D as ist Mr. Gideon Sanders. Wir persönlich hatten noch nicht das Vergnügen mit ihm. Aber BB und Mercy hatten mit dessen Detektivbüro schon öfter eher unschöne Kontakte, wenn sie es auch vermieden haben, direkt auf dessen Radar zu erscheinen. Es gibt nicht nur den Verdacht, sondern auch Anhaltspunkte, dass er im Zusammenhang mit Menschenhandel und der Zuführung von Menschen in die Zwangsprostitution steht. Der Mann ist ein Freund der Familie Ward.“
Troys Gesicht, der sich aus Boston via Videokonferenz zugeschaltet hatte, war von Fotos bedeckt, während er sachlich aussprach, was Cecil wusste. Das Briefing ließ Cecil frieren. Er starrte auf das Gesicht des Mannes, von dem er gehofft hatte, dass er es nie wieder sehen würde. „Geiler Arsch. Du bist so eng!“
Cecil zitterte. Er hörte Troys Stimme in dem Rauschen seiner Erinnerungen nicht mehr, während er wie gebannt das Bild anstarrte. Das letzte Mal war der Schwanz des Mannes in der Nacht in ihm gewesen, als er vom Anwesen seines Stiefvaters und seiner Mutter geflohen war. Cecil presste seine Faust in den Mund. Kein Laut sollte über seine Lippen kommen. Wie konnte das geschehen? Er musste mit BB reden. Im Zweifel musste er Seth und Marvin zurücklassen. Er brachte sie allein durch seine bloße Anwesenheit in Gefahr. Wenn Sanders aber wusste, dass sie zusammen waren, dann würde es auch nicht helfen. Möglicherweise war es bereits zu spät. Dann mussten Marvin und Seth ebenfalls abtauchen.
„Cecil, geht es Ihnen nicht gut?“ Troys Stimme brachte ihn ins Hier und Jetzt zurück.
„Bitte sorgen Sie für Safe-Places für Marvin und Seth. Ich denke, es ist besser, wenn sich …“
„Cecil!“, rief Marvin.
„… unsere Wege trennen. So, wie es aussieht, gibt meine Familie nicht auf. Ich dachte, Charles wäre außer Gefecht.“
„Das ist immer noch so. Laut unseren Informationen befindet er sich in der Reha. Seine Prognose ist gut. Doch er ist noch lange nicht in der Lage, die Firmengeschäfte zu übernehmen, und soweit ich das sehe, wird man es auch nicht mehr zulassen. So wie es aussieht, hat Ihr Bruder die Suche nach Ihnen wieder in Gang gesetzt. Wie es ihm aber gelungen ist, Ihren Aufenthalt zu ermitteln, wissen wir nicht. Das sagte ich aber bereits.“
„Das kannst du nicht machen!“ Marvin schien, als stünde er kurz davor, zu explodieren. Noch nie hatte er so wütend ausgesehen.
„Falsch. Ich kann es, obwohl ich es nicht will. Ich sagte damals, dass es um Familienangelegenheiten geht, und darum geht es noch immer. Doch nicht ihr seid das Ziel. Ich bin es.“
„Es wird Zeit, dass du uns die ganze Geschichte erzählst“, sagte Seth so ruhig, als würden sie sich beim Frühstück über die besten Backwaren unterhalten.
„Das kann ich. Aber es ändert nichts am Ergebnis!“ Cecil erhob sich.
„Kerry, Troy, bitte gebt uns eine Auszeit.“
„Kein Problem, Seth. Laut meinen Analysten seid ihr die nächsten sechsunddreißig Stunden in dem Safe-House erst einmal sicher. Doch dann müssen wir Entscheidungen treffen. Ich muss euch darum bitten, das Appartement nicht zu verlassen. Bis wir nicht das Sicherheitsleck gefunden haben, ist alles ein unkalkulierbares Risiko.“
„Hat einer der Bodyguards, die bei uns sind, etwas …“
„Nein! Die Leute, die bei euch sind, wurden noch einmal zehnfach gecheckt. Die, die sonst bei euch sind, lasse ich gerade überprüfen. Es tut mir leid, aktuell kann ich nicht sagen, wo sich das Leck befindet. Aber ich werde alles tun, um das Loch zu stopfen, Seth. Cecil ist begehrt und es könnte Geld geflossen sein, um seinen Aufenthalt zu erfahren. Die Befreiungsaktion ist meines Erachtens sauber gelaufen. Sowohl die von Cecil wie auch eure. Nachvollziehbare Spuren hat es da nicht gegeben …“
Cecil hörte nicht mehr zu. Er ging mit steifen Schritten in das Schlafzimmer. Sie befanden sich in einem der vielen Häuser im Flatiron-Distrikt. Einer dicht besiedelten Gegend und sie durften keinen Fuß vor die Tür setzen. Das Essen wurde von Troys Leuten gebracht. Die Bestellungen wurden ebenfalls von diesen aufgegeben und entgegengenommen. Es gab weder für Cecil noch für Marvin eine direkte Verbindung mit der Außenwelt. Auch Seth und Kerry ließen sich vorsichtshalber nicht blicken. Niemand bekam sie zu Gesicht, wenn jemand an der Tür klingelte. Yvonne nahm alles an und sorgte für den weiteren Informationsfluss sowie ihre direkte Sicherheit. Sie trug Jeans und Shirt und ihre Haare fielen in weichen Locken auf die Schulter. Wenn sie an die Tür ging, dann steckte in ihrem Hosenbund eine 45er. Damit würde sie ein Loch im Leib desjenigen hinterlassen, der sich über sie gewaltsam Zutritt verschaffen wollte. Yvonne war das offizielle Gesicht dieses Appartements.
Es war alles wie schon vor Jahren. Die Zeit der Flucht. Nur, dass er dieses Mal mit Männern zusammen war, die er liebte. Wie hatte er sich darauf nur einlassen können? Seinen Gefühlen nachzugeben war ein großer Fehler gewesen und doch war er nicht dazu in der Lage, sie von sich zu schieben. Doch er musste!
Unruhig lief Cecil auf und ab und er merkte erst, dass er nicht mehr allein war, als sich ihm jemand in den Weg stellte. Erst begriff er nicht, wer es war, dann zuckte er zusammen. „Bitte lass mich in Ruhe“, sagte er zu Seth. Ein Teil von ihm ahnte, dass sich dieser Mann nicht vertreiben ließ.
Er erinnerte sich nur zu gut an ihr erstes Zusammensein in dieser billigen Absteige in Boston und die Bestimmtheit, mit der Seth ihn dazu gebracht hatte, zu tun, was er für richtig hielt. Wie sollte er ihn davon abhalten, mit ihm den Weg gemeinsam zu gehen? Dabei wusste er doch bereits mehr als genug. Sehr viel gab es da nicht mehr zu erraten.
„Ich werde dich nicht in Ruhe lassen“, stellte Seth klar und Cecil hatte Probleme, ihm zu folgen. Seine Gedanken flogen und er konnte sich nur schwer auf etwas konzentrieren. Stumm nahm er seinen Lauf wieder auf, während seine Hände über seinen Körper huschten und er sich innerlich der Grenze näherte, ab der er sich die Haut vom Leib kratzte. Er wollte sich jetzt schon unter die Dusche stellen und dieser Wunsch wurde von Sekunde zu Sekunde stärker, sodass er leise aufstöhnte, als Seth sich erneut in seinen Weg stellte. Der Zwang war stark wie schon lange nicht mehr. Für Sekunden fragte er sich, ob er nicht irgendwo in der Wohnung Alkohol finden würde. Aber davon konnte er nicht ausgehen. Keine der bisherigen Zufluchten war mit Alkohol oder Drogen bestückt gewesen. Das entsprach seiner eigenen Anweisung.
„Dann lass mich nicht in Ruhe“, zischte Cecil. „Nur geh mir aus dem Weg!“ Für Bruchteile von Sekunden sah es aus, als wollte Seth ihn berühren, und Cecil schrie auf. Von einem Moment zum anderen hatte ihn die Panik gepackt und er starrte Seth aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Arme hatte er eng um sich geschlungen, um zu schützen, was er nicht mehr schützen konnte. Es brauchte weitere wertvolle Sekunden, bis der Flash vorbei war und er in Seth Seth erkannte und nicht irgendeinen der Typen, die ihn auf sein Zimmer verschleppen wollten, um den neuesten Geschäftsabschluss seines Vaters auf ihre Art zu feiern.
Seth sank vor Cecil auf die Knie. Der sah ihn fassungslos an. „Es tut mir leid“, wisperte Cecil. „Ich … ich … bitte geh! Ich kann nicht. Bitte. Ich …“
Seth hielt ihm seine Hand entgegen. Nicht mehr. Einfach nur seine Hand. Cecil zitterte. Er wollte weglaufen. Irgendwohin, wo ihn niemand kannte. Sich verstecken, bis alles vorbei war und die Gefühle aufhörten, ihn mitzureißen, bis nichts mehr von dem blieb, was er sich mühevoll die letzten Wochen angeeignet hatte. Seine Wangen brannten vor Scham. Wieso war er so schwach? Es war leicht gewesen zu lachen. So leicht zu lieben. Und jetzt? Jetzt wusste er nicht einmal mehr, wie man vernünftig atmete.
Er sah dabei zu, wie seine eigene Hand die von Seth suchte. Warm und trocken war sie. Man fühlte ein paar Schwielen. Nicht viele. Seth hatte nicht schwer arbeiten müssen. Aber es war nicht die Hand eines Mannes, der nicht wusste, wie man zupackte. Die meiste Hornhaut stammte von seinem aktuellen Training. Er war stark. Ein Versprechen, das er Cecil ohne Worte gab. Das er ihm bereits an diesem einen Morgen in Boston gegeben hatte. Er war da. Wenn er es wollte. Doch er musste es sagen. Irgendwie. Diese winzige Klippe überwinden, die so hoch wie ein Gebirge war, dass nur pure Gewalt, so schien es, sie überrennen konnte.
Wieso war es nur so unendlich schwer? Als ob er vergessen hätte, wie man lief, setzte er steif einen Fuß vor den anderen.
„Marvin, kannst du mir bitte die Decke vom Bett bringen“, erfragte Seth mit rauer Stimme, ohne ihn dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Marvin, eindeutig schockiert, brachte das Verlangte. „Leg sie mir so hin, dass ich Cecil damit einwickeln kann“, erbat Seth und Marvin überlegte kurz, dann öffnete er sie und legte sie Seth über Arm und Schoß und vermied es instinktiv, auch nur einen der beiden zu berühren. Dann wich er zurück.
Cecil gab ein Geräusch beim Atmen von sich, bei dem er sich selbst fürchtete. Aber Seth hob nur das andere Ende der Decke an und als Cecil bei ihm war, schlug er sie in einer fließenden Bewegung um ihn. Cecil schrie auf. Panisch. Er konnte sich nicht bewegen. Ausgeliefert einer Kraft, der er nichts entgegensetzen konnte. Dann war es still. Er hörte nur noch die angespannten Atemgeräusche Seths, Marvins und seine eigenen. Er lehnte halb gegen Seth, halb lag er. Seths Gesicht war über ihm. Viel zu nahe. Alles war viel zu nahe. Lautlos bewegte Cecil seine Lippen, ohne etwas sagen zu können.
„Es ist Zeit“, flüsterte Seth und klang dabei so ernst, dass Cecil versucht war, ihn zu trösten. Aber wie sollte er das tun? Er konnte sich kaum mehr bewegen. Dafür spürte er, dass Wärme von Seth zu ihm drang. Langsam und schwach, aber stetig. Dessen ruhiger und gleichmäßiger Atem. Daran konnte er sich halten, denn mehr Realität konnte er gerade nicht dingfest machen.
„Es vergiftet dich und ich werde das nicht zulassen. Hast du mich verstanden, Cecil?“
Irgendwie ja und doch sträubte sich in Cecil alles. Er wollte sich aus dem Kokon befreien und fliehen. Aber ihm fehlte die Kraft. Es hätte alles gut sein können. Doch ein einziges Bild katapultierte ihn so tief in die Vergangenheit, dass er nicht mehr wusste, ob draußen Tag oder Nacht war.
„Ich weiß nicht, ob ich es kann.“ Cecil merkte im gleichen Moment, wie etwas in ihm nachgab. Es war so einfach. Er musste nur loslassen und alles aufgeben. Aber dann würde der Damm brechen, den er mühevoll aufgebaut hatte. Und was würden Seth und Marvin denken? Er brauchte kein Mitleid und genau das war es, was er befürchtete. Invalide. Zerstört und beschmutzt. Ein kaputtes Spielzeug von alten Männern, das ihnen vor die Füße gespült worden war. Der Widerstand wuchs in ihm.
„Nein!“, flüsterte Seth. In ängstlicher Erwartung blickte Cecil zu ihm auf. „Komm zu mir“, wisperte Seth einladend. Hinter sich hörte Cecil, wie Marvin zittrig seufzte und er begriff, dass der die Luft angehalten haben musste.
Das war lächerlich. Wie hatte sich die Atmosphäre so verdichten können? Wie hatte er zum Mittelpunkt werden können? Es war lachhaft! Ihm ging es gut. Irgendwie ging es ihm nach jedem Zusammenbruch gut und das würde auch jetzt sein. Aber Seth war ihm immer noch nahe.
„Komm zu mir!“, wiederholte Seth und seine Stimme war fester geworden. Es war ein Befehl. Doch keiner, der ihn dazu bringen sollte, sich auf den Bauch zu drehen, wenn er ihm folgte. Nein, das hier war schlimmer. Er sollte seine Wunden offenbaren. Sie würden sie sehen und das Furchtbare daran war, dass er sie selbst nicht einmal alle sehen konnte. Er war unglaublich blind sich selbst gegenüber.
Cecil leckte sich über die Lippen, die ihm wund und trocken vorkamen. Hinter ihm raschelte es und auf einmal war da Marvin, der ihm eine Flasche an die Lippen hielt. Automatisch trank er und es war reine, pure, kühle Labsal.
„Ich will kein Mitleid“, rutschte es ihm als Erstes über die Lippen.
„Das wirst du nicht bekommen“, sagte Seth und es hätte hart klingen können. Es war ein Versprechen. Nicht mehr und nicht weniger. „Aber ich werde dich festhalten, wenn du dich wehrst. Halten, wenn du weinst, und es ist mir egal, ob du kämpfst oder ruhig daliegst. Aber du wirst reden. Heute. Nicht morgen. Heute! Denn wir wissen alle, was mit dir ist. Und nein, das entbindet dich nicht davon, es auszusprechen. Denn es ist nicht egal. Es zerfrisst dich und es wird dich letztlich zerstören. Das werde ich nicht zulassen. Egal, wie lange es dauert, wir werden hier gemeinsam warten.“
Cecil schloss kurz die Augen. Zu sehr erinnerte ihn das an die Situation im Hotel. Auch da hatte Seth gewartet. Mit dem Unterschied, dass dieses Mal sein Körper nicht entblößt vor ihm lag.
„Es gibt nicht viel zu sagen“, murmelte er matt. „Ich war das Amuse-Gueule und das Dessert für die Geschäftspartner meines Vaters. Onkel Gideon, wie ich ihn nennen sollte, war zudem ein guter Freund. Er besuchte mich öfter.“ Cecil schluckte und drehte seinen Kopf weg. So konnte er sich ein wenig verbergen. Scham brannte in ihm und schlug sich auf seinen Wangen nieder. Sie glühten heiß. Er wollte weg, aber er würde sich dennoch nicht von Seth fortbewegen. Dessen Griff, der eher unnachgiebig gewesen war, wurde weicher. Er korrigierte seine Haltung und auf einmal saß Cecil eher, als dass er lag. Er fand seinen Kopf gegen Seths Hals gelehnt.
„Was haben sie mit dir gemacht?“
Marvin gab einen erstickten Laut von sich. Cecil erkannte, dass er die Hände unruhig bewegte, und auf einmal kam in Seth Bewegung. Er berührte auch Marvin und dieser schaute überrascht auf. Sichtlich nervös nickte er dann Seth zu.
„Was sollen sie schon gemacht haben?“, hauchte Cecil, der ahnte, was Marvin gerade bewegte. So viel Schmerz. Es machte ihn wütend und verzweifelt zugleich. Wie hatte man Marvin das antun können? Sein eigenes Leid, er konnte es überwinden. Irgendwie war ihm das immer gelungen. Aber er konnte es nicht ertragen, was man Marvin angetan hatte. Hilfe suchend sah er zu Seth auf, aber der gab ihm kein Indiz dessen, was er dachte. Kein Stirnrunzeln. Gar nichts.
„Gefickt“, setzte er seinen Bericht fort, ohne von Marvin lassen zu können. Ihn zu betrachten und gleichzeitig zu erzählen, war eines. „Sie haben mich gefickt. Ich war ein Geschenk. Als Tante Heather und ich in Sicherheit waren, hat sie mich zu einem Arzt gebracht, der sich mich näher anschaute. Er sagte, dass ich seit meiner frühesten Kindheit missbraucht worden bin. Beinahe hätte sie das in Schwierigkeiten gebracht. Aber sie fand Ärzte, die mich behandelten. Die Narben laserten. Alles geschmeidiger machten. Es war …“ Cecil versuchte sich abrupt aus Seths Umarmung zu befreien, nur daraus wurde nichts. Seth blieb, wie er war: stoisch.
„Ich kann mich nicht erinnern“, flüsterte Cecil. „Ich kann mich nicht daran erinnern. Es ist zu lange her und das andere ist zu nahe“, sagte er lauter. „Ich weiß nicht, was du hören willst. Die klarste Erinnerung, die ich habe, ist die aus der Nacht, als ich floh. Ich hatte Drogen intus. Mein Vater … ich wollte ihn nicht mehr Vater nennen. Ich, nein, er hielt mich gern benebelt und nachgiebig, damit ich stöhnte und nicht schrie, wenn sie mich aufspießten. Sie hat es gesehen. Meine Mutter hatte es gesehen, aber sie konnte nichts tun. Sie war da gewesen. Immer wieder und sie klopfte gegen den Türrahmen. Manchmal. Aber meist stand sie nur da und ich sah sie. Aber der Arzt sagte, dass ich noch sehr viel jünger gewesen sein muss. Zu alte Narben. Zu tief. Zu viele. Und keine Erinnerungen. Sagte die Therapeutin. Zu wenig Erinnerungen für einen fünfzehnjährigen Jungen. Zu große Lücken, die sich nicht schließen ließen. Was willst du hören, Seth? Ich bin gefickt worden und ich habe es vergessen. Aber ich habe nicht alles vergessen und ich habe Angst. Angst um euch. Um alle, die ich liebe. Ich habe Heather verloren, weil Charles mich zurückwollte. Sie hätte behandelt werden können, wenn wir nicht hätten fliehen müssen. Sie brauchte Ruhe. Sie starb allein und ich hoffe nur, dass er ihr nicht wehgetan hat. Es quält mich, das nicht zu wissen. Aber ich werde ihn nicht fragen. Denn dieser Mann ist nicht mein Vater. Er ist nie mein Vater gewesen. Er ist mein Zuhälter gewesen, der mich für einen guten Gewinn verkauft hat. Für seine Firma und für seinen richtigen Sohn. Der, der eines Tages alles erben würde. Aber …“ Cecil hielt inne. Den Mund geöffnet.
Er begriff, dass alles wie ein Schwall Wasser aus seinem Innersten gekommen war. Nicht aufzuhalten und so abgehackt und laut, dass er sich fragte, wer das alles gehört haben konnte.
Seth beugte sich zu ihm und der große Mann verbarg sein Gesicht bei ihm. Cecil starrte fassungslos auf den dunklen Schopf. Spürte die kurzen, krausen Haare auf seiner Haut und lehnte dann seine Stirn gegen ihn. „Oh Gott“, flüsterte er. „Ich hätte …“
„Du musst noch sehr viel mehr sagen“, hörte er Seth dumpf und er merkte, dass er wieder aufschauen wollte. „Sehr viel mehr. Aber das war gut. Für den Moment war es gut. Und ich bringe dieses Monster um!“
Cecil blinzelte überrascht. „Charles?“
„Heißt der Mann so, der dich verkauft hat?“
Cecil fühlte Wärme in sich aufsteigen. Seth sagte nicht mehr Vater und auch nicht Stiefvater . Sondern nannte ihn auf die Art, die ihn weit besser beschrieb. Einen Verbrecher und Menschenhändler. Einen Sklavenhalter. Ein Monster. Kein Mensch unter Menschen.
„Ja, Charles Ward. Der Mann, von dem ich lange Zeit glaubte, er wäre mein Vater. Oh Gott!“ Cecil überlief es kalt.
„Was?“, fragte Marvin. „Erinnerst du dich an etwas?“
Cecil schüttelte den Kopf. „Ich hatte vorgehabt, mich in den Charles zu stürzen, als ich einundzwanzig geworden bin. In der Nacht, als ich euch das erste Mal traf. Das ist mir gerade eingefallen. Das ist …“
„Sehr seltsam“, meinte Marvin und es klang irgendwie trocken. Cecil sah ihn an. Der Mann, den er das erste Mal fast so nackt gesehen hatte, wie Gott ihn schuf, und so aufreizend, wie sein Eigentümer ihn zu sehen wünschte, lächelte und es war der schönste Anblick, den er sich vorstellen konnte.
„Ja, sehr seltsam“, stimmte Cecil zu und es war leicht, das zu sagen, und dann musste auch er grinsen. Er fühlte sich müde und zutiefst erschöpft. Aber es tat gut, dass sich auf einmal die Wolken verzogen und seine Gefühle in ruhiges Fahrwasser kamen. Er schloss für einen Moment die Augen, als ihn Seth auf die Schläfe küsste.
„Erzähl noch mehr!“, forderte er ihn auf.
„Mir geht es wieder gut“, protestierte Cecil.
„Das sehe ich. Aber es wäre gut zu wissen, wo wir alle stehen und ich denke, du hast noch keinem so richtig alles erzählt. Hier ein Stück. Da ein Stück. Wenn es nicht mehr anders ging, wie gerade jetzt.“
„Kann … kann ich …“ Cecil bewegte sich unruhig und Seth ließ zu, dass er sich aus dem Kokon aus Decke und Armen befreite. Es war deutlich kühler, aber es half ihm. Seltsamerweise war es genau richtig gewesen, ihn zu wärmen. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er innerlich eingefroren gewesen war, als er „Onkel Gideon“ gesehen hatte. Doch das war jetzt vorbei. Was er brauchte, war Raum um sich und die Gewissheit, dass Seth oder Marvin ihn notfalls erneut einwickeln würden. Cecil atmete tief durch.
„Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere“, begann er leise zu berichten, „ist es, als gäbe es da nur ein schwarzes Loch. Wenige Erinnerungen. Viele dunkle Bereiche. Ich weiß nur, dass ich Angst davor habe, dort hinzugehen. Ich muss elf oder zwölf gewesen sein, als ich das erste Mal aufgespießt wurde. Es war Onkel Gideon und er sagte mir, was ich für ein braver Junge sei. Charles, von dem ich damals noch dachte, er wäre mein Vater, hatte mir Drogen in den Tee gegeben. Ich glaubte, dass die Schatten länger wurden und das Licht glitzerte. Mir tat alles weh und Onkel Gideon biss mir in die Lippe, bis ich Blut schmeckte. David hat mich damals im Bad versorgt und ich weiß, dass Charles etwas zu ihm gesagt hatte. Niemals sagte David nur ein Wort und doch … Wenn Charles nicht da war, dann nahm er mich in die Küche. Gab mir mein Lieblingsessen und irgendwann hörte ich ihn sagen: Du musst fort von hier. Ob er mich meinte oder sich selbst, wusste ich damals nicht. Aber ich bekam seine Tagebücher, als ich damals floh. Ich hatte viele Wochen alles vorbereitet. Ich hatte Kontakt zu meiner Tante Heather aufgenommen und sie Kontakt zu Leuten, die Menschen helfen, die nicht fliehen können. Denen das System nicht hilft. In der Nacht und in den Wochen davor hatte Charles eine Menge Geschäfte abgeschlossen und sie feierten unten im Salon. Ich hatte über das Darknet ein paar Einkäufe getätigt. Software. Als mein letzter Kunde ging, verseuchte ich den Laptop von Charles mit einem Virus und erleichterte seine Privatkonten und zwei der Firmenkonten um mehrere Millionen. Geld, das ihm fehlen würde. Geld, das ich verdient hatte. Später erfuhr ich, dass er mich sehr jung anschaffen ließ. In Davids Aufzeichnungen steht das, was mir an Erinnerungen fehlt. David ist der Butler im Haus gewesen und er ist tot. Er starb drei Jahre nachdem ich geflohen bin. Soweit ich weiß, hatte er kurz nach meiner Flucht gekündigt. Das ist es im Wesentlichen. Als ich in die Staaten zurückkam, war es wegen Heather. Sie hatte mich adoptiert und wir nahmen den Namen einer Vorfahrin an. Boyd. Ich wurde ihr Sohn und sie meine Mutter. Denn ihr Mann war im Grunde sowieso mein Vater. Ich hätte ihr Sohn sein sollen, wie ich der Sohn ihres Mannes war. Ich bin nie ein Ward gewesen. Heather ist die Schwester von Charles und Heather hat ihren Bruder gehasst.“
„Konnte niemand dir helfen?“, fragte Marvin leise.
Cecil schüttelte den Kopf, bevor er antwortete: „Meine Kunden kamen von überall her. Ich glaube, der eine war der Polizeichef. Ich bin mir manchmal nicht sicher. Aber ich sah ihn im Garten und da waren viele Kinder. Und es gab noch andere Männer, die in diesem Garten waren. Manchmal wache ich aus meinen Träumen auf. Ich bin dort zwischen all den Rabatten und sehe die Kinder, die so alt und auch jünger sind wie ich. Und keines lacht. Es ist still. Nicht einmal die Vögel singen. Eine Biene fliegt an mir vorbei. Ich höre die Männer lachen und auf die Kinder zeigen und ich habe Angst. Heather erzählte mir später, dass sie vor der Flucht eine Drohung von ihrem Bruder erhalten habe. Zugestellt über Onkel Gideon . Wir konnten nur fliehen. Sie wäre ins Gefängnis gekommen und ich wäre wieder in die liebende Obhut meines Vaters überstellt worden. Niemand hätte uns geholfen.“
„Scheiße!“, flüsterte Marvin. „Das ist ganz große Scheiße.“
Cecil blickte erst ihn und dann Seth an. Dessen Gesichtsausdruck machte ihm Angst. Doch als Seth bemerkte, dass er dessen Gefühle lesen konnte, änderte sich seine Mimik von einer Sekunde zur anderen. Seth berührte ihn mit den Fingerspitzen und Cecil griff beherzt zu, zog die Hand an seine Wange. Der Hass, den Seth gezeigt hatte, dieser tiefe Hass, war nichts, was er je in seinem Gefährten vermutet hätte. Zu sehr konnte Seth verbergen, was ihn bewegte, und das war in der Tat beängstigend.
Er wusste so wenig über Seth und Marvin und gleichzeitig überlegte er, wie er sie beschützen konnte, indem er einfach ging und sie alle vor seiner Vergangenheit schützen konnte.