ersten Seiten durchblätterte, sah ich nichts als ein fröhliches Gesicht. Die Mundwinkel leicht hochgezogen und dazwischen die Zurschaustellung von Emaille. Das Lächeln war aufgesetzt, vergleichbar einem Gebiss, einer abnehmbaren Klappe, es hatte ein Eigenleben. Sein ovaler Stempel prägte das erste Foto und kehrte unermüdlich wieder, wie ein Motiv auf einem Stoff. Es haftete nicht so recht am Rest des Körpers. Eher glich es einem Schmuckstück, einem Collier, einer Art Heiterkeitskette, etwas, was man anlegen und wieder ablegen kann. Als könnte man es an den gepunkteten Linien ausschneiden und mit Gummibändern hinter den Ohren befestigen, wie einen Schutz.
Es war allgegenwärtig, strahlte aus der Mitte des Rahmens und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, ohne dabei Aufsehen zu erregen. Es war von einer steinernen Schwere, ohne Ausdruck. Es blieb stumm. Es war keine Lücke, auch kein Spalt, sondern ein volles Lächeln, ein hermetisches Lächeln, das nur ein Diamantfunkeln zurückwarf. Vergeblich suchte man darin eine Spur von Ironie, eine Leichtigkeit, ein Jubeln, den Ausdruck eines besonderen Gefühls, einen Anflug von Doppeldeutigkeit. Ein Lächeln spricht. Ein Lächeln ist vergänglich, es dauert nur einen Augenblick. Dieses da schien aus einem Block Kunstharz geformt. Es musste das Werk eines Kieferorthopäden sein. Solide und leuchtend mit Zehnjahresgarantie.
Entsprach es dem Anlass? Eine Kamera ist im Allgemeinen mit kollektiver Freude verbunden und entspannt die Muskeln. Hier erfolgte das Lächeln auf mechanischere Weise, ähnlich dem Apparat, der es aufgenommen hatte. Der Ort lud nicht zum Sich-Gehen-Lassen ein. Er animierte eher zu strammer Haltung. Wie soll man einem Roboter gegenüber natürlich bleiben? Kann man in einem Metallkasten lebendig und munter sein? Dieser Mimik aus der Konserve mangelte es an Frische, und unweigerlich wurde sie zur Grimasse, zum nervösen Tick.
Trotz ihrer Bedingtheit weckte diese Halbmaske meine Neugier. Sie bildete den Fixpunkt eines lebenden Bildes. Das Scharnier, um das sich alle anderen Elemente drehten: die Kopfhaltung, die Anordnung der Haare, die Kleidung, die Gesten der Hände. Lauter Glimmer, die sich unendlich neu bildeten wie bei einem sich um die eigene Achse drehenden Kaleidoskop. Der Eindruck war so stark, dass ich anfangs glaubte, ich hätte es nicht mit einem, sondern mehreren Individuen zu tun, ein jedes reduzierbar auf ein paar unveränderliche Attribute, und alle mit demselben maskenhaft verzerrten Lächeln versehen.
Der optische Effekt hielt einer aufmerksameren Prüfung nicht stand. Hinter dem Auftaktlächeln steckte nur eine einzige Person. Ein Unbekannter, reduziert auf seine Herme, ein Rumpfmensch mit einem Arm, eingesperrt in ein kleines Papierrechteck mit weißem Rand. Abzüge in Standardgröße: 3,5 Zentimeter breit, 4,5 Zentimeter hoch, das für einen Pass oder einen Führerschein vorgesehene Format. Was gibt es Alltäglicheres? Das Ausweisfoto gehört zu den verbreitetsten Dingen der Welt. Administrative Überbleibsel, Spiegel einer verlorenen Jugend — wir alle besitzen ein paar aus dem Verkehr gezogene Exemplare davon, irgendwo tief in einer Schublade vergraben.
Betrachtet man diese vorschriftsmäßigen oder dazu erklärten Porträts einzeln, so sind sie offen gestanden nur von mäßigem Interesse. Bis auf wenige Ausnahmen provozieren sie keinen besonderen Kommentar. Das ist unvermeidlich. Ein Fotoautomat wirkt keine Wunder. Extrem vereinfachte Regeln der Bildaufnahme, Verwendung von Blitzlicht, das jede Tiefenwirkung auslöscht, um ein einheitliches Bild zu erhalten, mit vorgeschriebener Bildeinstellung und Entfernung. All diese aufeinanderfolgenden Gesichter waren in dieselbe monotone Form gebracht.
Mich verblüffte ihre Anzahl. Sie bildeten eine kompakte Masse, eine homogene Vielzahl, hervorgegangen aus Teilungsvermehrung derselben Matrix. In senkrechten Vierer- oder Fünfer-Streifen zogen sie hinter einem Zellophanfilm vorüber, gerade, unerschütterlich, wie eine Armee von Klonen. Sie waren aneinandergedrückt, eng auf durch die Jahre vergilbte kartonierte Blätter nebeneinandergeklebt und füllten ein ganzes Heft.
Mit seinem zwischen den Händen klebrigen Einband aus grünmarmoriertem Kunstleder, übersät mit kleinen schwärzlichen Runzeln ähnelte das Album einem alten Zauberbuch. Es war schwer, voluminös, völlig verstaubt und verströmte den Mief des Elends. Man erwartete, kabbalistische Zeichen darin zu entdecken oder okkulte Riten. Man stieß auf hunderte von Selfies. Genau gesagt auf dreihundertsiebenundsechzig Schwarz-Weiß- und zwei Farbbilder, alle oder fast alle in einem Fotoautomaten aufgenommen, wie es der immer selbe Rahmen, die starre Brennweite, das von vorn kommende Licht und der unvermeidliche Vorhang im Hintergrund bezeugten.
Dies hatte nichts von den disparaten Ensembles, die im Laufe der Jahre angehäuft werden, mit hier und da zusammengelesenen Erinnerungen, die man in ein und demselben Band vereint, weil sie ja irgendwo abgelegt werden müssen. Das Objekt, das ich zum ersten Mal sah, zeugte nicht von Zufall, Nostalgie oder Seltenheit, von sorgfältig bewahrten Augenblicken, sondern von Serienproduktion und maschineller Fertigung. Es trug Merkmale eines methodischen, gleichsam zwanghaften, unbegrenzten Projekts.
»Der Typ ist doch gaga, findest du nicht?«, warf mir die Filmproduzentin zu, als ich wieder aufblickte. Bei allem bekundete sie die gleiche Begeisterung. »Als ich das gesehen habe, also … — der totale Wahnsinn!« Aus Gewohnheit hatte sie mich sofort geduzt. Dieselben professionellen Reflexe brachten sie dazu, es mit Superlativen zu übertreiben und die Hälfte ihrer Sätze zu verschlucken. Als sie mich zum Mittagessen in einen vietnamesischen Imbiss gegenüber dem Büro ihrer Les Copains d’abord getauften Produktionsfirma einlud, hatte ich gerade meine Stelle verloren. Schon lange hoffte sie, etwas aus dem vier Jahre zuvor auf dem Flohmarkt gefundenen Album zu machen. Sie wollte es mir anvertrauen, damit ich den Stoff für ein Filmexposé daraus ziehe. Sie schwankte zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zwischen einer, wie sie sagte, »realistischen Schiene« und einer anderen, »verrückteren«, »durchgeknallteren«. Ihren Reden nach schien alles offen. Ich konnte meiner Phantasie freien Lauf lassen. »Und wenn aus dem Film nichts wird, kannst du immer noch ein Buch draus machen«, fügte sie hinzu, um mich zu überzeugen.
Sie sagte, sie sei fasziniert von dem jungen Mann und seiner seltsamen Manie, Bilder mit seinem Abbild anzuhäufen, die, endlosen Veränderungen und unendlichen Metamorphosen unterworfen, alle Möglichkeiten seines Wesens zu erkunden schienen. Er war eins und vielfältig zugleich. Er sammelte sich und andere. »Er ist Jemand und alle Welt zugleich«, wie die Produzentin ganz richtig bemerkte.
Er begnügte sich nicht damit, einen mit seinem Raubtierlächeln von vorn anzusehen. Auf Dauer schien er dieses »cheese« auf Kommando müde zu werden. Vielleicht ein Krampf der Gesichtsmuskeln? Zwischen zwei weißen Wänden zeigte er sein wie mit der Gartenschere geschnittenes Profil, meistens das rechte, zog die Lefzen auseinander und betrachtete die Decke oder vielleicht ein himmlisches Jenseits. Von übernatürlichem Licht angezogen, befand sein Gesicht sich plötzlich in Ekstase. Gelegentlich posierte er auch in Dreiviertelansicht, die Augen wieder erhoben, erfasst nicht von der Gnade, sondern von einem entschlossenen Optimismus, einer strahlenden Zukunft zugewandt, einem neuen Morgen, wie ein Kandidat auf einem Wahlplakat.
Ab der Hälfte der Sammlung schien er allmählich von Melancholie erfasst und stellte eine traurige Maske à la Buster Keaton zur Schau. Auf mehreren Seiten zeigte er sich phlegmatisch und umwölkt. In Gedanken versunken, schien er der Präsenz des Objektivs gegenüber gleichgültig, schloss die Lider, ließ sich hängen. Klick! Er tat, als sei er verkatert, mit halb geschlossenen Augen, hängenden Lippen. Klick! Hielt sich den Kopf, als würde er explodieren. Klick! Heuchelte Langeweile, indem er ein Gähnen unterdrückte. Klick! Rauchte eine Zigarette, die er deutlich sichtbar zwischen Mittel- und Zeigefinger hielt. Und fand dann seinen Schwung wieder und lachte schallend. Klick! Oder zeigte ein galligeres, höhnischeres Grinsen. Klick!
Erneut gab er den Hanswurst. Er spielte. Den jungen Liebhaber, den Ganoven, den vorbildlichen Angestellten, den Geheimagenten, dunkle Brille und grauer Anzug. Er schlüpfte in Rollen. Hier Elvis, pomadisiertes Haar, offenes Hemd mit Spitzkragen und einschmeichelnd verzogenem Gesicht, hier Rasputin, mit aufgerissenen Augen, wirrem Haar. Ein dem Irrenhaus entsprungener Prophet.
Jedes Mal war es eine andere Schnurre. Hatte da jemand von der anderen Seite des Vorhangs gerufen? Er spitzte das Ohr und formte, demonstrativ wie ein lauschender Pierrot, mit der Hand ein Hörrohr. Ein paar Seiten weiter dann die verliebten Augen eines Crooners, inszeniert wie im Pariser Studio Harcourt, Kinn auf dem Zeigefinger, Daumen an der Wange, Fliegeruhr am Handgelenk, rebellische Strähne, weit über die karierte Jacke geöffneter Hemdkragen. Er vollführte eine Pantomime. Er erzählte uns stumm. Wenn er den Mund so weit aufriss, dass er sich schier den Kiefer ausrenkte, hörte man fast, wie er ein Aaa! ausstieß, als sei er beim Arzt. Blatt für Blatt reihte er seine Nummern aneinander, mit einem abwechselnd befriedigten, komplizenhaften, erstaunten, spaßvogelhaften, spöttischen, unbestimmt schielenden, ernsten oder besessenen, fast verrückten, beinahe beängstigenden Gesicht.
Manchmal wirkte es, als machte er Werbung für einen Laden mit Haarteilen aller Art: ein sorgfältig gestutzter Hipsterbart, der üppige Vollbart eines alten Seebärs, mephistophelischer Spitzbart, Rockabilly-Koteletten, Bürsten- oder Pyramidalschnurrbart … Er änderte die Haartracht fast ebenso häufig wie die Art der Kleidung. Er sah seinen Fotoautomaten als Anprobekabine, wechselte vom Anzug zu legerer Kleidung, zu einem hellen, weichen Lederblouson, einer Lammfelljacke, dem Ölzeug eines Matrosen oder einem Trevira-Rollkragenpullover, wie die Compagnons de la chanson ihn trugen. Auf Dauer muss er seinen gesamten Kleiderschrank ausgeschöpft haben. In regelmäßigen Abständen sah ich ihn mit denselben Kleidungsstücken auftauchen, im Rhythmus seiner Waschtage, wie ich vermute, seiner beruflichen Verpflichtungen oder ganz einfach seiner Vorlieben. Um ein wenig Abwechslung in die Sache zu bringen, erlaubte er sich hier und da eine kleine Laune: ein Seidentuch, ein Schal mit Schottenkaro, ein Satin-Disco-Hemd, eine geblümte Krawatte, ein wie ein Strampelanzug gestreiftes Unterhemd.
Auf das Vorsatzblatt hatte er geschrieben: »Album des Jahres 1973-1974«. Im Singular, als würde er sich auf ein Universitätsjahr oder einen mit einem Examen abzuschließenden Zyklus beziehen. Die Zeitangabe rief den Putsch von Pinochet in Erinnerung, das Ende des Vietnamkrieges, Ponchos aus Lamawolle, indische Kleider, Räucherstäbchen, die Tour Montparnasse oder die Filme von Pierre Richard. Und wenn sein Lächeln das eines Post-68er-Studenten war? Wenn es einer Epoche entsprach? Einem Befehl zum Glück? Einem Aufruf zu grenzenlosem Genuss? Und wenn das alles nichts als der Ausdruck einer hedonistischen, narzisstischen Jugend war? Das Symbol einer Unterhaltungsgesellschaft?
Seine Fotositzungen müssen sich über einen langen Zeitraum erstreckt haben. Man tauscht einen sorgfältig getrimmten Schnurrbart nicht mit einem Fingerschnips gegen einen dichten Vollbart. Seine unzähligen Haar- und Bartwechsel bezeugten das Vergehen der Zeit. Es war, als sähe man jemandem im Zeitraffer beim Altern in einer rostfreien Konserve zu. Beim Durchblättern seines Portfolios sah ich, wie seine Züge massiger wurden und sich die ersten Fältchen um die mandelförmigen Augen zeigten. Sein gesamtes Gesicht war in Bewegung, entwickelte sich ruckartig, wie bei einem Daumenkino für Kinder.
Ich hatte nicht mehr den lachenden Mann vor mir, sondern eine einsame und verletzliche Persönlichkeit. Er erschien mir wie ein Gefangener, der an sein eigenes Bild gefesselt ist. Seine Box war sein Panoptikum, sein Isolationstrakt, seine Taschenzelle. Im französischen photomaton steckt das Wort maton, der Gefängnisaufseher. Ein Wärter für Gesichtsdelikte. Ein Satz von Guy Debord kam mir in den Sinn: »Je mehr er betrachtet, desto weniger lebt er.«
Man sucht sich eine Geschichte nicht aus. Sie drängt sich einem auf. Plötzlich springt sie los, ohne Vorwarnung, einfach so. Man vertreibt sie. Sie kommt zurück. Auf den ersten Blick betrifft sie einen nicht. Sie scheint sogar ziemlich weit von unseren Sorgen und Interessen entfernt, und doch trifft sie einen. Man versucht, zu verstehen warum, aber es gelingt einem nicht. Man weiß nicht, von welcher Seite man sie packen soll, bis zu dem Moment, wo man eine vertraute Note wahrnimmt, wie ein dumpfes Echo unserer eigenen inneren Musik, und langsam lässt man sich anstecken. Die Geschichte geht einem nicht aus dem Kopf, wie ein Ohrwurm. Man wird müde, sie immer wieder aufzuwärmen, aber es ist unmöglich, sich von ihr zu befreien. Allmählich beherrscht sie einen. Und jetzt gibt es nur noch eine einzige Möglichkeit, um sie loszuwerden: sie zu schreiben.
Aber selbst dort, vor dem Bildschirm, ist man nicht stärker Herr der Situation. Die Geschichte spielt einem Streiche, sie verwickelt einen, und manchmal verschlingt sie einen mit Haut und Haar. Ohne es zu wollen, gehört man dazu, wird man zu einer ihrer Figuren. Diese Geschichte begnügte sich nicht damit, mich heimzusuchen, sie begann, mich in eine lange Reihe von Prüfungen hineinzuziehen.
Am Anfang ging es nur um eine Schnitzeljagd, die Verfolgung eines Unbekannten, darum, sein Leben zu rekonstruieren oder, wo das nicht ging, es zu erfinden. Ein Album ist in seiner wortwörtlichen Bedeutung ein weißes Blatt. Man kann es füllen, womit man will.
Bei jedem unserer Treffen äußerte die Produzentin neue Mutmaßungen über ihn, den sie der Einfachheit halber »John Doe« nannte. An einem Tag war er »bekloppt«, am nächsten »schwul«, am dritten machte sie eine Art Fantomas aus ihm, eine im Verborgenen lebende, nicht zu greifende Person. Sie war überzeugt, sein Album verberge ein Geheimnis. Wegen eines auf der hinteren Innenseite des Umschlags eingeklebten, mit den Jahren verblassten Etiketts. Ein gelbliches Rechteck, dessen Aufschrift, in fetten Großbuchstaben verfasst, wie um ihre Wichtigkeit zu betonen, ich mehrmals las: »IM FALLE EINES UNFALLS BITTE KONTAKTIEREN: Israelisches Konsulat, 3 rue Rabelais, Paris 8e.«
Was suchte er mit seinem Scanner zu erkennen? Sich selbst? Irgendetwas in ihm? Eine in seinem tiefsten Inneren verborgene Wahrheit? Und was tat er, wenn er wieder aus ihm hinaustrat? Ging er nach Hause? Hatte er überhaupt eine Wohnung? Eine Frau? Kinder? Freunde? Einen Beruf? Oder lebte er nur für diese kurzen Momente in den Strahlen seiner Maschine? Wie viel Zeit ließ er zwischen zwei Sitzungen vergehen? Ein paar Tage? Mehrere Wochen? Wechselte er jedes Mal den Automaten, um seine Spuren zu verwischen, oder kehrte er immer wieder an denselben Ort zurück, aus Gewohnheit oder Fetischismus? Was für ein Gesicht machte er, wenn er wieder ins echte Leben zurückkehrte? Jenes, das er auf seinem weißen Streifen zur Schau trug? Zeigte er sein versteinertes Lächeln in der Menge oder behielt er es seinem Einwegspiegel vor? Da ich ihn nur in der Abschottung gesehen hatte, stellte ich ihn mir öffentlichkeitsscheu vor, schweigsam und zerstreut, als Träumer, eher der Betrachtung als der Aktion zugeneigt. Sicher zu Unrecht. Ich hatte keinerlei Gewissheit, was ihn betraf. Nur Fragen.
Wie sah er nach all diesen Jahren wohl aus? Ich hatte ihn nur auf seinem Drehhocker gesehen, in einer erstarrten Pose, sozusagen querschnittsgelähmt. Ich wusste nicht, ob er klein oder groß war, schmächtig oder dickbäuchig. Hätte ich ihn überhaupt erkennen können, wenn ich ihm zufällig auf der Straße begegnet wäre? Jede Personenbeschreibung hat ein Verfallsdatum, ab dem sie ihre Gültigkeit verliert. Zu allem Überfluss fehlte mir das Wesentliche: sein Blick, der nur im Austausch, in der Konfrontation mit jemand anderem erfasst werden kann, seine ihrem Wesen nach flüchtige Mimik, seine Art, sich zu halten, zu gehen, die Schwerfälligkeit oder Lebhaftigkeit seiner Gestik, die Modulation seiner Stimme, all das, wodurch er sich von seinen Mitmenschen unterschied, was nicht auf einer Platte festgehalten werden kann, so empfindlich sie auch sein mag, jenes unmerkliche Etwas, das bewirkte, dass er er war und nicht jemand anderes.
Lebte er noch? Das Schicksal seines grünen Hefts, die schlichte Tatsache, es in den Händen zu haben, verleitete leider dazu, das Gegenteil zu glauben. Ein derartiger Gegenstand, der den Körper, die Intimität berührt, landet nicht einfach so auf der Stellage eines Trödlers. Man verstreut kleine Stücke seiner selbst selten in der Gegend, außer vielleicht, man will irgendetwas entkommen, in einer Art reflexhafter Selbstverstümmelung, so wie eine Eidechse ihren Schwanz abwirft.
Die Produzentin war in diese alten Fotos vernarrt, die ihr gelegentlich als Arbeitswerkzeuge dienten. Da sie so viele Erinnerungen von anderen sammelte, meist auf Märkten, über Trödler, die sie kannte, hatte sie eine Regel daraus abgeleitet, die den Vorteil bot, die heikle Frage des Rechts am eigenen Bild zu klären: »Wenn du so was findest, kannst du sicher sein, dass die Person verstorben ist«, sagte sie immer.
Ein herrenloses Album als Todesanzeige. Ich verstand nicht, warum ich solche Traurigkeit empfand bei dieser letztlich banalen Vorstellung, die einer sich der Vergangenheit widmenden Kunst inhärent ist. Auch wenn mir klar war, dass die Fotografie ihrem Wesen nach festhält, was nicht mehr ist, weigerte ich mich anzuerkennen, dass all diese Augen, diese kleinen Strahlen, die nach ihrer jahrzehntelangen Reise bis zu mir gedrungen waren, zu einem toten Stern gehören konnten.
Ich misstraue Bildern, Bildschirmen, allem, was als Hindernis zwischen mir und den anderen steht. Sprechanlagen schüchtern mich ein. Gitter verursachen mir Beklemmung. Heutzutage, da ein Glas billiger Wein, vor dem Spion eines Computers geschwenkt, den Aperitif unter Freunden ersetzt, verabscheue ich Filter und Barrieren mehr denn je. Ich habe auf diese erzwungene Virtualisierung der Welt nicht zu warten brauchen — ich war schon immer überzeugt, dass nichts eine Begegnung ersetzt. Die Blinden haben recht. Wie sie glaube ich nur an die Berührung, an den Gehörsinn, den Atem, den Geruch, an Umarmungen. Der Rest ist nur Illusion. Ich schätze das Tête-à-tête, nicht das Vis-à-vis, diesen Abgrund zwischen Häuserfronten. Fenster zum Hof gebären nichts als Missverständnisse und Trugbilder.
Nichts Kälteres, Glatteres, Trügerischeres als ein standardisiertes, der Norm entsprechendes Bildnis. Kann man, von einem Oberkörper ausgehend, ein ganzes Leben rekonstruieren? Ich verfügte nur über ein Detail, eine Synekdoche. Ein Teil für ein Ganzes, vergleichbar einer Reliquie. Ich musste diesem Fragment zurückgeben, was es zu Beginn vermeintlich herstellen sollte: eine Identität.
Die würde ich nicht auf dem Flohmarkt finden. Mein Verkäufer, misstrauisch, ohne dabei aggressiv zu sein, immer auf dem Sprung, selbst wenn er nichts zu tun hatte, sträubte sich, die Herkunft seiner Ware preiszugeben. »Ich hab keine Zeit«, erklärte er mir jedes Mal, auch unter der Woche, als sein Stand am Rand des Gehsteigs menschenleer war. Mit den Händen in den Taschen und den gekrümmten Schultern wirkte er verschlossen wie eine Auster. »Ruf mich später an«, fügte er hinzu und deutete auf die Handynummer hinten auf seinem Lieferwagen. Seine Freundlichkeit beschränkte sich aufs Duzen. Meine Anrufe kamen immer im unpassenden Moment. »Ich kann jetzt nicht mit dir reden, ich bin grade bei Kunden«, antwortete er mit den immer selben Worten, was in seinem Mund bedeutete, dass er eine Wohnung auflöste.
Trödler geben nicht gern preis, wie sie zu ihrer Ware kommen. Wenn man sie über die Herkunft ihres Sammelsuriums fragt, greifen sie zu einem vagen Begriff, der es ihnen erspart, die Umstände genauer anzugeben, unter denen sie es erworben haben. Sie sagen, sie hätten es irgendwo »rausgezogen«, wie jemanden, den man aus der Klemme zieht. Woraus genau? Aus einer Rumpelkammer? Aus einem anderen Verkaufsstand? Einem Müllcontainer? Unmöglich, sich zu erinnern.