C ecil hatte eine Pause gebraucht. Sein Schädel brummte und er hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Irgendwann war er eingeschlafen und als er zerschlagen erwachte, lag er in den Armen Marvins. Offenbar war es ihm bei der ganzen Diskussion genauso ergangen. Oder sie hatten eine Lösung gefunden. Troy, dessen Analysten sowie Seth und Eliot. Ab und an hatte sich Key eingemischt und Informationen geliefert. Es war anstrengend, all den Gedankengängen zu folgen.
Vorsichtig machte sich Cecil von Marvin los und lauschte. Es musste Mitternacht sein. Er hörte niemanden mehr. Aber Seth war nicht bei ihm. Wahrscheinlich hatten sie sich in eines der anderen Appartements in ein Schlafzimmer zurückgezogen, um sie nicht zu stören. Er stand auf, betrachtete Marvin und musste lächeln. Wie so häufig, wenn er ihn sah und die Muße hatte, ihn zu betrachten.
Die Unruhe, die ihn geweckt hatte, war ein Albtraum gewesen. Das kannte er und besser war, er lief ein wenig herum. Für einen Moment erinnerte er sich an die unzähligen Hotels, die er durchstreift, an die vielen Fenster, aus denen er auf die Welt geblickt hatte. Sekundenlang glaubte er, Tante Heather zu spüren, wie sie ihm durchs Haar strich. Der Frieden hielt jedoch nicht lange.
Zorn brandete in ihm auf. Über die Ungerechtigkeit und die Worte, mit denen Charles ihn beschuldigt hatte, eine ständige Prüfung für ihn zu sein und die er durch ihn hätte erdulden müssen. Wie oft hatte er dabei Gott als seinen Zeugen angerufen.
Cecil musste sich abstützen und seine Hand fand Halt an der kalten Fensterscheibe. „Du bist schwach“, hörte er Charles sagen, als würde er es ihm ins Ohr flüstern. „Zu weiblich. Du widerst mich mit deinen weiblichen Attitüden an.“ Er hatte damals nicht einmal gewusst, was eine Attitüde ist, und was an seinem Wesen weiblich. Heute sah er es, wenn er in den Spiegel blickte, und es war ihm mit aller Härte glasklar vor Augen geführt worden, als er die konventionelle Schale abgestreift und ein Halsband angelegt hatte.
Er hatte es als zutiefst wahr erkannt. Mit diesen großartigen High Heels an seinen Füßen. Es hatte ihn angemacht. Es war erregend und aufregend gewesen. Etwas in ihm war an den richtigen Platz gerückt. Er war keine Frau und er würde niemals eine sein. Er mochte es, sich in Anzüge zu kleiden. Aber da gab es weit mehr in ihm. Zum ersten Mal hatte er seinen Anblick gemocht, und das war beängstigend gewesen.
Doch das, was er im Spiegel gesehen hatte, machte ihm auch klar, was die Menschen in ihm sahen. Was sie in ihm erkannten, lange bevor er es gewusst hatte. Er war ein Mann. Sein Äußeres gab das nur nicht wieder, egal wie sehr er sich anzupassen versucht hatte. Und sein Inneres jubilierte, wenn er die Grenzen durchbrach. Das war nicht normal und wäre er ein anderer Mensch gewesen, er hätte sich selbst gehasst. So war er irritiert und fragte sich, wie sehr er das nicht hatte erkennen können.
Er war in seinem Äußeren beides. Alles lag nahe beieinander. Wenn er die Attribute mischte, war nur noch schwer festzustellen, ob er weiblich oder männlich war. Einen Adamsapfel, eine flache Brust und dann Schuhe, die so weiblich waren, wie es in seiner Kultur nur möglich war.
Cecil fühlte sich unvermittelt schuldig. Charles hatte recht gehabt. Er war das, was er ihm immer an den Kopf geworfen hatte: ein zutiefst sündiges Geschöpf der Verführung und seine Peiniger wollten ihn wieder. Aber hatte er nicht das Recht, seine eigene Sünde zu leben? Nach eigenen Regeln?
Er wollte Marvin und Seth lieben. Charles konnte in die Hölle fahren, wohin er seines Erachtens hingehörte. Dieser Mann würde auf ewig der Gefängniswärter seines Lebens sein und alles in Cecil begehrte dagegen auf. Warum nur sah sich diese Bestie dazu berufen, ein Kind für seine bloße Existenz zu bestrafen? Schließlich hatte der ihn doch selbst erschaffen. Lag darin nicht die ganze Ironie und die Tragik?
Cecil schob den Gedanken an Gott und Charles unwillig zur Seite. Gott hatte keine Lösung für ihn. Hatte er nie gehabt. Die Worte, die die Männer geführt hatten, die sie in seinem Namen über ihn gesprochen hatten, waren nur dazu da gewesen, um ihn zu quälen und gefügig zu machen. Er ließ sich hart auf die gepolsterte Fensterbank fallen.
„Du bist ein kleines, sündiges Fickstück“, flüsterte Gideon Sanders besonders gern. „Dein Vater sagt, du musst bestraft werden. Bete, Cecil. Bete und bitte darum, dass ich dir ganz doll wehtun soll für deine Sünden. Dein süßes Fleisch verführt mich. Daran bist du schuld. Sieh, was du mit mir machst! Mein hartes Fleisch will in dir sein. Du machst mich heiß und du allein bist daran schuld. Also nimm die Sünde in dich auf, du kleine Schlampe. Das ist doch, was du willst!“
Cecil stöhnte auf. Er war nicht schuld. Er war es nie gewesen. Aber in seinem Inneren war es, als würden immer wieder dieselben Saiten gezupft, deren Klang nur dazu da war, ihn zu quälen. Er wollte lieben. Er wollte berührt werden. Er wollte nicht den Schmutz in sich haben. Gab es irgendwen, der ihn halten konnte – auch dann, wenn er fiel und fiel und fiel?
Sein Verstand konnte noch so sehr schreien, dass er unschuldig war. Dass er nicht schmutzig sein konnte. Das da, was in ihm war, war anderer Meinung und er hatte gerade das Gefühl, dass er dagegen nicht ankam.
Er öffnete unvermittelt die Augen, als sich eine Hand – schwer und warm – auf seinem Bein wiederfand, die nicht die seinige war. Er hatte nicht bemerkt, wie er überhaupt die Augen geschlossen und noch weniger, dass sich ihm Marvin genähert hatte. Er muss irgendwann wach geworden sein. Erstaunt blickte er in dessen Augen. Marvin kniete halb vor ihm. Er trug den Duft von Duschgel an sich und war bis auf das Duschtuch, das er um seine Hüfte geschlungen hatte, nackt, wie ihn Gott geschaffen hatte. Er musste schon vor einiger Zeit wach geworden sein und er hatte es nicht bemerkt. Doch das war fast vergessen, denn er wollte Marvin nahe sein. Cecil konnte nicht verhindern, dass er sich über die Lippen leckte. Er war diesem Mann mit Haut und Haaren verfallen und ihm hilflos ausgeliefert und endlich traten der scharfe Stich der Schuld in den Hintergrund. Sein innerer Fall endete, weil er Marvin berühren konnte. Marvin fragte nicht, er gab sich ihm in die Hände, berührte ihn, legte sein Kinn auf dem Knie ab.
Cecil reagierte. Marvin wollte ihn und er mochte sich ihm nicht verweigern. Cecil konnte das Lächeln nur erwidern und streichelte sanft diese Lippen, die es verstanden, ihn so gekonnt zu küssen, sodass er glaubte in Flammen zu stehen, während die Lippen kühl und heiß zugleich zu sein schienen. Er zeichnete die kühnen Linien nach.
„Darf ich dich haben?“, fragte Marvin leise.
Cecil wunderte sich über die Wortwahl. Einerseits. Andererseits, sie und damit auch Marvin wussten so viel mehr über ihn, dass er sich wahrscheinlich nicht wundern sollte.
„Du darfst mich haben. Wie willst du mich?“
Marvin schmiegte sich an seinen Oberschenkel und gab einen Seufzer von sich. „Dein Schwanz in meinem Mund, dann in meinem Arsch.“ Er reichte ihm etwas hoch und Cecil nahm eine kleine Flasche mit Gel und ein Kondom entgegen. Ganz eindeutig wurde er verführt. Aber es gab Regeln und daher beugte er sich vor. Er blickte Marvin prüfend ins Gesicht. Er wollte keinen Fick aus Mitleid. Aber da war nur Begehren. Eine Frage, was er wünschte und warum er zögerte, und dann ein weiterer Seufzer. „Stell keine Fragen“, wisperte Marvin und richtete sich ein Stück auf, um dann ohne Umschweife den Reißverschluss der Hose runterzuziehen und Cecils Schwanz in die Freiheit zu entlassen. Marvin vergrub sich mit seiner Nase in den Schritt und wimmerte leise. Er war geil und mehr musste Cecil nicht wissen. Er brauchte ihn. Marvin brauchte ihn bei sich und Cecil fühlte, dass es ihm kaum anders ging. Die aufkeimende Einsamkeit verflüchtigte sich wie Nebel in der Morgensonne und er legte seinen Kopf in den Nacken, als Marvin ihn in den Mund nahm und ihn zu lutschen begann. Kühle wechselte mit Hitze, während sich der Mund samt Zunge talentiert um seinen Schwanz kümmerte. Cecil ließ seine Hand auf Marvins Schopf ruhen, streichelte ihn träge, ohne ihn anzutreiben. Das hier war weit abseits seiner aufwühlenden Gedanken. Trug nicht die Unruhe in sich, wenn Marvin sich nicht ausgelastet fühlte. Eher, als würde er ihm ein Geschenk machen. Marvin schenkte sich und Cecil seufzte, während die Hitze nicht nur seinen Unterleib erfasste, sondern seinen ganzen Körper. Unter dem Stoff sammelte sie sich und ließ ihn die Reibung besonders stark fühlen.
Marvin leckte unterhalb seines Schwanzes weiter und massierte die Hoden. Cecil keuchte und beobachtete ihn. Die Lippen rot und feucht. Die Wangen, die sich ebenfalls gerötet hatten und sich nach innen wölbten. Der Glanz in den Augen, als er kurz zu ihm aufschaute, um sich seiner zu vergewissern. Das war ein sündiges Geschöpf, aber aus freiem Willen und wunderschön, rein, großartig und so unglaublich begehrenswert. Und sein Mann. Oh, wie liebte er diese Bezeichnung, war sie doch so viel mehr als die Bezeichnung Freund. Es verband sie miteinander – auch ohne öffentlichen Segen. Sie brauchten nur einander und die Bestätigung vor sich selbst und was zeigte ihre Zugehörigkeit zueinander stärker, als sich als Mann des jeweils anderen zu betrachten?
„Ich will dich in mir“, flüsterte Marvin und klang rau und angespannt.
Cecil griff nach ein paar Kissen und warf sie auf den Boden. Das würde nicht gut halten. Aber die Fensterbank würde ihn eher bremsen. Marvin ließ sich zurücksinken und so wie er sich hingab, folgte Cecil ihm, bis die Beine seines Geliebten sich um ihn schlossen, um ihm das zu öffnen, was er gefüllt wünschte.
„Langsam“, wisperte Cecil und küsste ihn. Schmeckte sich dabei selbst. Das war gut. Mehr davon, jaulte seine Gier und er gab sich mehr, indem er Marvin Küsse im Gesicht schenkte und sich langsam über dessen Hals, die Brust bis zu dessen Bauch vor küsste. Marvin flüsterte leise Worte, die ihn anfeuerten. Cecil ließ sich dennoch Zeit, sich und Marvin vorzubereiten, dessen innere Hitze zu erkunden, bis dieser die Augen nach hinten drehte, seinen Leib spannte, als wollte er sofort unter ihm kommen. Doch Cecil kannte ihn. Noch nicht! So schnell nicht!
In der nächsten Sekunde aber ersetzte er Finger durch seinen Schwanz und drang in ihn ein, bis sich die Lippen Marvins in einem stummen Schrei öffneten. Nicht mehr als harscher Atem kam von ihm, dann aber machte er deutlich, was er wollte, und Cecil gab es ihm mit aller Kraft. Als sie schrien, war es gemeinsam. Cecil leise und Marvin laut. Cecil fand sich in dessen Halsbeuge wieder. Er spürte, wie Marvin die winzigen oder auch stärkeren Zuckungen seines Orgasmus durch sich hindurchtanzen ließ. Die Sehnsucht nach weiteren Küssen hieß Cecil, seinen Kurs wieder aufzunehmen. Doch dann verharrte er unvermittelt. Zwei Finger befanden sich an seinem Kinn und als er aufblickte, kam Seth zu ihm, küsste ihn mit den gleichen Gefühlen. Dann wandte er sich Marvin zu, dessen Finger über das vertraute Gesicht strichen, während er ihn zutiefst zufrieden anlächelte.
„Ich dachte, ihr würdet schlafen. Ich habe euch vermisst“, flüsterte Seth. Er bekam dafür ein zweifaches Lachen.
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Cecil seufzte und streckte sich verhalten. Offenbar war ihm kein Ausschlafen nach der doch recht kurzen Nacht vergönnt. Erneut war er aufgewacht, nur dass er dieses Mal nicht mit Marvin allein im Bett war. Bis zum Sonnenaufgang waren es sicher noch ein oder zwei Stunden. Zwielicht färbte das Firmament bereits grau und nahm ihm das ungesunde Rot der Stadtlichter. Leise, und mit so wenig Bewegung wie möglich, erhob er sich.
Er grüßte Kerry, der in einer dunklen Ecke Wache hielt. Er behielt dabei alles im Blick und neben ihm stand eine Tasse mit Kaffee. Die Maschine war noch warm und Cecil nahm sich selbst eine Tasse davon.
„Findest du das nicht abartig?“, durchschnitt eine für ihn noch immer fremd klingende Stimme die morgendliche Stille.
Cecil stockte und suchte sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Er hatte sich erschrocken. Eliot hatte er nicht bemerkt.
Cecil blickte hinüber zu Kerry, der sich nicht gerührt hatte. Er blickte ihn nur geradewegs an.
Cecil wandte sich langsam um und fand Eliot in einem der Sessel sitzen. Verachtung lag in dessen Gesicht. Und eine bittere Anklage. Nur Cecil verstand es nicht.
„Wie kannst du mit ihnen Sex haben?“, fragte Eliot und enthob ihn damit der Pflicht, nachzuhaken. Denn ihm war, als müsste er das tun.
Cecil ließ Kaffee Kaffee sein und trat näher. Eliot knipste die Lampe neben sich an und aus dem Zwielicht wurde ein scharfer Lichtkegel, der sich über ihn ergoss. „Sie haben uns gefickt. Geschändet. Und du vergnügst dich mit … Männern!“, spie Eliot voller Verachtung aus. In seinem Gesicht und seinen Gesten lagen so viel Hass und Abscheu. Doch am schlimmsten war die Anklage.
Cecil überlief es kalt. Sie waren nicht allein gewesen. Eliot musste sie gesehen haben und für einen Moment konnte er die Scham, die der Gedanke in ihm auslöste, nicht unterdrücken. „Ich liebe sie“, sagte er tonlos und fühlte sich schwach.
„Du liebst sie!“ Eliot erhob sich. „Hat dich dein Leid den Verstand gekostet, sodass du nicht merkst, wie du wiederholst, was sie dir angetan haben? Wie kann man bei Männern Liebe finden? Sie wollen nur Sex und ihnen ist egal, ob sie dabei einen Jungen oder ein Mädchen ficken.“
Cecil atmete tief durch. Die Beklemmung wollte nicht weichen.
„Ich verstehe es nicht“, fuhr Eliot ungerührt fort und trat auf ihn zu. „Es ist so abartig. Gegen die Natur. Schmutzig!“
„Halt den Mund“, wisperte Cecil.
„Ich kann den Mund nicht halten. Ich kann verstehen, dass du verwirrt bist. Sie haben dich umgedreht. Schwul gemacht …“
„Halt den Mund!“, wiederholte Cecil lauter und endlich fand er das, was er gesucht hatte, ohne es genau vorher zu wissen. Doch es war eine Welle, die ihn erfasste. Wut keimte auf und er nahm sie mit beiden Händen und fachte sie an. Das war es, was er brauchte. Niemand sagte ihm, dass seine Liebe falsch war. Seine Gefühle. Das, was Eliot sagte, war Unsinn. Er hatte sich zu sehr über sich selbst gewundert, als er das erste Mal in den Armen eines Mannes gelandet war. Wie hatte das nach all dem geschehen können? Er hatte es nicht verstanden und war angewidert gewesen. Das war vor langer Zeit gewesen. Er fühlte sich zu Männern hingezogen, egal was mit ihm geschehen war. Er war schwul und das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Das war weder schmutzig noch abnormal. Das wusste er und er hatte sich aus vielen Quellen dessen versichert, weil er es nicht hatte glauben wollen. Was ihm nur bis heute nicht in den Kopf ging, war, dass er unvermittelt auf Menschen hatte treffen können, denen er sich auch emotional hatte nähern können und die seine Gefühle erwiderten. Sex war ein Bedürfnis. Aber er bekam so viel mehr. Was hätte er je für ein größeres Geschenk bekommen können? Er würde sich das durch niemanden kaputtmachen lassen. Auch nicht von jemandem, der selbst tief verletzt war.
„Ich kann den Mund nicht halten. Ich kann dich nicht weitermachen lassen. Mit diesem …“
„Halt den Mund“, schrie Cecil endlich auf und es war, als würde er ein Tor mit einem Vorschlaghammer öffnen. Es war Befreiung und gleichzeitig purer Schmerz.
Eliot wich abrupt zurück, als hätte er ihn geschlagen. Er war weiß wie die Wand geworden und Cecil hörte, wie sich hinter ihm Kerry regte. Eliot wich ein wenig mehr vor ihm zurück und drehte sich dann um. Es war, als wäre er verwirrt.
Cecil sah, wie er in eines der vielen Gästezimmer ging und dann mit Nachdruck sehr leise die Tür schloss.
„Alles okay?“, fragte Kerry, der an Ort und Stelle stehen geblieben war, als Eliot sich zum Gehen angeschickt hatte.
Cecil drehte sich nicht um, als er nickte. „Alles okay“, flüsterte er.
Für Minuten hatte er sich nicht bewegen können. Er fühlte sich hohl und etwas drohte gerade in ihm zu zerbrechen. Der Boden wankte und ihm war schlecht. Es war, als hätten seine Gefühle alles mitgenommen.
„Er hat unrecht“, wisperte eine zweite Stimme durch die Stille. Ruhiger und ein wenig rau.
Cecil drehte sich erneut um und sah Key an. Sie hielt sich am Türrahmen der Besenkammer fest. Offenbar war das noch immer ihr erwählter Schlafplatz.
Er hatte, bevor er sich von der Besprechung zurückgezogen hatte, kurz nach ihr gesehen. Sie war einfach vor Erschöpfung eingeschlafen, obwohl sie sich zweifelsfrei immer noch bedroht fühlte. Den Daumen im Mund, eng zusammengerollt, den einen Arm um sich geschlungen und von immer wieder auftretenden Muskelzuckungen geplagt, lag sie in diesem Raum, der nicht dafür geschaffen worden war, dass man in ihm schlief. Aber sie konnte nicht anders und Cecil verstand es auf eine Art, die er nicht wollte. Leise hatte er die Tür wieder angelehnt und war selbst erschöpft ins Bett gegangen, sodass er nicht einmal bemerkt hatte, wie alle das Appartement verlassen hatten, um sie nicht weiter zu stören. Nur kurz dachte Cecil daran, dass wahrscheinlich nicht nur Eliot gesehen hatte, was Marvin und er getan hatten. Aber er hatte sie beide vergessen, und Marvin genauso.
„Du musst mir nicht schmeicheln“, gab Cecil hart zurück. „Ich werde euch nicht rausschmeißen und wenn, dann werde ich euch ganz sicher nicht ohne Schutz lassen. Das ist ein Versprechen.“
„Es wäre egal, ob du das tust. Du bist nicht verpflichtet, uns zu beschützen. Du hast schon mehr getan als so viele andere. Trotzdem ist das, was Eliot sagt, nicht richtig. Das ist die Wahrheit. Aber er ist dumm. Er weiß es nicht besser. Er hat Angst. Auf die gleiche Art wie ich. Nur ich … ich beneide dich.“
Cecil konnte nicht verhindern, dass er ein wenig mehr zuhörte. Ein wenig aufmerksamer war als noch vor Sekunden. „Wie meinst du das?“, fragte er.
Key blickte ihn nicht an. Sie schaute irgendwo auf den Boden, der ihr sicher keinen Anhalt gab. Sie war weit weg, als sie wieder sprach. „Ich sehne mich danach“, wisperte sie, „dass mich jemand in den Arm nimmt. Einmal nur. Ich glaube, das wäre das Schönste für mich. Aber ich schreie. Wenn mich jemand berührt, schreie ich oder ich werde ganz steif und stumm. Ich kann nicht mehr, Cecil. Ich bin am Ende. Sie haben mich kaputtgemacht und ich glaube, das lässt sich nicht mehr reparieren. Dabei würde ich so gern noch einmal die Hand von jemand anderem in meiner spüren. Ich träume manchmal davon und dann … dann schreie ich im Traum.“
Cecil verbot sich selbst, ein „Tut mir leid“ zu sagen. Eine Entschuldigung, wie auch immer vorgetragen, wäre Salz in einer offenen Wunde. Zudem war sie eine Lüge. Doch nicht von seiner Seite. Mehr die Geste selbst, denn es gab nichts, was es zu entschuldigen gab.
Er war so unglaublich wütend darauf, was man Key gestohlen hatte. Er hatte hart daran arbeiten müssen, an körperlicher Nähe echtes Vergnügen zu empfinden, und es gab immer wieder mehr als nur einen Moment, in dem er sich daran erinnern musste, dass er sicher war. Es hatte zu seinem Glück in seinem Leben immer Menschen gegeben, die ihm beigestanden hatten.
Es war so schwer gewesen, Berührungen anzunehmen. Aber er war selbst abgeschnitten von seiner Pflegemutter, seinen Freunden und Verbündeten niemals völlig allein gewesen. Auch dann nicht, als er in der Anstalt gefoltert worden war und er Charles ein letztes Mal hatte sehen müssen.
Aber Key hatte das nicht gehabt. Da gab es keinen Menschen mehr außerhalb des Wahnsinns und Eliot brauchte selbst dringend Hilfe. Key und Eliot waren vollkommen abgeschnitten. Mehr noch, erst seit Kurzem so frei, dass es überhaupt in Betracht kam, dass es da noch ein anderes Leben geben konnte.
„Vergiss, was ich gesagt habe“, murmelte sie auf einmal. „Ich habe mit Eliot gesprochen. Er ist nicht der Meinung, dass wir uns einmischen sollten. Ich meine, euer Problem mit diesem Treffen. Ich denke aber auch dabei anders als er. Du merkst, ich bin keine so gute kleine Schwester. Na ja … was ich sagen will, ich denke, ich hätte eine Möglichkeit, Mr. Qualle von deiner Fährte abzubringen. Wie lange das hält, kann ich nicht sagen. Doch der Vorteil ist, dass er hier in New York ist. In Boston wäre es für mich schwerer und für ihn leichter.“
„Was meinst du?“, fragte Cecil skeptisch. So genau konnte er Keys Ausführungen nicht folgen. Zumindest aber hatte sie davon Abstand genommen, Gideon Sanders mit der Bezeichnung Onkel Gideon in ihren Ausführungen zu benennen.
„Zum einen hat Mr. Qualle hier keine so einflussreichen Beziehungen wie zu Hause, wenn überhaupt welche, und zum anderen habe ich einen Klon seines Handys. Und das Profil ist in meiner Cloud gesichert. Das bedeutet, ich habe jederzeit Zugriff auf alles. Ich habe dadurch auch Zugriff auf seine Zugangsdaten auf den Server in seiner Detektei, was wiederum bedeutet, dass ich das endlich machen könnte, was ich schon immer machen wollte: Spiegeln aller Kundendaten. Was mir fehlt, ist das passende Equipment, ein Ablenkungsmanöver und ein paar Polizisten sowie dreißig Minuten, um die Daten von seinem Büro zu spiegeln, seine Anlage zu zerstören und ihm alles zu nehmen, was er gegen uns verwenden kann. Nun, ich habe das noch nie gemacht. Aber dreißig Minuten dürften reichen.“
Cecil kniff die Augen zusammen.
Key grinste. Sie verstand ihn. Sowohl das gesteigerte Interesse wie auch die Frage. „Na ja, ich wollte ihm ein paar Bilder auf sein Handy laden“, erzählte sie. „Kinderpornografie. Das ist gegen das Gesetz. Selbst dann, wenn es seinen Freunden gelingt, ihn wieder rauszuholen, wird das dauern. Er muss außerdem sehr viele Fragen beantworten und er ist auf der Beobachtungsliste von einigen Leuten, die Leute wie ihn hassen und verfolgen, wohin auch immer er geht. Ich werde dafür sorgen, dass er auf deren Radar ist. Außerdem fehlen ihm seine Kundendaten. Der Schaden dürfte gigantisch sein. Ich würde außerdem noch gern seine Detektei abfackeln, wenn das möglich ist. Mr. Qualle ist mir zu gefährlich.“
„Das klingt wie ein feuchter Traum!“, flüsterte Cecil.
Key blickte ihn groß an, dann lachte sie. „Oh Gott, ja. Der Vergleich ist gut. Ich habe mir das in allen Einzelheiten vorgestellt und sein Gesicht dazu. Ich will ihn auf den Knien!“ Den letzten Satz sagte sie mit inbrünstigem Hass in ihrer Stimme. Sie wollte Rache und Cecil musste zugeben, dass ihm das nicht fremd war.
„Was genau brauchst du dafür?“, fragte er und er konnte nicht glauben, dass er in Erwägung zog, dass ein Mädchen die Lösung war. Ein sechzehnjähriges Mädchen voller Hass, voller Angst und dem Wissen, wie man sich Zugang in das heilige Reich eines ihrer Verfolger verschaffte.
„Hilfe, Technik und jemand, der mir glaubt.“
Cecil nickte. Er dachte an Seths Vorwurf, dass er nicht für sie allein entscheiden konnte. Aber er konnte ganz sicher alles das an Hilfe heranziehen, was sich ihm anbot. „Du wirst dich aber nicht ohne Rücksprache in irgendwas stürzen und dann uns in Schwierigkeiten bringen. Das schließt übrigens dich mit ein“, sagte er.
Key musterte ihn, dann lächelte sie. „Ich bin nicht in der Lage, einfach irgendwohin loszuziehen“, gab sie zu bedenken.
Cecil kontaktierte Troy per Textnachricht auf seinem Handy. Kurz darauf klingelte es und er nahm an. „Ich habe hier jemanden mit ein paar sehr interessanten Ideen. Sie scheint nicht schlafen zu können.“
Troy lachte. „Schlaflosigkeit ist nicht von Nachteil“, meinte er. „Was hat sie für uns?“
„Sie erklärt dir das am besten selbst. Es geht darum, ein paar Fotos auf ein Handy zu schleusen und einiges mehr. Mein technisches Verständnis übersteigt das. Klopfe ihre Ideen auf Machbarkeit ab und ich sorge dafür, dass sie Equipment erhält. Ein Handy und ein Laptop.“
„Bist du sicher?“
„Ja, ich bin sicher. Rede mit ihr und wenn sie überzeugend ist, dann gib ihr die Zugangsdaten und das Material, das sie braucht.“
Troy schwieg einen Moment, dann gab er ein Räuspern von sich.
„Ich mach euch miteinander bekannt. Key wird dich in einer Minute anrufen.“
Fünf Minuten später hatte Key einen gesicherten Laptop der Sicherheitsfirma United Secure vor sich, ein Handy, das nur zum Telefonieren taugte, und ein Smartphone, zu dem ihr noch der Zugang fehlte. Jedoch drehte sie es in ihren Händen und begann es auseinanderzunehmen. Cecil wollte erst protestieren, dann aber sah er einfach zu. Sie setzte es wieder zusammen und schaltete es wieder an. Sie drückte ein paar Mal und von seiner Warte aus wirkte es wie eine Sequenz. „Mist“, sagte sie. „Das ist nicht baugleich.“
Kerry, der sie ausgestattet hatte, nickte anerkennend. „Sie ist gut“, sagte er. „Ohne Änderung von ein paar Bestandteilen wäre sie jetzt drin gewesen. Das ist keine Angeberin, Cecil. Die Kleine weiß, was sie tut.“
Cecil blickte von ihm zu ihr zurück.
„Ich glaube, ich muss diesen Troy doch anrufen“, meinte Key mit einem Grinsen. „Aber einen Versuch war es wert.“
Kerry lachte leise. „Auf jeden Fall, und erinnere mich jemand daran, dass ich mich mit ihr niemals anlegen werde. Hacker sind mir unheimlich.“
„Hacker ist veraltet“, murmelte Key. „Ich nenne mich Schlüssel. Das ist passender.“ Sie wählte Troys Nummer und nach einer kurzen Begrüßung tauchten sie in einen Rapport ein, bei dem sie auch die Zugangsberechtigung zu ihrem eigenen Handy und dem Laptop erhielt. Bald konnte Cecil nicht mehr folgen. Aber das Gefühl, dass sie eine Lösung hatten, wurde stärker. Er erhob sich und Kerry folgte ihm.
„Behalte sie im Auge, Kerry. Aber vermeide es, sie zu berühren. Ich glaube, sie ist tatsächlich der Schlüssel. Stellt sich nur die Frage, ob sie Freund oder Feind ist.“
„Misstrauisch zu bleiben ist niemals verkehrt. Manchmal ist es zu schön, um wahr zu sein“, stimmte der ihm zu.