E s war so weit!
„Madison Restaurant, 1st Ave Ecke 53.“
Es hatte keine weitere Mail gegeben. Also blieb nur die alte Mail mit dem Treffpunkt. Die enthielt aber den Ort. Kein Datum, kein Wochentag. Nur die Uhrzeit. Elf Uhr sollte er sich einfinden – wann immer es ihn beliebte. Es war merkwürdig. Offenbar war sich die Qualle ihres Plans sehr sicher. Gideon Sanders ging davon aus, dass er nicht verlieren konnte.
Cecil merkte, wie ihm kalt wurde. Er verbot sich den Gedanken daran, dass er sich freiwillig in die Nähe dieses Mannes begab. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er hoffte nur, dass niemand ihm etwas anmerkte. Kaffee war das Einzige, was er hatte zu sich nehmen können. So langsam ahnte er, dass es verdammt schwer werden würde, seine Seelenzustände zu verheimlichen, wenn er derart empfindlich reagierte. Manchmal wagte er einen Blick zu Seth. Der gab vor, nichts zu bemerken. Cecil glaubte ihm das nicht. Zumal er es nicht schaffte, seine Hände ruhig zu halten und Seth weiterhin aufmerksam war, was lästig wurde, wenn man vor ihm etwas verbergen wollte. Dummerweise griff er jedoch immer wieder nach dem vermaledeiten Handy. So konnte das mit der Tarnung nichts werden.
Auf einmal erstarrte er. Für Bruchteile von Sekunden hatte er seine Umgebung nicht auf dem Radar gehabt, weil er sich über sich selbst geärgert hatte. Somit war ihm auch entgangen, dass Seth sich an ihn herangeschlichen hatte. Jetzt hockte er vor ihm und schaffte es dadurch, ihm ins Gesicht zu sehen. Cecil benötigte keinen Spiegel, um zu wissen, dass er kalkweiß war. Panik! Da gab es keinen großen Interpretationsspielraum. Dafür, dass er vor etwas mehr als achtundvierzig Stunden erwogen hatte, sich heimlich aus dem Staub zu machen, fühlte er sich gerade ziemlich elend. Da war nicht genug Mut in ihm, um auch nur einen Laut über seine Lippen zu bekommen.
Seth hob seine Hand und legte sie dann über seine Handgelenke. Verdammt, der Kerl war groß. Seine Hand war warm und die Haut ein wenig rau. Sie lag schwer auf ihm und Cecil wusste nicht, warum, aber er schloss die Augen. Die Anspannung bröckelte von ihm ab, als wäre es alter Putz, der sich nicht mehr am Mauerwerk zu halten vermochte.
Ihm wurde offenbar, wie kalt ihm tatsächlich sein musste. Seth verschenkte seine Wärme freigiebig. Langsam kroch diese in ihn und begann ihn aufzutauen. Cecil zuckte dieses Mal nicht zusammen, als sich jemand neben ihn setzte und sich kurz darauf ein Kopf samt Oberkörper gegen ihn lehnte. Ein Arm fand den Weg hinter seinen Rücken und die freie Hand legte sich auf die von Seth und ihm.
Marvin!
Für Minuten saßen und hockten sie nur so zusammen und Cecil fragte sich, wie sie so weit hatten kommen können. Eliots harsche Worte, die ihn tiefer getroffen hatten, als er sich eingestehen wollte, verloren angesichts des Friedens, den beide Männer ihm schenkten, ihre Scharfkantigkeit. Nichts, was er tat, nichts, was er fühlte, war falsch. Warum es diese zwei hatten sein müssen, er wusste es nicht. Es war müßig, darüber nachzudenken. Gefühle waren da und sie wurden gelebt – ob er es nun wollte oder nicht.
Er mochte es, wie Seths Hand auf seiner lag, wie sich die von Marvin mit ihnen verflocht. Dass Marvin sich an ihn lehnte und ihn zugleich hielt. Das Gewicht. Die Nähe. Die Gefühle beider Männer, alles das gehörte ihm und dafür gab er das, was er zu geben vermochte. Wie wenig das auch immer war. Gerade in diesem Moment fühlte er sich so unzulänglich wie schon lange nicht mehr.
Im Grunde war es lächerlich, dass er gedacht hatte, er könne diese Männer beschützen, indem er so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und sie brachte. Er brauchte sie dringender als sie ihn.
„Hör auf, diesen Gedanken zu denken!“, wisperte Seth. Marvin bewegte sich und offenbar schaute er sich das an, was Seth in seinem Gesicht gelesen und zu dieser Bemerkung gebracht hatte.
„Was denke ich?“, fragte Cecil und hoffte, dass er dabei seine Überraschung einigermaßen gut verbarg. Aber wem machte er da etwas vor? Seth besaß die Fähigkeit, in ihm wie in einem Buch zu lesen. Er wünschte, er könnte es auch.
„Ich weiß es nicht genau“, gestand Seth. „Aber wenn ich vermuten müsste: dass du nicht gut genug bist. Nicht stark genug. Dass du an dir zweifelst, deinen Fähigkeiten, deiner Kraft. Irgendwas in der Richtung. Oder an etwas ganz Übles. Worte, die dir jemand an den Kopf geworfen hat, die dir jetzt zu schaffen machen. Meist ist es so was. Etwas, das einen denken lässt, man wäre nichts wert. Lass es!“
Cecil sah ihn ausdruckslos an. Er hoffte zumindest, dass ihm das gelang. Und in ihm keimte der Verdacht auf, dass er plauderte. Erst recht, wenn er nichts sagte. Womöglich sollte er vor dem Spiegel üben, denn sonst war er Seth für immer heillos ausgeliefert. Es war schon tragisch genug, dass sein Mann jetzt ahnte, was er dachte.
Auf Seths Gesicht schlich sich ein Schmunzeln und Cecil fühlte sich ertappt. Was für ein Schlamassel, dachte er. Oh Gott, er liebte diesen Mann. Aber an seiner Mimik musste er arbeiten. Es war lästig.
Seths Schmunzeln mauserte sich zu einem ausgewachsenen Grinsen.
„Lass das!“, schimpfte Cecil.
Neben ihm gluckste Marvin und kicherte, weil er partout nicht lachen wollte. Wenn er so weitermachte, dann würde er noch ersticken.
Seth beugte sich vor, stützte sich links und rechts von ihm ab und kam ihm sehr nahe. Cecil wich nicht zurück, sondern nahm das Geschenk von weichen Lippen. Augenblicklich entflammten seine Wangen. Jetzt war ihm wirklich warm. Das waren gewisperte Gedanken und sie ließen ihn sich lichterloh brennend anfühlen. Er liebte. Dieses Gefühl war nicht sanft und zurückhaltend. Nein! Von einem Moment von still und sanft auf tonnenschwer geschaltet, es drohte ihn zu erdrücken. Irritiert sah Cecil zur Seite und blickte Marvin an. Cecils Ohren begannen zu glühen. Jetzt war ihm endgültig heiß.
Verdammt, mit diesem Hormoncocktail im Blut war er auf keinen Fall zurechnungsfähig.
Seth streichelte seine Wange und jetzt war es Marvin, der ihn küsste. Was noch an Blut übrig war, sammelte sich in seinem Schwanz. Am Rande erinnerte sich Cecil, dass sie vor zwei, drei Minuten ganz diskret allein gelassen wurden, als Seth sich vor ihn gekniet hatte. Ihre Bodyguards hatten sich zurückgezogen und Cecil wünschte sich, sie hätten das nicht getan. Dann hätte er eine Ausrede und damit die Zeit gehabt, sich aus dem überwältigenden Gefühlswirrwarr in seinem Inneren zu befreien. Zumindest so weit, dass er nicht wie ein verliebter Idiot durch die Gegend taumelte. Von wegen Liebe auf dem ersten Blick oder langsam, aber stetig. Das hier hatte sich harmlos angeschlichen und im falschen Moment den Turbo angeschmissen.
Cecil schluckte.
„Ich glaube, er ist ausreichend abgelenkt“, flüsterte Marvin mit einem Hauch Spott in der Stimme. „Seth hat recht“, wandte er sich direkt an ihn. „Mach das nicht! Wir sind bei dir. Vergiss das niemals. Und das, was du jetzt hast, davon erwartet dich noch eine ganze Menge mehr.“
Cecil schluckte ein weiteres Mal. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt. Er wollte so viel mehr davon. Er fürchtete, er wurde süchtig nach diesem Gefühl. Nach den beiden Männern und allem, was mit ihnen zusammenhing. Sein Herz schlug ihm hoch bis zum Hals und der Puls schien seinen ganzen Körper zum Vibrieren bringen zu wollen. Marvin war aber gemein. Er küsste ihn nur trocken. Ein wenig Zungenspitze, die gegen seine Lippen stippte. Verdammt!
Dann war es so weit. Die Zeit war heran. Kerry räusperte sich diskret. Cecil wusste, wenn das hier vorüber war, musste er ein paar Leuten eine Prämie auszahlen. Kerry und Yvonne waren die mit Abstand diskretesten und zurückhaltendsten Bodyguards und die im Wesen angenehmsten. Er beschloss sie sich näher anzuschauen und wenn sie es wollten, würde er Troy fragen, ob er sie auf Dauer bei ihm stationierte. So lange, wie die Gefahr nicht abgewendet war. Danach würde er den beiden ein Angebot unterbreiten und er hoffte, sie nahmen an, direkt in seine Dienste zu wechseln.
Mit einem Widerwillen, der ihm alle Kraft abverlangte, deutete er an, dass er so weit war und Seth und Marvin entließen ihn aus ihren trostspendenden Gesten und ihrer unmittelbaren Nähe.
„Wir sind bei dir“, versicherte Marvin, als Cecil den Mantel überstreifte, der ihm von Kerry gereicht wurde. Es war nicht seiner, sondern eigens einer, den man für in präpariert hatte. Er saß nicht richtig, aber für ihre Zwecke war er ausreichend. Cecil blickte zu Kerry auf. „Das Taxi wartet auf dich, Chef.“
„Cecil“, murmelte Cecil und erinnerte sich, dass sie das schon in Boston geklärt hatten.
Kerrys Mundwinkel zuckten. „Ich glaube, ich nenn dich Chef. Kannst mich nachher deswegen abmahnen“, meinte er.
Cecil entging nicht, dass der Witz ziemlich lahm war und in Kerrys Gesicht konnte er ablesen, dass der Mann sich Sorgen machte. Ob um ihn oder die Mission oder wegen des gesamten Desasters – genau ließ sich das nicht sagen. Letztlich war es wohl von allem ein wenig und weit mehr. Kerry hatte sich im Griff.
„Wir haben dein Handy auf Ortung“, informierte ihn Kerry weiter. „Und außerdem den Chip im Mantel ausgetauscht. Wirkt auf den ersten und zweiten Blick wie ein normaler RFID-Chip. Eine Idee von Key. Sollte man dich absuchen, wird man keinen Verdacht schöpfen. Es kann sein, dass Qualle dir das Handy abnimmt. Auf diese Weise können wir jedoch immer noch über dessen Handy die Position ausfindig machen. Key hat vollen Zugriff. Sie hat einen Probeping gemacht. Es läuft. Im Moment jedoch telefoniert der Kerl zu viel, als dass sie in ihm einen Verdacht wecken will. Sie kann nicht kontrollieren, ob der Akku heiß läuft und andere Anzeichen aufzeigt, wenn gewöhnlich ein Handy fernaktiviert wird. Also müssen wir warten, bis du in Position bist.“
Cecil nickte.
„Troy hat die Straße samt Restaurant im Blick. Der Taxifahrer gehört zu uns. Ebenso ein paar der Passanten. Bleib ruhig! Wir holen dich raus. Scheiß auf die Datenübertragung. Wenn wir den Detektiv ausschalten können, haben wir schon eine ganze Menge gewonnen. Key wird ihn als Erstes kompromittieren. Ein Freund von Troy, der Bulle beim NYPD ist, ist darüber informiert. Er wartet auf ein Zeichen und das Datenpaket. Sie werden schnell reagieren. Zumal wenn sie denken, dass Gefahr im Verzug ist. Ein Junge soll verkauft werden. Das ist das verabredete Szenario.“
„Was hindert sie daran, mich festzunehmen?“, fragte Cecil ruhig.
„Deine Vita. Du bist von ihm angeschrieben worden und der Informant unseres Freundes beim PD. Er wird dich als Zeugen führen, sollte es nicht möglich sein, dich rechtzeitig rauszuholen, und du offiziell befragt wirst. Alles wie abgesprochen. Keine Abweichung vom Planentwurf so weit. Versuch so wenig wie möglich zu improvisieren. Wir werden dich dann absondern und verschwinden lassen. Keine Namen, keine Daten. Du bist Cecil Smith.“
Cecil unterdrückte ein Grinsen.
„Keine echte Papiere. Nichts, was sie dir abnehmen könnten und deine Identität offenbart. Das, was Key aufspielt, sollte reichen, um Mr. Sanders für mehrere Monate zu beschäftigen, wenn nicht gar tatsächlich in den Knast zu bringen. Key hat ein ganzes Paket für ihn geschnürt. Ich schwöre, die Kleine hasst ihn bis ins Mark und ich will nicht wissen, was er ihr angetan hat, um als Ziel für ihre Rache genommen zu werden. Wahrscheinlich ist das Gefängnis noch zu mild für ihn.“
„Er bevorzugt es eng und jung und er liebt Jungen“, flüsterte Cecil und schloss den Mantel.
Kerry, dem der Mund offen gestanden hatte, schloss ihn abrupt und sah Seth Hilfe suchend an. Der schüttelte nur den Kopf.
Cecil sah noch, dass Kerry in plötzlicher Erkenntnis stumm „Eliot“ aussprach. Es lenkte ihn nur ab.
Er öffnete die Tür des Appartements und ihrer Zuflucht, die keine mehr war. Sie würden nicht zurückkehren. Key und alle anderen einschließlich Seth und Marvin würden an einen anderen Ort geschafft werden, sobald sie fertig waren. Troy hatte ihm für diese Aktion so viele Leute wie möglich überlassen. Cecil war versucht, um himmlischen Beistand zu bitten, und verbat es sich. Es gab keinen Gott. Es hatte ihn nie gegeben.
Mit einem kurzen Blick in den Spiegel kontrollierte er sein Erscheinungsbild. Der Mantel war von der Stange, was den RFID-Chip erklärte. Nur Kleidung, die nicht von Hand gefertigt war, besaß diese Dauerüberwachung. Kleidung und Schuhe waren fast flächendeckend damit ausgestattet. Die Technik befand sich eher in den Kinderschuhen und derzeit war sie mehr eine Methode, um den Ladendiebstahl zu erschweren. Doch das, was Cecil bei sich trug, war, wenn er es richtig verstanden hatte, das, was es einmal sein könnte: ein anzupingender Transponder. Ein winziger Datenspeicher, wenn gewünscht. Dabei klein, flach und unauffällig. Aktuell war er passiv. Mit einem Handy ließ er sich sehr leicht verfolgen, ohne ein eigenes Signal abzugeben. Oder man folgte demjenigen, der diesen Mantel trug. Nachteil: Die Reichweite dieser Dinger war ausgesprochen gering.
Cecil zupfte am Kragen und wandte sich ab. Er schaute nicht zurück, als er ging und die Treppe hinuntereilte. Auf der Straße winkte er und ein Taxi hielt vor ihm. Cecil stieg ein und gab sein Ziel an. Ganz so, als würden sie einander nicht kennen. „Aye, Sir. Die Fahrt kann ein wenig dauern. Um die First herum ist wieder mal alles zu.“
Cecil war erst irritiert und bemerkte dann das Grinsen. Offenbar bevorzugte es der Fahrer, dass er seine Rolle richtig spielte. Es machte es für sie beide einfacher.
„Beeilen Sie sich“, sagte Cecil. „Es sind fünfzig mehr drin, wenn ich pünktlich ankomme“, fügte er hinzu und blickte nach draußen. Der Bodyguard fuhr, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. Selbst diese schnellen Wechsel der Fahrbahn waren perfekt. Wenn es nach Cecil gegangen wäre, würde er niemals aussteigen. Aber das Leben hielt nicht an.
Das Madison Restaurant erreichten sie trotz der Einwände seines „Taxifahrers“ pünktlich und damit innerhalb ihrer Planung. Fünf vor elf stieg er in der First Avenue aus und blickte in die Fenster eines Restaurants, das er als bodenständig einstufte. Noch waren wenige Besucher da. Die letzten Gäste vom Frühstück wechselten mit denen für ein vorzeitiges Mittagessen die Plätze. Cecil blickte seinem Taxi nach. In seinem Kopf rief er die Lage in der Stadt auf. Von hier aus war es zwar ein Problem, zur falschen Zeit schnell wegzukommen. Doch die Queensboro Bridge war in der Nähe und von dort aus kam man überall schnell hin oder man konnte sich in den Schluchten von Queens verbergen, bis jede Suche aufgegeben wurde. Cecil machte einen Schritt auf das Restaurant zu und versuchte zu erkennen, ob Mr. Sanders sich bereits vor Ort befand. Es war nicht damit zu rechnen. Kerry hatte klargestellt, dass zu erwarten war, dass man ihn beobachtete, ob er verfolgt wurde. Dass seine Leute sich bereits vor Ort befanden, so hofften sie, davon sollte Sanders nicht ausgehen oder sie zumindest nicht als solche erkennen.
Hinter ihm hielt ein Fahrzeug. Er nahm es nicht sofort wahr. Doch als sich eine Tür öffnete, erstarrte er instinktiv, ehe er es schaffte, sich auf der Stelle umzudrehen.
Eine Limousine.
Aufschneider, dachte Cecil und hoffte, dass sich sein Gesichtsausdruck im neutralen Bereich befand. Der Chauffeur kam herum und schloss dabei seine Jacke, ohne seine eiligen Schritte zu verlangsamen. Eine lang geübte Geste. „Sir, Mr. Sanders erwartet Sie“, grüßte er ihn und ging zum hinteren Teil des Fahrzeugs, wo er ihm die Tür aufhielt.
Cecil zögerte. Natürlich war das Treffen nicht im Restaurant.
Der Chauffeur wartete geduldig. Cecil gab sich einen Ruck und trat näher, beugte sich hinunter und blickte in Sanders grinsende Visage. Der Mann ließ ihn innerlich schaudern. Fast war es ein Glück, dass er ihn vor kurzem erst gesehen hatte. Sonst wäre der Anblick für ihn ein Schock und er kaum in der Lage gewesen, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. So war er vorgewarnt und seine Gefühlslage vergleichsweise ruhig. Ekel und Abscheu ließen sich dennoch nicht unterdrücken.
„Lange nicht mehr gesehen. Steig endlich ein, Junge!“
Cecil gehorchte. Es hinauszuzögern brachte wenig. Er erschrak im gleichen Moment, als er auf der mit Leder ausstaffierten Rückbank einsank. Die Tür wurde neben ihm zugeschlagen. Er bemerkte kaum, wie der Chauffeur herumlief und wieder zurück an seinen Platz hinter dem Lenkrad schlüpfte. Die Glasscheibe zwischen ihnen und dem Fahrerbereich war dunkel und erst als sie anfuhren, wusste er, dass er endgültig in diesem Fahrzeug gefangen war.
„Ich habe deinen großen Bruder mitgebracht“, meinte Sanders, verwies dabei auf den Mann, den Cecil bereits anstarrte und dessen Gesicht ihn so unglaublich an Charles erinnerte, dass er erst geglaubt hatte, ihn zu sehen. Sanders lächelte und labte sich sichtbar an jeder Regung, die er zeigte. „Er ist ein wenig böse auf dich. Der kleine, liebe Bruder zurück zu Hause und er lässt sich nicht blicken. Dabei ist er schon wie viele Monate bereits wieder in den Staaten?“
Cecil wollte sich von Arthurs Anblick losreißen, der nur scheinbar entspannt auf der anderen Seite saß. Den rechten Arm auf einer Lehne, den Kopf halb abgestützt und die Finger vor dem Mund, als wollte er sich davon abhalten, etwas zu sagen. Langsam gelang es ihm, Charles und Arthur zu trennen. Doch vor ihm saß eindeutig die jüngere Ausgabe seines Peinigers. Bis hin zur Gestalt und der Haltung. Alles etwas jünger. Straffer, muskulöser, ein wenig kantiger das Kinn. Doch der Blick. Die Gesten. Die Haare. Alles war wie er. Wie Charles. Und Cecil wusste, wenn er jetzt den Mund öffnete, würde nur ein Wimmern über seine Lippen kommen. Er musste sich zusammenreißen. Einerlei, was es ihn kostete. Sanders packte ihn unvermittelt, presste ihm etwas Hartes in die Seite und Cecil konnte nicht verhindern, dass ein Ächzen seine Kehle verließ, als er grob abgetastet wurde.
„Ein Mantel von der Stange? Scheint dir nicht so gut zu gehen, Junge“, meinte Sanders unvermutet.
„Stellt sich für mich die Frage, was er mit dem ganzen Geld gemacht hat, das er gestohlen hat“, ließ Arthur als Erstes von sich vernehmen.
„Nun, mein lieber Arthur, so eine Flucht ist teuer. Verbündete und Beschützer wollen bezahlt werden. Möglich, dass er darum wieder nach Hause gekommen ist. Ein wenig mehr Geld von der Quelle abschöpfen.“
„Ich denke, dass seine Schulden so hoch sind, dass er auf Jahre hinaus froh sein kann, wenn er Essen und ein Dach über dem Kopf hat.“
Arthur gab seine gelassene Haltung auf und beugte sich vor. „Hallo, kleiner Bruder. Lange nicht mehr gesehen.“ Er packte ihn am Nacken und zog ihn mit einem Ruck auf seine Seite der Limousine und Cecil erkannte, dass das, was von Sanders gegen seine Rippen gepresst worden war, eine Kanone war. Dieser hielt sie jetzt ganz offen auf ihn gerichtet. Cecil hoffte, dass Sanders seine Finger unter Kontrolle hatte.
„Ich muss zugeben, dass es mich ziemlich verwunderte, als ich von Vater und Gideon erfuhr, dass du hier bist. Mich wundert aber nicht, dass du, wie bereits als Kind, nur Schwierigkeiten machst. Es hat sich anscheinend nichts geändert. Doch ich frage mich, was dir die Chuzpe gibt, überhaupt zurückzukehren. Du bist nicht mehr als ein Wicht und darüber hinaus ein erbärmlicher Dieb. Du hast Vater bestohlen. Ihn und die Firma in Schwierigkeiten gebracht und jetzt … keine Ahnung. Doch ich denke, dass du etwas wiedergutzumachen hast.“
Cecil wand sich aus Arthurs Griff und rückte ab. Sein Bruder ließ ihn gewähren.
„Du schuldest uns eine ganze Menge! Ohne …“
„Halt den Mund“, zischte Cecil und war froh, dass er seine Stimme so weit beherrschte, dass sie nicht zitterte. „Ich schulde weder dir noch Charles etwas.“
„Charles? Du nennst den Mann, der dein Vater ist, der unser beider Vater ist, der dich …“
„Ich nenne den Verbrecher, der nie mein Vater gewesen ist, Charles, und ich würde ihn noch ganz anders nennen“, unterbrach Cecil ihn hart.
„Kinder, Kinder“, fuhr Gideon dazwischen. „Du hast es also herausgefunden?“, wandte er sich direkt an Cecil und ein breites Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Du warst schon immer ein ganz Schlauer, mein lieber Cecil! Siehst du, Arthur, er hat es herausgefunden.“
„Ich schlage Ihnen alle Zähne aus, wenn Sie mich noch einmal vertraulich ansprechen!“, drohte Cecil ihm und er hatte dabei seine Fäuste gehoben. Die Wut, die ihn erfasst hatte, gab ihm den Mut, den er brauchte.
Sanders lachte. „Oh, ich liebe diesen kleinen, süßen Kerl. Ein wenig ist seine Sanftheit abhandengekommen. Er war immer so nachgiebig.“
„Trotzdem ist er dein Vater. Er hat für dich gesorgt“, versuchte Arthur die Oberhand zu gewinnen.
„Nein, hat er nicht“, flüsterte Cecil. „Er war mein Zuhälter. Charles hat mich dazu gezwungen, für ihn das Geld heranzuschaffen, das er warum auch immer verloren hatte. Nicht ich habe die Firma ruiniert. Ich denke eher, dass die Zeit von WT sich schon seit mehr als zwei Jahrzehnten dem Ende zuneigte …“
Arthur holte unvermittelt aus und versetzte Cecil einen Kinnhaken. Für Bruchteile von Sekunden wurde alles schwarz, Schmerz explodierte und er rutschte von der Bank runter.
„Fuck!“, rief Gideon. „Du kannst ihn nicht schlagen. Er ist zu wertvoll. Er muss unverletzt sein. Der innere Kreis hasst es, wenn die Spielzeuge mit blauen Flecken zu ihnen kommen.“
„Ich lasse nicht zu, dass dieser Mistkerl meine Familie beleidigt und wenn er kein Ward ist, dann ist er nur ein Schwindler. Ein Hochstapler.“
„Er hat unsere Mutter verkauft. An viele Männer“, flüsterte Cecil und rieb sich das Kinn. „Und er hat dafür gesorgt, dass ich zur Welt kam. Kein Sohn von ihm. Sondern etwas, was sich verkaufen ließ.“
„Halt den Mund. Du hast es doch nicht anders gewollt.“
„Du hast eine ganze Menge verstanden. Ich dachte immer, ihr kleinen Fickstücke würdet unter Drogen stehen.“ Gideon grinste feist. Doch da war Sorge und eine Menge Fragen.
Cecil blickte zu ihm. Noch immer war da diese Waffe. Aber er versuchte sie zu ignorieren. „Ich habe sehr viel verstanden“, gab er zurück. „Sehr viel mehr. Und ich habe mir geholt, was mir gehörte. Charles war mein Zuhälter und ihr wart die Freier. Das Geld gehörte mir!“
„Du …“
„Schlag mich noch einmal, Arthur, und du wirst es bereuen“, fuhr Cecil ihn an. Warum auch immer wich Arthur tatsächlich zurück. Doch in Cecil entlud sich die ganze Wut und der Frust, den er die Jahre über gehabt hatte. „Ich weiß nicht, warum du hier bist. Wenn du aber hoffst, dass ich als die Hure der Familie zurückkehre, weil es Mutter nicht mehr packt und niemand eine Marionette ficken mag, dann hast du dich geirrt. Ich werde mich von diesen Verbrechern nicht mehr anfassen lassen und Mutter …“
„Mutter ist krank!“
„Mutter ist drogenabhängig. Sie ist gebrochen und von halb Boston bestiegen worden, weil dein Vater es so wollte. Weil es ihm Aufträge und Abschlüsse einbrachte. Sie war das Schleifchen auf den Geschäftsabschlüssen für seine widerlichen Freunde. Er hat sie gefügig gemacht, so wie ich gefügig gemacht worden bin und wieder gemacht werden soll. Ich bin weg, weil sie mich sonst getötet hätten. Ich bin dein Halbbruder und du hast nichts verstanden. Gar nichts! Was glaubst du, wie alt ich gewesen bin, als sie mich das erste Mal gefickt haben?“
Auf einmal wurden sie von ihren Sitzen geschleudert, weil der Fahrer abrupt auf die Bremse trat. Blaues Licht blitzte durch die getönten Scheiben und endlich wurden sie gewahr, dass Sirenen um sie waren. „Sir, ich hatte Sie angepiept, aber Sie haben nicht reagiert“, meldete sich der Fahrer. Er hatte das Zwischenfenster ein wenig gesenkt. „Die Polizei hat mich zum Halten gezwungen. Ich habe mich daran gehalten …“
„Halten Sie den Mund, Nelson! Und Sie halten auch sonst den Mund, haben wir uns verstanden?“, rief Gideon nach vorn und rappelte sich wieder auf. Er wandte sich Cecil zu.
Er hatte sich hart geprellt und hielt sich die Seite. Der Schmerz war jedoch unwichtig. Aufregung verdrängte die Angst. Wenn das die Kavallerie war, hoffte er, dass ihr Plan aufging. Was mit seinem Bruder passierte, vermochte er jedoch nicht zu sagen. Der war in ihren Plänen nie vorgesehen gewesen.
„Du bist ein verlogener Dreckskerl“, wisperte der ihm zu. „Du willst nur, dass man dich für klein und unschuldig hält. Du warst immer schwach und jetzt denkst du, dass du uns schaden kannst, um dich für deine Hirngespinste zu rächen. Dir ist es zu verdanken, dass die Firma in Schwierigkeiten steckt.“
„Hör auf, Arthur. Das ist jetzt erst mal irrelevant. Die Polizei.“
„Ja und, Gideon? Hier ist nichts passiert, was in irgendeiner Weise für sie relevant wäre.“
Sanders hatte seine Waffe in das Holster zurückgesteckt. Er sah Cecil ausdruckslos an. „Nun, das werden wir sehen, nicht wahr? Ich würde an deiner Stelle keinen Mucks von dir geben. Dir liegt doch sicher noch etwas an deiner Mutter.“
„Die Frau, die sich irgendwo in einer eurer Anstalten befindet, weil sie vergessen hat, wie man aufhört zu atmen? Die tot ist, ohne tot zu sein? Reden Sie davon, Sanders? Ihr Tod wäre eine Erlösung für sie.“
„Ach, wäre es das? Du kleiner Wichser solltest dir überlegen, was du dir wünschst. Ich werde dir zeigen, was mit Verrätern passiert …“
„NYPD, steigen Sie aus!“, tönte es von vorn.
„Nelson, halten Sie die Papiere bereit, und Officer, Sir, wir steigen selbstverständlich aus.“
„Detectiv Garcia, Sir“, wurde er korrigiert.
„Auch noch ein Maisfresser“, murmelte Sanders, verzog das Gesicht und stieg dann mit einem deutlichen Lächeln aus.
Cecil erlaubte es sich, unmerklich auszuatmen.
„Das haben wir dir zu verdanken, oder?“, fragte Arthur ihn leise.
„Ich frage mich, was du eigentlich denkst“, murmelte Cecil. „Was glaubst du, wie alt ich gewesen bin, als Gideon das erste Mal seinen Schwanz in mich steckte? Ich kann nicht glauben, dass du wie dein Vater bist. Dass du nicht siehst, was er Mutter und mir angetan hat. Dass es dir egal ist, wenn unsere Mutter leidet. Dass er sie zerstört hat. Ich kann nicht glauben, dass du wie er bist.“
„Wer von uns lügt und sich die Wahrheit zurechtbiegt …“
„Meine Herren. Steigen Sie bitte aus und halten Sie dabei Ihre Hände sichtbar mit den Handflächen nach oben“, wurden sie aufgefordert. Der Detectiv und noch jemand anderes hatten ihre Hände auf den Waffen liegen. Würden sie sich weigern, würde es unangenehm werden. Es rumste leicht und die Erschütterung war im Wagen spürbar.
„Was soll das?“, rief Sanders von draußen. Cecil stieg langsam aus und sah sich einer Armada von Blaulicht, Polizeiwagen und dunkelblauen Uniformen gegenüber.
„Bitte weisen Sie sich aus“, wurde er aufgefordert. Seine Papiere einschließlich des Führerscheins waren gut. Es brauchte teure und aufwendige Tests, um die Fälschung sichtbar zu machen. Dennoch war er nicht wirklich gelassen, als er die Papiere, die ihn als Cecil Smith auswiesen, überreichte.
„Bitte kommen Sie mit!“, forderte der eine Detectiv ihn auf, der sich als Garcia vorgestellt hatte.
Als sie etwas abseitsstanden, erhielt er von dem Mann seinen gefälschten Führerschein zurück. „Sie sollten verschwinden. Ich schulde Troy einiges und so wie es aussieht, wird dieser Sanders eine Menge zu erklären haben. Da braucht es Sie nicht mehr!“ Im Gesicht des Mannes arbeitete es. Ihm passte es ganz offensichtlich nicht, dass er weiter keine Fragen stellen sollte. Der extrem akkurate Haarschnitt verriet, dass er wohl wie Troy gedient haben musste. Nur war es noch gar nicht so lange her. Wenn Cecil richtiglag, dann stand ein Marine vor ihm. Einer, wie es auch Troy gewesen war, und wie er betonte, immer noch war. Einmal ein Marine, immer ein Marine. Semper fi [1] .
Cecil nahm die Chance wahr, nickte leicht und unterdrückte einen Dank. Er wurde auf einen Wink von dem Detectiv durch die Absperrung gelassen und Sekunden später gepackt, tiefer in die Menge gezogen. Es war Kerry, der ihn mitgenommen hatte und kurzerhand in ein Auto zog, das er in einer der Seitengassen geparkt hatte. Cecil erlaubte sich einen Seufzer.
„Es hat funktioniert, Cecil“, rief Kerry und das Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. „Die Kleine ist wirklich, wirklich gut. Sie hat Qualle einiges untergejubelt. Leider hat es nicht geklappt, den ganzen Server zu spiegeln. Die Zeit hat nicht ganz gereicht. Doch sie konnte eine Menge abzweigen, bevor sie mitbekam, dass ihr Zugriff bemerkt wurde. Sie hat die Server der Detektei irgendwie überladen und dann fein säuberlich verschmoren lassen. Gute Arbeit. Für jemand, der keinerlei militärische Erfahrung aufweist, ist sie mit einem guten Instinkt, was Timing angeht, ausgestattet.“
„Heißt, wir haben vorerst vor Qualle Ruhe.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Denke ich. Nur wir müssen trotzdem das Quartier wechseln. Ob wir New York besser verlassen sollten oder nicht, muss noch eingeschätzt werden. Troy hat seine Analysten drangesetzt. Wie ich das sehe, sollten wir unsere Sachen packen und gehen. Wir sind auf keinen Krieg vorbereitet und wenn ich das sagen darf: Das ist kein Krieg, den man gewinnen kann.“
„Ob es darum immer geht?“, murmelte Cecil halblaut.
„Bitte?“, fragte Kerry.
„Nichts!“, gab Cecil zurück. „Es ist nichts!“