New York, irgendwo in Queens, zwei Tage später
I ch muss dir etwas zeigen!“
Cecil schreckte auf. Er hatte darum gebeten, allein zu sein. Seth und Marvin passte es nicht, dass er sich abkapselte. Aber im Moment konnte er die Nähe der zwei nicht ertragen. Seinen Bruder zu sehen hatte ihn geradezu verängstigt. Er war der Mensch, von dem er am wenigsten als Opfer betrachtet werden wollte. Selbst als er endgültig von Tante Heather bestätigt bekommen hatte, dass sie nur Halbbrüder waren, konnte er nicht anders, als Arthur zu lieben.
Arthur war sein ganzes Leben lang für ihn so unerreichbar, stark und heldenhaft gewesen, dass er ihn beneidete und dabei wünschte, er würde ihn einmal ansehen, ihn anlächeln. Die Sonne wäre für ihn aufgegangen. Aber sein Bruder hatte ihn nie beachtet und jetzt hatte er in der Limousine gesessen und ihn aufgefordert, zurück in die Hölle zu gehen, aus der er hatte entfliehen können.
„Es ist wichtig“, wisperte Key mit Nachdruck.
Cecil schloss die Augen und wischte sich übers Gesicht.
„In meinem Zimmer!“
Ein Fortschritt. Sie bezeichnete einen Raum als ihr Zimmer und zeigte damit, dass sie sich sicher genug fühlte. Trotz des Tals, das er gerade durchschritt, hatte er das bemerkt. Cecil war so müde und er wusste nicht, ob er sich dazu aufraffen konnte, ihr zu folgen. Aber sie blieb an der Tür stehen und wartete ganz offenkundig auf ihn.
Der Aufruhr in ihm zerriss ihn und er wollte damit in Ruhe gelassen werden. Dennoch … mit einem Seufzer stemmte er sich in die Höhe, brauchte Sekunden, bis er stand und der Schwindel nachließ. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Da er die Antwort nicht sofort parat hatte, wusste er, dass es zu lange her war. Nachher, bestimmte er und folgte Key.
Sie ging langsam vor und sah sich immer wieder um. Natürlich hatte sie immer noch Angst vor ihm. Sie traute niemandem so recht und Cecil versuchte nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ganz allein musste sie es schaffen. Ihren Instinkt buchstäblich überschreiben. Das benötigte Zeit. Er selbst hatte sie gebraucht. Gerade jetzt war er wieder am Limit und verfluchte den Umstand, dass er sich nicht in einen dunklen Raum verkriechen konnte, bis der Anfall und sein Zustand von allein endeten.
Cecil wischte sich über die Augen. Die Tränen lagen zu nahe an der Oberfläche. Er wollte nicht weinen, wenn ihn jemand sah. Das hasste er. Seine Schwäche war Privatsache. Daher richtete er sich auf und blieb dann doch wie angewurzelt stehen, als er den Mann auf dem großen Fernseher sah, den er hier in dieser Gegend niemals vermutet hatte.
„Weißt du, wer das ist?“, fragte Key.
Cecil nickte langsam. „Father Bartholomew. Bartholomew Perish. Der Prediger und Vorsteher der Kirche des Neuen Wegs Jesu Christi. Ich glaube, sie heißen jetzt anders. Ich bin mir nicht sicher. Charles verkehrte sehr häufig mit ihm und er hat mich begutachten lassen. Aber das war ein anderer Mann, der den Prediger begleitete. Ich sah ihn vor kurzem wieder. Sein Name ist Thomes. Mehr weiß ich jedoch nicht. Aber er war sehr häufig bei uns zu Hause.“
„Thomes Braden Grady, engster Vertrauter des Predigers und Mitglied des inneren Kreises.“
Cecil schluckte hart. Er wollte nichts davon hören.
„Es gehören noch weit mehr Männer zum inneren Kreis. Sie sind nicht alle im Kirchenvorstand wie Grady. Sie haben aber das Recht erworben, den heiligen Garten zu betreten.“
Cecil ließ sich in den Sessel fallen, weil er nicht mehr stehen konnte.
„Ich habe mich durch die Kanäle gezappt. Mir war langweilig und na ja …“, erzählte Key und rang ihre Hände, wischte sie dann kurz an der Jeans ab und in ihrem Gesicht zuckte es. Ihr Atem war unregelmäßig. Sie stand unter enormen Stress. „Dabei habe ich ihn gesehen. Ich weiß nicht, ob Eliot ihn auch gesehen hat. Ich meine, du weißt schon. Ich glaube ja. Und auch die anderen. Aber er redet nicht darüber. Er sagt, dass es nichts zu sagen gibt. Wir wissen alle, was passiert ist. Also kann man genauso gut den Mund halten. Er spricht kaum noch und er stinkt wie ein Iltis.“ Sie lachte nervös. Cecil ließ ihr die Zeit. Kurz ging sie ein Stück auf und ab und blieb dann wieder stehen. Sie sah mehr aus den Augenwinkeln heraus zu dem Bild. Cecil erkannte, dass es keines war. Sie hatte einen Film angehalten. Oder eine Sendung. War das eine Aufnahme?
Cecil beugte sich vor. Key schien erraten zu haben, was er erkannt hatte. Sie beugte sich zum Tisch runter, nahm die Fernbedienung und drückte auf Play.
„Lasst uns den Tempel wieder aufbauen, wie es schon geschrieben steht, denn Er wartet darauf, dass sein Reich auf Erden errichtet wird. Denn wie sein Vater schon zu Salomon sprach , du mein Sohn kennst den Gott deines Vaters. Diene ihm von ganzen Herzen und liebe ihn von ganzer Seele! Siehe, der Herr hat dich auserwählt, einen starken Tempel für ihn zu bauen. Du sollst es verrichten . [2] Wir, meine Freunde, sind erwählt und bauen den Tempel in dieser Stadt zu Ehren des Herrn, auf das er in Seinem Glanz erstrahle.“ Der Prediger lächelte. „Lobet den Herrn!“
„Lobet den Herrn“, erscholl der Ruf aus vielen Kehlen. Cecil hatte sich halb aufgerichtet und blieb wie festgefroren sitzen.
„Wir haben dank der großzügigen Spenden Senator Whites und vieler, die in aller Bescheidenheit und Demut uns ihre Hilfe zuteilwerden ließen, endlich die Möglichkeit, das Grundstück in New York, der großen Stadt, dem Tor zur Welt, kaufen zu können. In drei Jahren werden wir den Tempel Gottes errichtet haben und das Licht des Herrn in die Welt tragen. Lobet den Herrn.“
Cecil stand mit offenem Mund da. Key hatte die Sendung angehalten.
„Sie kommen nach New York“, sagte sie nur scheinbar emotionslos.
Cecil verstand jetzt, was er an ihr gesehen hatte. Key stand kurz vor der Panik. Der Moment, bevor der Sturm losbrach. Sein Herz schlug seltsam und er glaubte, dass er Schmerzen hatte. Aber das war nicht möglich.
„Ich habe recherchiert“, sagte Key so leise, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen. „Die New-Path-Church hat ein Filetstück in Queens erstehen können. Alles im Rahmen eines Sozialprogramms. Eine kleine Stadt soll in der Stadt auf einer Brachfläche errichtet werden. Sie haben darüber hinaus ein paar weitere Grundstücke in den angrenzenden Straßen erworben. Laut Konzept wollen sie ein Waisenhaus, ein Gemeindezentrum, eine Armenspeisung und eine Veteranenfürsorge errichten. Außerdem eine Schule und einen Kindergarten. Der Bürgermeister befürwortet das Projekt und nicht nur dort finden sich Unterstützer. Ich meine, im Rathaus. Die Polizeigewerkschaft hat sich ebenfalls dafür ausgesprochen und es werden Spenden gesammelt. New-Path kommt nach New York.“
Cecil stieß einen Seufzer aus.
„Cecil, sag etwas!“
„Was soll ich sagen? Dass … keine Ahnung, was. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich kann nicht bleiben. Sie jagen mich. Sie können mich nicht in Ruhe lassen. Ich glaube langsam, ich verstehe es: Wir sind nicht nur einfach Zeugen. Ich vermute, dass wir ihr Eigentum sind. Wir sind so viele gewesen. Und mein Bruder gehört dazu und mein Vater. Und alle, die irgendetwas zu sagen haben. Wie soll das aufhören? Sie haben Einfluss und sie werden immer mächtiger. Ich habe mich all die Jahre versteckt und sie bauen eine Kirche und ein Gemeindezentrum und ein Waisenhaus. Key, ein Waisenhaus!“
Key nickte. „Ja, das denke ich auch. Aber wie wollen sie das vertuschen? Ich meine, wenn Kinder verschwinden …“
„Es hauen jeden Tag Kinder ab. Was fallen da ein paar mehr auf? Und dann gibt es die, die sich anpassen. Sie werden niemals reden. Sie werden vielleicht wie wir sein: froh, der Hölle entronnen zu sein. Niemand wird ihnen glauben, weil, wer will schon etwas gegen einen engagierten Prediger sagen, dessen Reputation sakrosankt ist? Er ist über jeden Zweifel erhaben. Wer würde mir glauben, dass mein eigener Vater mich verkauft hat? Wer würde überhaupt irgendeinem Kind glauben, wenn so honorige Menschen wie der Polizeichef seinen Schwanz in dich stecken? Niemand!“
„Aber wir müssen etwas tun!“, wisperte Key. „Sie sterben!“
Cecil sah sie mit stumpfem Blick an und nickte. „Ich weiß“, sagte er. Kurz wankte er und in seinem Inneren baute sich Widerstand auf. Fast fühlte er sich so ähnlich wie damals auf der Brücke. Es war eine Erinnerung, als lägen zwischen dem Heute und dem Damals Hunderte Jahre. Noch immer war er verletzt. Aber er war nicht mehr allein, sosehr er sich es auch mitunter wünschte, weil es ihn glauben machte, dass er nur unabhängig niemanden in Gefahr brachte. Und jetzt, da in ihm ein Gedanke reifte, wünschte er, er könnte Marvin und Seth einfach vor die Tür setzen. Sie irgendwie dazu bringen, dass sie gingen und sich ohne Bedauern von ihm abwandten. Sein Herz klopfte schneller. Er war bereit, Verrat zu üben, um die Männer, die er liebte und die ihn liebten, so weit es ging von sich fernzuhalten.
Die Kinder starben.
Sie bauten die Kirche aus.
Sie bauten Waisenhäuser und sie hatten vor, das, was in Boston bereits Gestalt angenommen hatte, in einem weit größeren Rahmen in New York fortzusetzen. Die berühmteste Stadt der Welt. Das Tor zur Welt. Cecil fror. Das war keine Metapher.
Sie, die Kirche, wollte expandieren. Weltweit. Das war ein Versprechen und eine Drohung zugleich.
„Wir müssen sie aufhalten“, wisperte er, ohne dass er auch nur im Ansatz zu Ende gedacht hatte. Der Entschluss stand und er hatte keine Ahnung, wie er das – was auch immer – umsetzen sollte. Wie eine Organisation aufhalten, die sich wie ein Krebsgeschwür mitten in der Gesellschaft eingenistet hatte, und es nichts gab, was sie vom Übrigen unterschied?
„Vater sagte immer, dass Geld Spuren hinterlässt“, unterbrach Key seine aufkeimende Panik dahin gehend, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er anfangen sollte. Cecil runzelte die Stirn. Was hatte er alles anstellen müssen, dass seine Aktionen im Verborgenen geblieben waren. Was musste er alles berücksichtigen, damit niemand mitbekam, dass er minderjährig gewesen war und mehrere Millionen Dollar verwaltete?
Ja, Geld hinterließ Spuren.
Er musterte Key.
„Ich habe die Spenden und alles, was ich noch so finden konnte, verfolgt“, sagte sie und wirkte auf einmal sehr viel ruhiger, als er es war. „Dabei habe ich eine Liste erstellt und noch so einiges anderes. Es sieht beschissen aus. Vor allen Dingen, da ich denke, dass die Kontakte teilweise sehr viel intensiver sind, als es das Geld vermuten lässt. Wenn wir Gesprächsmitschnitte hätten, Kontrakte, was weiß ich. Wenn man sie alle mit den Verbrechen direkt in Verbindung bringen könnte, dann wäre es doch möglich, sie aufzuhalten, oder? Und Geld … ich kann ein paar Leute kontaktieren. Ich will lernen, wie man das macht. Ich glaube, das schaffe ich.“
„Was brauchst du?“
„Weiß nicht. Skripte in ihrer Hardware. Meine Skripte. Handys, Laptops, Computer, Sicherheitssystem. Ihren verdammten Kühlschrank, wenn er Internetanschluss hat. Das ist egal. Wenn ich reinkomme, dann werde ich überall reinkommen. Dann kann ich sie verfolgen. Aber ich weiß nicht, wie man an sie herankommt, und das muss man. Einschleichen. Nur wie?“
„Indem man mit ihnen Sex hat oder sie ausraubt.“
Key öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Langsam nickte sie.