Ein bekannter Budapester Bankier kam mit seinem Sohn zu mir. Er hatte eine sehr ungewöhnliche Bitte. Er wollte, dass ich seinem Erstgeborenen den Wunsch, Mathematiker zu werden, ausrede. »Mathematik«, erklärte er, »ist eine brotlose Kunst.« Zunächst konnte ich ihm nicht folgen, aber dann sprach ich mit dem Jungen. Er war phänomenal. Noch keine siebzehn und schon dabei, die verschiedenen Konzepte der Unendlichkeit zu studieren, eines der größten Probleme der abstrakten Mathematik, und das ganz allein, ohne Hilfe. Ich erkannte mich sofort in ihm wieder. Als ich dreizehn war, hatte mein eigener Vater mir, obwohl ich ein echtes frühreifes Talent war, verboten, über Mathematik auch nur nachzudenken, nicht weil ihm meine geistige Entwicklung egal gewesen wäre, sondern weil er, wie er sagte, nicht wollte, dass ich zu einem komischen Kauz mit geistiger Schlagseite würde. Also habe ich höhere Gleichungen bis zur Universität erst gar nicht zu Gesicht bekommen. Eine Schande wäre das gewesen, den jungen Mann zu beeinflussen, weg von seiner natürlichen Neigung, aber eine Diskussion mit seinem Vater hätte nichts gebracht, das lag auf der Hand, er war nicht nur sehr wohlhabend, sondern auch Anwalt, also gab ich mir Mühe, sie zu einem Kompromiss zu bewegen. Der Junge sollte Chemiker und Mathematiker werden. Tatsächlich studierte er Chemieingenieurwesen an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (einer so anspruchsvollen Lehranstalt, dass Albert Einstein bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen war), schrieb sich gleichzeitig aber auch an der Universität Berlin und an der Universität Budapest für Mathematik ein. Ich weiß von keinem anderen Menschen, der sich ein solches Pensum aufgebürdet und Erfolg gehabt hätte, aber der Junge brauchte nur vier Jahre für seinen Abschluss in Chemieingenieurwesen und seinen Doktor in Mathematik. Pólya, einer seiner Professoren in Budapest, erzählte mir, er habe mit summa cum laude abgeschlossen, dabei habe er kaum je eine Vorlesung besucht, weil er die meiste Zeit in Deutschland gewesen sei, am Lehrstuhl von David Hilbert in Göttingen. Es verwundert daher nicht, dass er mit zweiundzwanzig an der Berliner Universität zum jüngsten Privatdozenten in der Geschichte dieser Hochschule wurde. Zum Dank, dass ich mich für ihn eingesetzt hatte, schickte mir von Neumann seine Dissertation. Sie hätte nicht ehrgeiziger sein können. Er trachtete nach dem Heiligen Gral.
Von Neumann hatte sich vorgenommen, die reinsten und grundlegendsten Wahrheiten der Mathematik zu finden und als unanfechtbare Axiome auszudrücken, Aussagen, die nicht widerlegt werden könnten und die widerspruchsfrei wären, Gewissheiten, die niemals verblassten oder entstellt würden und somit – einer Gottheit gleich – zeitlos wären, unwandelbar und ewiglich. Auf einem solch soliden Fundament könnten die Mathematiker dann ihre Theoriegebäude errichten und die facettenreiche Schönheit von Quantität, Struktur, Raum und Veränderung entfalten, ohne befürchten zu müssen, auf ein Ungeheuer zu stoßen, eine schreckliche, aus Paradoxien und Widersprüchen geborene Chimäre, die, erst einmal erwacht, womöglich den ganzen aufgeräumten und wohlgeordneten Kosmos in Stücke riss. Von Neumanns grandioses und, zumindest in meinen Augen, ein wenig törichtes Vorhaben, die Mathematik in einem formalen System von Axiomen einzufangen, war natürlich der Kern des Hilbertschen Programms, und der junge Mann hatte es sich eindeutig zu eigen gemacht.
In seiner extremen und absolutistischen Art war das Hilbertprogramm symptomatisch für seine Zeit, ein verzweifelter Versuch, Sicherheit zu finden in einer Welt, die außer Kontrolle geriet. Es nahm Kontur an in einer Epoche maximaler Veränderung. Überall um uns herum erhob der Faschismus sein Haupt, die Quantenmechanik erschütterte unsere Auffassung vom Verhalten der Materie in den Atomen, und Einsteins Theorien revolutionierten unsere Vorstellungen von Raum und Zeit. Doch worauf Hilbert, von Neumann und viele andere aus waren, ging vielleicht noch sehr viel weiter, denn schon damals beruhte, nicht anders als heute, ein immer größerer Teil des Wissens und der Technologie auf der Exaktheit und Unantastbarkeit der Königin der Naturwissenschaften. Worauf sonst können wir vertrauen? Es gibt so viele Götter wie Menschen, die an sie glauben, und die sogenannten »Humanwissenschaften« sind nicht besser als die Philosophie, nur sinnlose Spiele mit leeren Worten. Die Mathematik ist anders. Sie wurde immer wie eine Fackel hochgehalten, als das wahre Licht der Vernunft, blendend hell und unangefochten. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aber änderten sich die Dinge. Viele Mathematiker befürchteten, der Thron der Königin könnte anfangen zu wackeln und die einst fest sitzende Krone wäre nur noch ein unsicheres Schwanken auf ihrem Kopf. Je mehr Entdeckungen gemacht wurden, desto deutlicher zeigte sich, dass die Mathematik keine echte Grundlage besaß, auf die sich alle einigen konnten. Dieser nagende Verdacht – dass ihr ganzes Reich auf nichts beruhte – wurde bekannt als »Grundlagenkrise der Mathematik«, und es war die umfassendste Infragestellung der Disziplin seit der griechischen Antike. Diese Krise war eine seltsame Sache, und einige der originellsten und klügsten Köpfe der Welt waren an ihr beteiligt, aber im Rückblick kommt es mir eher vor wie die Suche eines Artus, bei der die Vernunft über ihre Grenzen hinausschweift, nur um am Ende mit einem leeren Kelch dazustehen.
Das mathematische Universum ist ähnlich aufgebaut wie die Pyramiden der alten Pharaonen. Jedes Theorem ruht auf einem tieferen und elementareren Substrat. Aber was trägt das Unterste der Pyramide? Lässt sich dort ein Festes finden, oder schwebt alles über der Leere wie ein verlassenes, im Morgenwind wehendes Spinnennetz, an den Rändern schon in Auflösung begriffen und zusammengehalten allein von den fragilen, immer dünner werdenden Fäden der Gedanken, der Gewohnheit und des Glaubens? Ich weiß noch, wie ich mit Freunden darüber gesprochen habe. Logiker? Nervenzusammenbrüche hatten die! Komplett traumatisiert. Paradoxien, wohin sie auch blickten. Die grundlegendsten Konzepte hinter der Geometrie schienen völlig unzureichend, sobald die unerklärlichen Formen des nichteuklidischen Raums ins Spiel kamen, wo sich bizarre Objekte tummelten und das Unmögliche nahelegten: Parallele Geraden – die sich niemals berühren dürften – schnitten sich im Unendlichen. Das ergab keinen Sinn. Auf einmal konnten Mathematiker ihren eigenen Argumenten nicht mehr trauen, es führte ihnen vor Augen, dass sie sich, vergleichbar dem einfachen Steinmetz, der den großartigen Bauplan der Kathedrale nicht kennt und schlicht vertrauen muss auf die Standfestigkeit der Pfeiler, die andere vor ihm errichtet haben, entweder weiter an den Glauben halten konnten oder aber vordringen mussten in die innersten Tiefen der Mathematik, um dort die Grundsteine zu finden, welche die Konstruktion stützten. Fundamente freizulegen aber ist immer heikel: Weiß irgendwer, was in der Logik unseres Universums an den Bruchlinien lauert? Welche Wesen schlafen und träumen inmitten des Wurzelwerks, aus dem das menschliche Wissen emporwächst? Die Grundlagenkrise der Mathematik war eine riskante Sache. Manche kostete sie ihren Ruf. Andere, wie Georg Cantor, verloren ihren Verstand.
Cantor war ein außergewöhnlicher Mensch. Er begründete nicht nur die Mengenlehre, ein wesentliches Teilgebiet der modernen Mathematik, sondern trug auch erheblich zur Grundlagenkrise bei, denn ihm gelang etwas, was eigentlich unmöglich sein sollte: Er erweiterte die Unendlichkeit. Vor ihm betrachtete man die Unendlichkeit als ein rein gedankliches Konstrukt, ohne reale Entsprechungen in der Natur. Und so, endlos, grenzenlos, größer als jede Zahl, war der Begriff vom Unendlichen eine äußerst nützliche (wenn auch ein wenig fantastische) Abstraktion, die sich jedoch als unglaublich mächtiges mathematisches Werkzeug erwies. Mit ihm konnten wir winzigste Veränderungen untersuchen, konnten Szenarien betrachten, denen ohne die betörende Mathematik des Unendlichen schlicht nicht beizukommen war, und dennoch hegte die Wissenschaft ein natürliches Misstrauen. Sowohl Platon als auch Aristoteles verabscheuten die Vorstellung von der Unendlichkeit, und nicht viel anders stand es um die Mathematiker. Bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts Cantor kam und uns zeigte, dass es nicht nur eine Art von Unendlichkeit gab, sondern eine große Vielzahl. Cantors These stürzte die gesamte Mathematik ins Chaos, denn in seiner enorm ausgeweiteten theoretischen Landschaft – in der jede neue Unendlichkeit größer zu sein schien als alles bisher Bekannte – wimmelte es von gefährlichen, sich selbst widersprechenden Vorstellungen und logischen Absurditäten, als wären sie der wirren Fantasie eines verrückten Gottes entsprungen. Mit seinen neuen Ideen schien Cantor beweisen zu können, dass es auf einer zentimeterlangen Geraden ebenso viele Punkte gab wie im ganzen Weltraum. Er hatte einen Riesensprung ins Unbekannte getan und etwas Einzigartiges gefunden, woran vor ihm noch niemand gedacht hatte, doch seine Kritiker, und das waren viele und sehr unterschiedliche, führten an, er sei einfach zu weit gegangen. Seine Unendlichkeiten könnten, so interessant sie auch sein mochten, niemals Gegenstand ernsthafter mathematischer Betrachtung werden. Doch Cantor legte einen Beweis vor, der unangreifbar schien. »Ich sehe es, aber ich glaube es nicht!«, schrieb er einem guten Freund, als er das Ergebnis hatte, und von nun an war sein größtes Problem, dass all die vielen anderen ebenso außerstande waren, diesen neuen und verwirrenden Glaubenssatz zu akzeptieren.
Cantor war in Russland geboren und aufgewachsen, einem Land, dessen Bevölkerung man tiefe Gefühle nachsagt, starke religiöse und politische Überzeugungen sowie einen gewissen Hang zur Tragik, was sich leicht als bloßes kulturelles Klischee abtun ließe, doch bei Cantor schien sich all das mit Leben zu erfüllen, und es mag zumindest teilweise auch sein kompliziertes und sperriges Verhältnis zu seinen eigenen Ideen erklären. Nach allen Schilderungen war er ein frommer Lutheraner und eine überaus empfindsame Seele. Während er seine Theorie in der Öffentlichkeit verteidigte, konnte er privat kaum umgehen mit den Folgen seiner unleugbar brillanten Entdeckung oder dem, was sie über die Welt zu sagen schien. In gewisser Weise hatte er, wie er seiner Tochter anvertraute, das Gefühl, das derart ausgeweitete Unendliche stelle Gott infrage. Oder zumindest den überholten Begriff, den wir von ihm und seiner Schöpfung hätten. Diese theologische Dialektik, bei der er den Ankläger und den Angeklagten spielte, schmerzte ihn genauso wie die üblen Attacken, die viele seiner Kollegen gegen ihn ritten. Der große Henri Poincaré nannte seine Theorie »un beau cas pathologique«, eine Krankheit, von der die Mathematik irgendwann geheilt werde, während andere sie als mathematischen Wahnsinn abtaten, als bloßen Humbug, »Nebel auf Nebel getürmt«. Sie scheuten sich nicht, ihn als wissenschaftlichen Scharlatan zu bezeichnen, als Verderber der Jugend. Nicht nur solche Beleidigungen gingen ihm nahe, auch die übertriebene Bewunderung, die seinen Ideen durch andere zuteilwurde. »Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können«, schrieb Hilbert. Doch statt den Beifall und die Anerkennung eines Mathematikers solchen Formats als Unterstützung und Wertschätzung zu begreifen, empfand Cantor Hilberts Lob als unwillkommen und überflüssig, denn er arbeitete nicht für Ruhm oder Geld, auch nicht, um seinen Namen in die Geschichte einzuschreiben. Nein, er folgte einem höheren Ruf, und das war die eigentliche Belohnung, etwas so Bedeutendes, dass es für ihn zum Selbstzweck geworden war. Von Kindesbeinen an hatte Cantor, wie er es nannte, »eine unbekannte geheime Stimme« gehört, die ihn antrieb, sich der Mathematik zu widmen. Später war er überzeugt, nur göttliches Wirken habe ihn in den Stand gesetzt, seine Unendlichkeiten zu entwickeln. Wie bei allen echten Offenbarungen glaubte er, die Menschheit würde so herangeführt an eine größere, transzendente Gewissheit. Doch das Gegenteil war der Fall. Niemand wurde schlau aus seinen Unendlichkeiten, und seine Gegner ließen nichts unversucht, ihm Steine in den Karriereweg zu legen und seine Forschungen zu behindern. Zweifellos wäre Cantor einer Professur an einer der führenden Universitäten Preußens würdig gewesen, aber so versauerte er in Halle und machte seiner Enttäuschung gegenüber einem immer kleiner werdenden Kreis von Freunden und Kollegen Luft: »Wenn aber«, schrieb er, »sich in breiten Schichten der Wissenschaft ein gewisser Horror Infiniti ausgebildet hat, lässt sich dieses Verhalten auch als eine Art Kurzsichtigkeit auffassen, welche die Möglichkeit raubt, das aktuale Unendliche zu sehen, obwohl es in seinem höchsten, absoluten Träger uns geschaffen hat und erhält. Jüngst erreichte mich unvermittelt ein Brief von Mittag-Leffler, in dem er zu meiner großen Verwunderung schreibt, nach reiflicher Überlegung halte er meine geplante Veröffentlichung für ›etwa hundert Jahre zu früh‹. Demnach müsste ich bis 1984 warten, was mir allerdings zu viel verlangt scheint! Was immer sie sagen, meine Lehre steht felsenfest, jeder gegen sie gerichtete Pfeil wird auf den Schützen selbst zurückschnellen.« Um seine Gegner durch Vervollständigung seiner Theorie zum Schweigen zu bringen, entwickelte Cantor eine unendlich aufsteigende Hierarchie von Unendlichkeiten, zugleich hatte er aber auch mit immer stärkeren und unkontrollierbaren manischen Phasen zu kämpfen, mit heftigen Anfällen, gefolgt von beklemmender Schwermut und dunkelster Depression. Es überkam ihn so regelmäßig, dass er nicht imstande war, sich mit Mathematik zu beschäftigen; stattdessen verwandte er seine grenzenlose manische Energie darauf, den Beweis anzutreten, dass Shakespeares Dramen in Wahrheit von dem englischen Philosophen Francis Bacon verfasst worden seien und dass Jesus der leibliche Sohn von Joseph von Arimathäa sei, Ansichten, die die Argumente jener umso glaubwürdiger erscheinen ließen, die sagten, er verliere langsam den Verstand. Im Mai 1884 erlitt er einen schweren Zusammenbruch und musste in die Hallenser Nervenklinik eingewiesen werden. Der Tochter zufolge machte seine Persönlichkeit im Verlauf dieser Krisen einen Wandel durch. Er schrie und brüllte die Krankenschwestern und Ärzte an, und dann saß er wie versteinert da, vollkommen still. Einer seiner Psychiater merkte an, dass er sich, wenn er nicht gerade tobe wie ein Berserker, paranoiden Fantasien hingebe und unter Verfolgungswahn leide, er bilde sich ein, es werde eine teuflische Intrige gesponnen, um ihm und seiner Arbeit den Boden zu entziehen. Zwischen den Zusammenbrüchen lehrte er weiter Mathematik und plagte sich weiter mit seinen Unendlichkeiten, doch die Ergebnisse setzten ihm derart zu, dass er in eine seltsame Schleife geriet, aus der er sich nicht zu befreien vermochte: Zuerst bewies er, dass die große Hypothese, der er nachtrachtete – die inzwischen in Verruf geratene Kontinuumshypothese –, richtig war, und dann, ein paar Monate oder auch nur Wochen später, dass sie falsch war. Dieser Teufelskreis aus richtig und falsch, richtig und falsch, richtig und falsch nahm kein Ende und verschärfte das Elend, das zum Signum seiner späteren Jahre werden sollte. Am 6. Januar 1918 schließlich, nach dem Tod seines jüngsten Sohnes, zahlreichen Krankheiten, Mangelernährung und Armut in der Zeit des Ersten Weltkriegs, starb Cantor an einem Herzanfall in der Universitäts-Nervenklinik Halle, wo er seine sieben letzten Lebensmonate verbracht hatte.
Für die Mathematik war Cantors Tod eine Tragödie, was jedoch an dem Streit, ausgelöst durch seine Unendlichkeiten, nichts änderte. Als Opfer einer unbegreiflichen Idee musste Cantor büßen für das großartige Geschenk, das er uns gemacht hatte, aber er war durchaus nicht der Einzige, der sich über die Grundlagenkrise den Kopf zermarterte. 1901 hatte Bertrand Russell, einer der führenden Logiker Europas, ein fatales Paradoxon der Mengenlehre entdeckt, und es wurde für ihn zu einer wahren Obsession. Selbst wenn er tief und fest schlief, ließ es ihm keine Ruhe, denn immer wieder träumte er davon. Um es zu beseitigen, schrieben Russell und sein Kollege Alfred North Whitehead ein umfangreiches Werk, das die gesamte Mathematik auf die Logik zurückführen sollte. Sie benutzten keine Mengenaxiome wie Hilbert und von Neumann, sondern wandten eine extreme Form des Logizismus an. Die Grundlagen der Mathematik hatten für sie logisch zu sein, und so machten sie sich daran, die Mathematik auf ein neues Fundament zu stellen. Was alles andere als eine leichte Aufgabe war: Die ersten siebenhundertzweiundsechzig Seiten ihrer gigantischen Abhandlung, der Principia Mathematica, waren allein dem Beweis gewidmet, dass eins plus eins gleich zwei ist, von den Autoren mit dem trockenen Kommentar versehen: »Die Aussage ist gelegentlich nützlich.« Russells Versuch, die Mathematik aus der Logik herzuleiten, scheiterte jedoch ebenfalls, und statt von dem Paradoxon träumte er einen neuen, immer wiederkehrenden Albtraum, der seine Unsicherheit über den Wert der eigenen Arbeit zum Ausdruck brachte. In diesem Traum schritt Russell durch die Gänge einer endlosen Bibliothek mit Treppen, die sich in den Abgrund hinabwendelten, und einer hohen, gewölbten Decke bis in den Himmel hinauf. Als er stehen blieb, sah er einen hageren jungen Bibliothekar, der die Regale entlangging, an seinem Arm hing ein Metalleimer, wie man ihn zum Wasserschöpfen am Brunnen benutzt, darin ein ewig brennendes Feuer. Er nahm die Bücher eines nach dem anderen heraus, die Einbände staubbedeckt, schlug sie auf, blätterte die Seiten durch, stellte sie zurück oder warf sie in den Eimer, damit die Flammen sie vernichteten. Russell sah zu, wie er vorrückte, und wusste genau, mit dieser Gewissheit, die wir nur aus Träumen wirklich kennen, dass der junge Mann auf das letzte noch erhaltene Exemplar seiner Principia Mathematica zusteuerte. Als er es hervorzog und darin blätterte, versuchte Russell angestrengt, die Miene des Mannes zu deuten. War es der Anflug eines Lächelns, was da über seine Gesichtszüge kroch? War es Abscheu? Langeweile vielleicht? Verunsicherung? Verachtung? Der junge Mann stellte den Eimer ab, die Flammen leckten an seinen Fingerspitzen, und so blieb er stehen, reglos, das Buch in den Händen, die Muskeln angespannt unter dem überschweren Gewicht, und auf einmal sah er zu dem alten Logiker herüber, woraufhin der in seinem Bett aufwachte, schrie, nicht wusste, welches Schicksal sein Werk erwartete.
Russell und Whitehead füllten mehr als zweitausend Seiten mit einem dichten Wust von Anmerkungen und schwer verständlichen logischen Schemata, um eine vollständige und konsistente Grundlage der Mathematik zu schaffen. Dagegen war von Neumanns Dissertation so knapp, dass sich sein Satz von Axiomen auf einem einzigen Blatt Papier niederschreiben ließe. Zwar stellte sich später heraus, dass auch dieser Versuch fehlschlug, doch seine Kühnheit und seine Prägnanz blieben nicht unbemerkt, und im Kreis seiner Kollegen war er bald genau dafür berühmt. Seine Doktorarbeit war eine frühe Demonstration ebenjenes Stils, durch den all seine späteren Arbeiten bestachen: Er stürzte sich auf ein Thema, brach es auf seine bloßen Axiome herunter und machte, was immer er analysierte, zu einer Frage der reinen Logik. Diese fast schon außerweltliche Fähigkeit, ins Herz der Dinge zu schauen, oder – von der anderen Seite her betrachtet – diese bezeichnende Kurzsichtigkeit, die es ihm erlaubte, in nichts anderem als in Grundbegriffen zu denken, war nicht nur der Schlüssel zu seiner Genialität, sondern auch die Erklärung für seine fast kindliche moralische Blindheit.