlag. Cecil betrachtete das Stück und ging weiter, ohne etwas zu kommentieren. Marvin merkte, dass er aufatmete. Cecils Aufmerksamkeit konnte intensiv sein und das war etwas, was er noch auslotete. Plötzlich blieb der aber stehen.
Von der gegenüberliegenden Seite erscholl ein leiser Seufzer. Ihm war etwas entgangen.
„Der Moment“, hörte er die whiskeydunkle Stimme Araignes irgendwo aus den Schatten heraus. „Dieser Bruchteil einer Sekunde. Dann, wenn man zum ersten Mal seinem Fetisch begegnet. Der Herzschlag setzt aus. Ein Schauer. Man leckt sich über die Lippen und man kann es nicht glauben.“ Araigne kam langsam herüber und stellte sich wie selbstverständlich an Cecils Seite, um mit ihm zu betrachten, was ihn dermaßen in den Bann geschlagen hatte. Marvin war neugierig und nahm die andere Seite. Effektvoll in Szene gestellt sahen sie auf einem Sockel einen Stiefel in einem kreischenden Rot. Silberne Schnallen zogen sich die arschhohen Schäfte entlang. Die Absätze waren schwindelerregend. Die Sohle bezogen in demselben Lackleder.
Cecil räusperte sich und schien sich verlegen abwenden zu wollen.
„Das, mein Lieber, ist ein Kink“, murmelte Araigne. „Ich habe die auch in deiner Größe und ich würde sagen, du ziehst sie an.“
„Ich kann darin nicht laufen“, murmelte Cecil und klang ausgesprochen missmutig.
„So schwer ist das nicht. Aber es erfordert Übung“, meinte Marvin und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Araigne schaute sehr interessiert. Nur Cecil nicht.
„Du hast damals welche getragen. Ich erinnere mich. Ich meine aber, es waren eher kurze Stiefel.“
„Stiefeletten!“, erläuterte Marvin. Jetzt war es auch zu spät. „Und bevor jemand fragt, ich werde keine anziehen. Sie sind bequem, wenn sie gut passen. Aber …“ Er stockte.
„Dann kannst du ihm zeigen, wie man darin läuft.“ Araigne zeigte kein Erbarmen. Sie ging zu einem Regal und inspizierte dessen Inhalt.
„Du willst darin laufen?“, fragte Marvin Cecil.
Dieser schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nur, dass ich nicht gefragt werde.“
„Es macht dich an.“
Cecil verschloss abrupt den Mund und Marvin musste lächeln. Er war schön. Cecil, der verlegen war. Der etwas wollte und sich doch dagegen sträubte. Sich etwas wünschte und sich gleichzeitig nicht traute.
„Mach es! Ich denke, das wird gut.“
Cecil sah ihn an. Verunsichert. Verwundert. Marvin unterdrückte einen Seufzer. Es war, als würde ihn ein kalter Hauch streifen. Araigne hatte recht: Seinen Fetisch zu finden, war aufregend. Aber auch beängstigend und Cecil hatte in den Sekunden, wo er entschied, etwas zu tun oder zu lassen, bisher immer den Hauch von Angst in sich getragen. Seth und er wussten davon. Wenn sich Cecil entschied, dann vollkommen und ganz. Doch der Moment bis dahin war ein Kampf, den er im Stillen mit sich ausfocht. Winzige Gesten, die erstarrten. Darauf warteten, dass sie zu Ende ausgeführt wurden. Der Blick, der sich im Inneren verlor. Das Wiederauftauchen. Als hätte Cecil eine Reise unternommen, ohne auch nur je den Raum verlassen zu haben.
Das Zugeben einer scheinbar banalen Schwäche. Wie jetzt, der Wunsch, ein paar Schuhe zu tragen, die von der Norm abwichen und die Cecil einen Reiz verschaffen würden, den er so noch nie in seinem Leben gespürt hatte. Gefühle, die er nicht zulassen konnte, weil sie ihn verletzlich machten.
Seth und er hatten nicht wieder über Cecils Vergewaltigung gesprochen. Cecil selbst sagte nichts und sie hatten nicht den Mut, ihn zu fragen.
Was die Schuhe mit ihm machen würden … Marvin musste zugeben, dass auch ihn die Furcht packte. Gefühle waren eine verdammt komplizierte Angelegenheit. Niemand konnte genau sagen, welche durch was auch immer ausgelöst wurden und was diese wiederum für Folgen hatten.
„Da habe ich sie ja!“ Araigne wandte sich zu ihnen um und lächelte triumphierend. Sie hatte einen großen Karton in der Hand. „Komm, ich helfe dir beim Anziehen.“
Cecil gab sich einen deutlichen Ruck, dann folgte er – und wirkte, als würde er unter Hypnose stehen. Marvin blieb wie eingefroren zurück.
„Los, komm, ich habe was für dich gefunden“, wurde er von Melody aufgestöbert. Marvin war kurz davor, einen Fluch auszustoßen. Melody kannte allerdings keine Gnade. Sie durchpflügte mit ihm den Laden und Marvin sah sich panisch nach Seth um, der jedoch irgendwie verschwunden schien. Wieso ließ er ihn mit dieser Naturgewalt allein?
„Ah, da ist es! Genau das, was dir und deinem kleinen Süßen stehen wird. Partnerlook sozusagen, und das Passende, Dunkle, Geheimnisvolle für den großen Starken. Oh, ich liebe euch drei. Ich bin im Himmel, wenn ich nur daran denke, was ihr für einen Auftritt haben werdet. Die richtigen Klamotten! Hach Gottchen, ich komme gleich in meinen dreifachen Pants mit tri-elastischer Faser. Die halten eigentlich supersicher alles hübsch an seinem Platz, musst du wissen, mein Schnuffi.“
„Könnten Sie dieses alberne Getue lassen, wenn wir allein sind? Sie können Ihr Schauspiel durchziehen, wenn Sie das Publikum dafür haben.“
„Da ist aber jemand so richtig grantig“, stellte Melody fest und klimperte mit ihren überlangen Wimpern. Sie stupste ihn mit ihren Fingern an. Wobei sie ihn eigentlich nicht im direkten Sinne berührte. Denn ihre Fingernägel schienen noch länger als ihre Wimpern zu sein und das war an sich bereits ein Wunder.
„Ich bin nicht grantig. Ich … es ist albern! Sie sind ein Mann im Fummel. Gut. Akzeptiert. Doch hören Sie verdammt noch mal auf, mich anzuquatschen und anzutatschen.“
Melody gefror in ihrer Bewegung und Marvin tat im gleichen Moment leid, was er gesagt hatte. Doch es war ausgesprochen. Der Gesichtsausdruck Melodys änderte sich und die Drag trat ein Stück zurück. Langsam glitt der Blick über seinen Körper bis hinunter zu den Schuhspitzen und dann wieder hinauf.
„Meiner unmaßgeblichen Meinung nach“, raunte Melody und ihre Stimme war eine ganze Nuance tiefer als bisher, „beleidigen einen die Menschen am gemeinsten, die selbst zutiefst verletzt worden sind. Was ist es bei dir? Hat man dich in Frauensachen gesteckt und dich gedemütigt? Weißt du, mein Süßer? Ich will es nicht wissen. Doch eines lass dir gesagt sein: Eine Dragqueen ist kein Mann im Fummel. Es ist eine Lebenseinstellung. Ein Statement. Mein Leben. Ich lasse mich nicht von einem dahergelaufenen Twink runtermachen.“
„Ich bin kein Twink“, hauchte Marvin.
„Nein, nicht mehr. Aber auch noch nicht lange raus.“ Melody zog die nachgemalten Augenbrauen zusammen. „Oh, oh, mein Kleiner. So viel Schmerz. Da hat dich aber jemand ganz tief getroffen. Trotzdem gibt dir das nicht das Recht, das letzte Arschloch zu sein. Kein Problem, wenn ich dich in Ruhe lassen soll. Das kannst du einfach sagen.“
„Es tut …“
„Klappe, Süßer. Wag es ja nicht, dich zu entschuldigen.“ Wieder tippte er oder sie ihn an. In Marvins Kopf geriet die Sicht auf Melody immer wieder durcheinander. „Das steht dir nicht zu. Ich werde die Entschuldigung nicht annehmen.“ Melody wandte sich ab und legte den Kopf in den Nacken. „Ich habe nicht vor, mir von dir den Abend verderben zu lassen. Wirst du dir jetzt die Sachen ansehen oder willst du weiterhin schmollen!“
„Ich schmolle nicht!“, zischte Marvin und sah sich einem Blick über die Schulter ausgesetzt.
„Wenn du Angst hast, ich würde dich in einen Fummel stecken, ist das nicht nötig. Das würde so gar nicht zu diesem dunkelhäutigen Schnuckiputzi und Gott des Krieges passen, dessen Entourage ihr bilden sollt. Du und der süße Kleine. Was für ein Bild. Zum Niederknien. Der reinste Zuck…“
„Nenn Seth nicht …“ Marvin blieb so langsam die Luft weg.
„Eifersucht steht dir. Es macht deine Wangen rot und dazu diese Haut und diese dunklen Haare und Augen, die voller Zorn glitzern. Hast du eine Ahnung, wie hinreißend du aussiehst, wenn du so richtig auf hundertachtzig bist? Gott, ist Liebe schön. Lass mich mehr davon sehen! Ich brauche dringend einen vierten Slip und noch mehr Tape. Das geht ja gar nicht! Eine Dame hat schließlich keinen Geigerzähler zwischen ihren Beinen, nicht wahr?“
Zu viele Informationen. Viel zu viele Informationen, jammerte Marvin. Plötzlich spürte er, dass er nicht mehr allein mit Melody war. Seth stand an seiner Seite und er lächelte dieses bunte Geschöpf an. „Darf ich meinen Mann entführen?“, fragte er überaus höflich.
Die Antwort kam nicht, denn Marvin schnappte nach Luft. Auf sehr unsicheren Schritten näherte sich gehalten von Araigne Cecil und er sah grandios aus. Da störte auch nicht das leichte Wackeln und die winzigen Schritte. Es war, als wäre ein Schleier fortgerissen worden. Als Cecil gewahr wurde, dass man ihn beobachtete, richtete er sich auf und in seine Gesten und seinen Blick kam eine Härte, die ihn noch anziehender machte. So sehr konnte Cecil gar nicht abweisend sein, als dass man nicht dann doch überlegte, sich ihm im Zweifel auf Knien zu nähern.
Araigne hatte ihm Shirt und Slip gelassen. Wahrscheinlich wäre die Wirkung noch umfassender gewesen, hätte Cecil nicht mehr als diese Stiefel getragen und der Rest wäre bar jeglichen Stoffes. Dass er erregt war, war auch so zu erkennen. Seth stieß alle Luft aus seinen Lungen. Seinen Kink zu erkennen, war ein magischer Moment. Für alle Beteiligten.