„Wie fühlen Sie sich heute, Mr. Abrahams?“
Seth ließ Zeit verstreichen. Sein Blick ging hinaus auf die Straße, genau zehn Etagen unter ihm. Es war ein eher kühler Tag, doch die Sonne kämpfte um ihr Recht. Das Rascheln in seinem Rücken hatte schon vor langer Zeit aufgehört. Dr. Farewell neigte nicht dazu, sich Notizen zu machen. Sie hatte sich in ihren Stuhl gesetzt und initiierte das Gespräch. Meist kam diese Frage: „Wie fühlen Sie sich?“
Seth hatte nie sofort eine Antwort darauf und am Anfang hatte er sie angestarrt. Wie sollte es ihm helfen, wenn er sagte, wie er sich fühlte? Bis ihm aufging, dass es genau darum ging. Er suchte Antworten, bei denen er nicht einmal wusste, wie er dazu stehen sollte, wenn er die Frage gestellt bekam. Dazu musste er aber auch wissen, wie er sich fühlte. Denn alles hing miteinander zusammen. Sich die Frage selbst zu stellen, gelang ihm nicht.
Wie dumm doch der Mensch trotz seiner Klugheit sein konnte. Es war ein Phänomen, das er noch nicht ergründet hatte. Das ihm aber an sich selbst oft aufgefallen war.
„Müde!“, fiel ihm als Erstes als Antwort ein. „Es war eine anstrengende Woche.“
„Kannst du mich nach Hause bringen?“
Seth lief es kalt den Rücken runter. Die Stimme Cecils war rau und er hörbar am Ende seiner Kraft. Die ersten Momente hatte er nur geatmet und Seth hatte ihn fast angefleht, als er die Nummer erkannt hatte und er auf seinen Gruß nicht reagiert hatte. „Sag, wo du bist, und ich hole dich ab!“
Cecil hatte es aber noch geschafft, seiner Stimme die Kraft zu geben, die es brauchte, um seine Stimmbänder zum Vibrieren zu bringen. Die Atemgeräusche selbst waren noch normal gewesen – das hieß, dass er gleichmäßig atmete, wenn auch heftiger als normal. Außer dem Schweigen Cecils hatte es nicht viel gegeben, was Seth verraten hätte, wo sich dieser befand. Es gab Straßenlärm, der ihn offenbar umgab. Autos hupten in der Ferne. Jemand knallte einen Container zu und Stimmengewirr, in Ansätzen fremd klingend, mal näher, mal weiter drang in das Mikrofon des Handys.
„Kannst du mich nach Hause bringen“, waren die ersten Worte nach gefühlten Minuten, in denen nicht sehr viel mehr als das zu hören gewesen war, und Seth hatte allen Willen zusammenkratzen müssen, um nicht zu brüllen. Er hatte Angst um Cecil. Es war trotz Troys Versicherung und Vorsichtsmaßnahmen nicht auszuschließen, dass es Cecils Bruder und den Leuten der Kirche gelungen sein konnte, ihn erneut zu entführen. Und dann gab es noch weitere, vielfältigere Gründe: Diese Stadt besaß eigene Gefahren und ein Mensch wie Cecil, der keine Erfahrungen gemacht hatte, wie er sich in ihr zu bewegen hatte, konnte darin untergehen.
Sein Freund und Geliebter hatte sich einem Dieb gleich im Morgengrauen unbemerkt aus dem neuen Appartement geschlichen und Seth und Marvin über seinen Verbleib im Unklaren zurückgelassen. Und dann dieser Anruf. Seth war versucht, Key aus den Federn zu schmeißen, um das Handy und dessen Standort auszumachen.
„Ich bin Bowery Ecke Pell“, sagte Cecil.
Seth kannte sich nur bedingt aus und huschte mit den Fingern über das Display des Tablets vor ihm. „China Town?“ Er wollte nur zu gern fragen, was er dort wollte. Unterließ es aber.
„Ich kann nicht mehr“, sagte Cecil.
Wenn ihn nicht schon die ersten Worte in Sorge versetzt hätten, war er jetzt geradezu alarmiert.
„Bitte“, flehte Cecil schwach.
„Ich komme. Bewege dich nicht vom Fleck. Bleib am Handy. Rede mit mir!“
Marvin sah ihn fragend an.
„Cecil, ihm geht’s schlecht.“
„Ich komme mit“, entschied Marvin ohne weitere Nachfrage.
„Komm, Süßer, erzähl mir, was passiert ist“, forderte Seth Cecil auf, als er einhändig und dann mit Marvins Hilfe seinen Mantel übergezogen hatte und Marvin die Tür hinter ihnen zuschloss. Nach Gideon Sanders und Arthur Wards Entführungsversuch hatten sie nicht in ihrem alten Versteck bleiben können. Jetzt befanden sie sich in einer Art noblem Hochsicherheitstrakt mitten in Washington Heights. In das Gebäude kam man nur mit Einladung und nach persönlicher Sichtung. Der Portier öffnete nicht einmal die schusssicheren Türen, wenn der Bewohner des Hauses nicht erlaubte, dass derjenige das Gebäude betreten sollte. Dabei wirkte die ganze Gegend nicht einmal so, als würden Sicherheitsmaßnahmen über einen Riegel sowie einen Spion an der Tür hinausgehen. Bis Lower Manhattan war es ein gutes Stück. Doch mit einem Taxi machbar.
Am Rande bekam er mit, dass Marvin Kerry und Yvonne informierte, dass er einen Fahrservice anforderte. Der Weg führte also mit dem Aufzug in die Tiefgarage.
„Ich habe Heroin gekauft!“, erzählte Cecil ihm matt.
Seth wurde kalt. Die Aufzugtüren schlossen sich.
„Ich habe es nicht genommen. Aber ich weiß nicht weiter“, gestand Cecil. „Ich kann nicht mehr.“
„Es ist gut, dass du mich angerufen hast“, sagte Seth so entspannt, wie er konnte.
„Ich brauche es“, wisperte Cecil. „Aber ich kann es dennoch nicht nehmen. Nur weiß ich jetzt nicht weiter und ich weiß nicht einmal, wohin ich gehen soll. Ich habe einfach hier gestanden und mir war kalt und ich habe an euch gedacht und an alles. Ich …“ Seine Stimme brach.
„Rede weiter“, forderte Seth ihn auf. Kerry erwartete sie in der Tiefgarage. Seth hielt das Mikrofon zu. „Pell Ecke Bowery müssen wir hin. So schnell wie möglich.“
„Okay“, sagte Kerry als Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, und knallte die Autotür zu, als sie eingestiegen waren.
„Ich weiß nicht. Da gibt es nicht viel zu erzählen. Aber ich wollte, dass es aufhört“, sagte ihm Cecil leise ins Ohr. „Ich wollte keine Angst mehr haben. Vergessen, wer ich bin. Der Schmerz sollte aufhören. Ich wollte nicht mehr fliehen. Ich wollte aufhören.“
Seth sagte nicht, dass die Flucht in die Drogen die Flucht schlechthin war. Abgesehen von Selbstmord und so wie Cecil sich anhörte, war er auch davon gerade nicht weit entfernt. Sein Süßer war zudem klug genug, um das alles in seinen grundsätzlichen Ausmaßen zu wissen. Doch gerade befand er sich in einem mentalen und emotionalen Ausnahmezustand. Er war für die Vernunft kaum zugänglich und der Verstand bröckelte gerade auseinander.
Kerry gab Gas und presste seine Fahrgäste in die Polster. Marvin war es, der für Seth das Anschnallen übernahm, während Kerry gerade in die Kurve ging und mehr als nur ein Fahrzeug schnitt. Das Hupkonzert ließ er souverän hinter sich und nahm jede Lücke, die er erwischen konnte. Es war nur eine kurze Limousine. Und zu ihrem ausgesprochenen Glück floss der Verkehr gerade. Aber nach China Town zu fahren, war trotzdem kein Vergnügen.
Um schnell an einigermaßen saubere Drogen zu kommen, war das die beste Wahl, musste Seth zugeben. Die Triaden waren alles andere als entmachtet und der Verkauf von Drogen, dem schnellen Lustgewinn und das Glücksspiel waren immer noch die Haupteinnahmegeschäfte. Cecil hatte also die Örtlichkeiten gut gewählt.
„Du kannst es mir sagen“, sagte Seth. „Ich verstehe dich.“
„Tust du das?“, fragte Cecil ihn.
„Ja – ja, das tue ich. Es gibt Tage, an denen ich den ganzen Schmerz rausschreien will. Meine Drogen sind der Alkohol. Ich würde gern mit einer Flasche billigem Bourbon so manches vergessen. Aber es hört nicht auf. Man erwacht wieder und der Schädel brummt.“
„Du solltest einen guten Bourbon probieren“, schlug Cecil nicht ganz ernst vor.
„Du könntest recht haben. Aber ich habe mich entschieden, dass ich nicht vergessen darf.“
„Bist du niemals in Versuchung?“
„Ständig, mein Süßer. Es zerreißt mich. Auch wenn ich dich sehe.“
Seth fluchte stumm, als Cecil nach dieser Bemerkung schwieg. Zu lange schwieg. Er hätte das nicht sagen sollen.
„Ich belaste euch“, sagte er dann aber endlich. Die Bedeutung seiner Worte erleichterten Seth nicht, aber dass er wieder gesprochen hatte.
„Machst du dir darüber Gedanken?“
„Ja!“, gestand Cecil.
„Ich werde dir nicht sagen, dass du das nicht machen sollst. Du wirst trotzdem darüber nachdenken. Du kannst aber immer mit uns sprechen. Mit mir. Mit Marvin.“
„Ich bin ein Wrack, Seth. Ein geficktes Wrack. Weggeworfenes Spielzeug perverser Männer. Schmutzig. Drogenabhängig. Nichts weiter als Müll.“
„Pèi ēn!“, hörte Seth unweit Cecils jemanden rufen.
„Selber Penner“, hörte er Cecil schwach murmeln.
Seth zählte eins und eins zusammen. Chinatown. Mandarin, und Cecil verstand es. „Ich wundere mich nicht, dass du Mandarin kannst“, meinte Seth und hoffte, dass Cecil bemerkte, dass er mit ihm flirtete. Seine Stimme war weich und schmeichelnd. „Kannst du dich irgendwo in Sicherheit bringen?“
Wieder war das Schweigen unendlich lang. Kerry nahm einmal mehr sehr abrupt Kurven und schnitt Fahrzeuge. Seth versteifte sich, um nicht hin und her geschleudert zu werden. Marvin hatte sich, soweit der Gurt es zuließ, nach vorn gebeugt und hielt sich an den vorderen Sitzen fest. Er blickte auf die Straße und ab und zu presste er die Lippen aufeinander. Er war blass und Seth hätte ihn nur zu gern in den Arm genommen.
„Nur ein paar Beleidigungen“, hörte er Cecil sagen. „Ich kenne die Gegend nicht. Ich weiß nicht. Ich bin einfach stehen geblieben. Sie haben das Gebäude rot angestrichen. Es ist wie ein Signal und dann konnte ich nicht mehr laufen. Ich habe die Tüte in meiner Hand in der Tasche. Die Polizei ist gerade vorbeigefahren. Ich …“
„Cecil!“
„Ja?“
„Liebst du mich?“
Seth stellte sich vor, wie Cecil in die Ferne starrte, die weit über die Straßen und Häuser, die ihn umgaben, hinausging.
„Ja!“, hörte er ihn sagen und Seth erlaubte sich für einen Moment die Augen zu schließen.
„Ich liebe dich und Marvin. Und ich weiß nicht, ob das richtig ist. Richtig sein kann, und dann denke ich, dass es nicht anders sein könnte.“
„Vertraust du uns beiden?“, fragte Seth weiter. Sie überquerten die unsichtbare Grenze zu Chinatown und er wagte es kaum noch zu atmen. Marvin hatte sich jetzt bei ihm festgehalten.
„Ja, das tue ich. Aber ich habe Angst.“
Seth konnte fast das Stöhnen nicht unterdrücken, das in ihm war. Es war Erleichterung, die ihn durchflutete. So stark, wie Cecil auf seine Unabhängigkeit beharrte. Sich absonderte, wenn es ging, wie eben auch an diesem Morgen, war es gut, dass er zugab, dass er Angst hatte. Beschissen war nur der Zeitpunkt, den dieser gewählt hatte. Außerdem war er abgehauen. Der erste Zusammenbruch war noch den Auswirkungen des Entführungsversuchs und diesem Scheißkerl von Bruder und dem perversen Sanders zuzurechnen gewesen. Doch das war nicht alles und Seth wusste, dass sie aus der Scheiße noch lange nicht raus waren. Es begann gerade erst. Marvin war verletzt, aber deutlicher stabiler als Cecil.
Das Problem war, er war kein gottverdammter Psychiater und kein Therapeut. Er hatte von solchen Dingen kaum mehr Ahnung als die übrige Menschheit, die auf diesem Gebiet nicht studiert hatte. Das, was er wusste, hatte er sich selbst beigebracht und basierte auf Beobachtungen. Mr. Harris hätte niemals einen Therapeuten in sein Bordell gelassen oder gar Geld für diesen ausgegeben. Es gab nur ein Heilmittel für die Huren des Hauses: Drogen und Drogen. Alles andere wäre reine Geldverschwendung gewesen – und der neue Boss des Joyce oder wie auch immer dieser Laden jetzt hieß, hielt es mit Sicherheit kaum anders.
Cecil brauchte Hilfe. So viel, wie er nur ertragen konnte. Doch Seth ahnte, dass das sehr schwer werden würde. Troy hatte ihm unter vier Augen angedeutet, dass Cecil auf Anweisung seines Vaters in einer Klinik festgehalten worden war und kurz darauf bekamen sie auch noch die Information, dass Eliot und Key ebenfalls Klinikaufenthalte hinter sich hatten. Über die Details ihrer Flucht schwiegen sie noch immer. Gleichfalls Cecil. Wer die Helfer waren. Wo er die Jahre davor gewesen war, wer ihm geholfen hatte. Troy wusste mehr und ganz eindeutig auch Namen. Aber auch er schwieg. Also blieb nur Cecil und der gab seine Haltung nicht auf. Seth mahnte sich zur Geduld. Es war wichtig. Aber er musste Vertrauen gewinnen. Cecil hütete schon so lange seine Geheimnisse, er würde selbst den Menschen, den er liebte, nicht von jetzt auf gleich in alles einweihen. Zumindest wussten Seth und Marvin jetzt, dass er als Ward geboren worden war und damit zu einer recht einflussreichen Familie gehörte. Kein Wunder, dass er hatte fliehen müssen, ohne Rückhalt bei irgendwem zu finden.
Vor dem Hintergrund fürchtete Seth nur, dass sein Mann niemals Hilfe bei einem Arzt suchen würde.
„Wir sind gleich bei dir“, flüsterte Seth. „Wir lassen dich nicht allein, Süßer. Wir lieben dich. Alles andere ist für später. Wenn du fällst, dann fangen wir dich auf.“
„Ich will nicht. Ich muss stark sein. Marvin und du, ihr …“
„Wir sind jetzt zu dritt. Wenn wir fallen, dann fallen wir eben gemeinsam und bleiben liegen, bis wir wieder laufen können. Hör auf, dir darum Gedanken zu machen. Zusammen packen wir das. Davon bin ich überzeugt. Aber du musst bleiben, wenn es dir nicht gut geht. Wir beide haben gerade eine Scheißangst um dich. Ich kann kaum mehr denken und ich hoffe, ich rede dir nichts ein, was dich von uns stößt. Ich will dich halten. Kannst du noch ein paar Minuten warten, bis wir bei dir sind?“
„Ja, kann ich“, antwortet Cecil dieses Mal prompt. „Was soll ich mit dem Heroin machen? Eigentlich hätte ich mir noch Besteck besorgen müssen. Das habe ich nicht mehr geschafft“, fragte er sehr viel leiser. „Ich habe das Gefühl, es verbrennt mich.“
„Warte noch ein paar Sekunden. Wir sind in der Bowery. Und ich glaube, ich sehe dich. Ja. Ich sehe dich. Nur noch Sekunden!“
Seth sprang aus der Limousine, kaum dass sie stand. Er schob das Handy in die Manteltasche und hielt auf Cecil zu. Er sah blass aus. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wie ein Mensch auf Entzug. Aber er hatte nichts genommen, wenn er ihn richtig verstanden hatte. Seth wurde langsamer und traute sich nicht, ihn anzufassen, aus Furcht, dass sie beide zersplitterten.
„Seth!“ Cecil sah ihn wie ein Wunder an. Sein Blick war unruhig. „Ich …“ Er bewegte sich nicht und Seth nahm ihm sanft das Handy aus der Hand.
„Meinst du, du kannst deine Arme heben und sie um meinen Nacken legen?“, fragte er. Marvin kam schlitternd neben ihnen zu stehen. Seth wagte es jedoch nicht, sich ihm zuzuwenden.
Cecil wirkte verwirrt und Seth führte dessen Arme nach oben und war erleichtert, als sich sein Mann tatsächlich an ihm festhielt. Er dachte nicht darüber nach, was für einen Anblick sie boten. Er griff einfach unter Cecils Hintern und brachte ihn dazu, auf seinen Hüften zu ruhen, während er ihn fest an sich zog. Auf keinen Fall würde er ihn loslassen. Wenn Kerry und der Wagen nicht wären, er würde ihn bis nach Hause zurücktragen. Mit einem Seufzer schmiegte sich Cecil an ihn und es fühlte sich richtig an.
„In seiner Manteltasche hat er das Heroin“, informierte er Marvin leise. „Kerry soll es irgendwie entsorgen.“
„Fuck“, flüsterte Marvin und als sie beim Auto waren, gab er die Information samt des kleinen Päckchens, das er aus Cecils Tasche genommen hatte, an Kerry weiter. Dieser wirkte nicht sehr erfreut, schloss aber eilig hinter Seth die Tür, während Marvin sich neben ihm auf den Beifahrersitz setzte. „Ich hoffe, die Bullen haben uns nicht auf dem Kieker, nachdem wir die Ampeln fast alle überfahren haben.“
Seth war es egal. Er hielt die kostbare Fracht in seinen Armen und schob mit Marvins Hilfe Cecil auf die Rückbank. Der Mann war erschöpft. Seine Sachen waren nass und so, wie er sich anfühlte, ging das bis auf die Haut. Die Straßen hatten geglänzt, als sie losgefahren waren, und auch jetzt gab es überall Pfützen. Cecil musste den Schirm vergessen haben. „Ich bin so dumm“, wisperte er und lehnte sich gegen ihn, als er dazu stieg. „Ich …“
„Hör auf, dich zu quälen“, unterbrach ihn Seth. „Du hast jedes Recht dazu, kurzsichtig zu handeln. Ich bin nur froh, dass du es nicht zu Ende geführt hast.“
„Ist es wichtig für Sie, dass Sie gebraucht werden?“
Seth hatte das Gefühl, einen Schlag in die Bauchgrube zu bekommen. Er wandte sich Frau Dr. Farewell abrupt zu und musterte sie. Sie strahlte die Gelassenheit aus, die er bereits kannte. Es schien nicht viel zu geben, was diese Frau aus der Ruhe bringen konnte. Aber bei einem Beruf, wie sie ihn ausübte, war das empfehlenswert.
„Es scheint Sie zu treffen, dass ich das gesagt habe.“ Wieder die Stimme, die sich weder zu heben noch zu senken schien. Alles ein gleichmäßiger, emotionsloser Ton, der bei Licht betrachtet keine Rückschlüsse über Werte und Bewertungen lieferte. Was sie wirklich dachte, blieb auf diese Weise verborgen und sie war nur der Spiegel seiner eigenen Emotionen. Es war irritierend. Seth wandte sich wieder dem Ausblick nach draußen zu, ohne etwas zu sehen.
Die Frage, ob er es brauchte, dass er gebraucht wurde, berührte etwas in ihm. Die Antwort lag in der Frage selbst. Sie hatte ihn beobachtet und ihm zugehört. Aber war es so? War es ihm ein Bedürfnis, dass jemand hilflos und auf ihn angewiesen war?
Ganz von der Hand weisen konnte er es nicht. Objektiv betrachtet hatte er sich mit Männern umgeben, denen er half. Aber das war nicht der Grund für ihre Beziehung. Als er Cecil das erste Mal gesehen hatte, war es ihm wie bei Marvin ergangen. Er war ganz gewiss bis dahin kein Mensch gewesen, der an die Liebe auf den ersten Blick glaubte. Und dann traf er gleich zwei Männer, die beide zudem weiß waren, und er wurde von einer Unruhe gepackt, wie er sie nie kennengelernt hatte.
Seth schüttelte langsam den Kopf.
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