Da bist du also, ungebunden, reduziert auf deine Momentaufnahmen. Du bist nur noch ein Posten herrenloser Fotos. Ein Haufen anonymer Aufnahmen, die schnellschnell in eine Kiste oder einen Müllsack geworfen wurden. Du bist eins geworden mit deinem Buch aus einem anderen Jahrhundert. Deine Hülle erlaubt dir noch zu wirken, eine ganze Welt zu eröffnen, nicht nur eine Folge lebloser Gesichter zu sein. Deiner Haut aus Kunstleder beraubt, würdest du zerfallen.

Früher, wenn du in deiner verchromten Kabine saßest, hast du auf ein grelles plötzliches Licht gelauert. Du wartetest darauf, erhellt zu werden. Vielleicht über dich selbst. Du sammeltest Identitäten. Du wolltest jemand sein, oder aber sein wie jedermann. Du bist niemand mehr. Nur noch eine Silhouette. Ein Torso, ein Lächeln, Augen, unzählige Augen. Ein Feld voll erblühter Sonnenblumen. Eine lichtempfindliche Oberfläche, ein Papier-und-Gelatine-Tiger.

Als Ausschuss bestehst du fort. Um dich herum riecht es ranzig, alt, muffig. Alles löst sich auf. Neben dir Bedeutungsloses, Unförmiges, ein Haufen zusammengewürfelter Dinge, die nichts gemein haben als ihre Herkunft, Kram, der vielleicht wieder zu etwas dienen kann. Du bist zur res nullius erklärt worden, herren- und rechtlos. In diesen Haufen gemischt, bist du auf Gedeih und Verderb dem Erstbesten ausgeliefert.

Eines Sommermorgens tauchst du in einem einstigen Vorort von Paris wieder auf, auf einem halbmondförmigen Platz, den ein kleiner Glockenturm und eine Halle mit rotem Ziegeldach dominiert. Du bist an Bord eines schwankenden Lieferwagens der Marke Iveco hergekommen. Die Kraftprotze, die dich befördern, wahrscheinlich Bulgaren oder Rumänen, üben den Beruf des Trödlers aus, wie die blauen Buchstaben auf der weißen Rückseite ihres Fahrzeugs verraten: »Gewerbe- und Haushaltsauflösungen. Entrümpelungen aller Art.«

Noch ein paar Minuten lang bist du Teil eines Ganzen. Einer Gesamtheit von mehr oder weniger zusammenpassenden Elementen, die kurz zuvor noch das ausmachten, was man einen Hausrat nennt. Dinge, die ihren Platz hatten, eine Funktion erfüllten, eine Rolle spielten, so bedeutungslos diese auch gewesen sein mag. Kurz gesagt, sie bildeten ein Ensemble. Sie waren Orientierungspunkte im begrenzten Raum eines Schlaf- oder Wohnzimmers. Vielleicht stellten sie ein Kapital dar, eine verhandelbare Summe auf einer Verkaufsplattform im Internet, und hatten einen sentimentalen Wert. Man liebte sie weniger um ihrer selbst willen denn als Metaphern. Sie bargen Erinnerungen, drückten einen Geschmack, eine Lebensform, einen sozialen Status, einen Habitus aus. Selbst in einen Keller oder Speicher verbannt, blieben sie von einer Aura umgeben und gehörten zu einer vertrauten, beruhigenden Welt.

Und du? Wo hatte man dich platziert? Gut sichtbar in einem Regal? Flach ausgelegt, auf einem Verkaufstisch? Dem Blick aller ausgesetzt? Oder unter Zeitungsstapeln vergraben, verlegt in einer Abstellkammer wie die Erbschaft einer anderen Epoche, einer abgeschlossenen Vergangenheit, die man lieber vergisst? Vielleicht fiel es dir schwer, zu dem zu stehen, was manche als eine narzisstische Übung ansehen könnten, als eine Art Onanie, ein etwas schuldhaftes, mit Festpreis und Zeitvorgabe versehenes Vergnügen, bereitgestellt durch einen Automaten, der auf der Straße anschafft.

Nach der ersten Sichtung auf dem Asphalt landest du auf der schäbigsten Seite des Flohmarkts, die allem vorbehalten ist, was sich so ansammelt, das heißt aller Art von Krempel. Berge von Klamotten neben Metallwaren, haufenweise zerfledderte Bücher neben Stapeln gebrauchter Schallplatten. Zwischen diesen Haufen flaniert eine überwiegend männliche Kundschaft, in fortgeschrittenem Alter und, soweit man das beurteilen kann, in prekären Verhältnissen lebend.

Das ist kein Markt, sondern ein Trichter, ein brodelndes Meer, ein riesiger Wirbel voller Lärm und Schaum. Widerstreitende Kräfte schleudern auf diese Klippen, was die Stadt nicht mehr will, was im Weg steht oder überquillt, was zerfällt. Einem Wattenmeer ähnlich füllt und leert er sich in festen Intervallen. Tagtäglich nimmt diese in einen Meeresfriedhof verwandelte Kreuzung neues Strandgut auf.

Um in dieses schwarze Loch zu geraten, musst du ein gewaltiges Ereignis durchgemacht haben, irgendeinen Sturm. Vielleicht einen Unfall.

Männer ziehen aus ihren in zweiter Reihe geparkten Kombis die Bruchstücke eines Lebens. Sie leeren den gesamten Inhalt einer Wohnung aufs Trottoir. Alles, was ein Mensch hat anhäufen können. Die Kleider, die er trug, und die, in die er nicht mehr reinpasste, die Matratze, auf der sich noch der Abdruck seines Körpers abzeichnet, die Bücher, die auf seinem Nachttisch lagen, und diejenigen, die er nie aufgeschlagen hat, die Champagnergläser, die er immer seltener herausnahm, denn mit der Zeit gibt es nicht mehr viele Anlässe zu feiern.

Die Entblößung ganzer Existenzen. Sobald sie die häusliche Atmosphäre verlassen, driften sie ab und landen auf diesem siebten Kontinent. Sie kreiseln, als würden sie vom Grund angesaugt, stoßen gegeneinander, bilden Schaumkronen, verhaken sich ineinander, verflechten sich ohne die geringste Logik außer der Reihenfolge ihrer Ankunft, wie der Plastikmüll, der sich, unter Einfluss der Erdrotation und der Meeresströmungen, schließlich mitten im Nordpazifik ballt.

Jetzt wartest du in deiner Kiste mit der Aufschrift »Kompletter Abverkauf. Alles für einen Euro«. Du liegst neben schmutzigen Tellern, abgenutzten Geräten aus den Anfängen der Mobiltelefonie, rostigem Silberzeug, angeschlagenen Schalen, jungfräulichen Heften, kartonierten Mappen. Nichts als Ramsch, um nicht zu sagen Müll. Ein unbestimmter Haufen, der der Mülldeponie oder der Verbrennung entgangen ist. Keinerlei Sortierung. Alles wird zum selben Preis verkauft. So gibt’s keine Neider. Eine lächerliche Summe, die jedes Feilschen ausschließt. Du sollst so schnell wie möglich abgesetzt werden.

Der Mann, der über deinen u-förmigen Stand wacht, erfasst die Dinge aus der Höhe. Er arbeitet in großem Stil, denkt in Tonnen und Quadratmetern. Er regiert weniger ein Lager als einen beständigen Fluss, einen nach Umfang und Geschwindigkeit bemessenen Strom. Er ist eine Persönlichkeit auf dem Markt, trägt Tweedmütze und einen graumelierten Bart und passt sommers wie winters auf. Er besetzt immer denselben Platz, gleich weit entfernt von der Straße und dem ehemaligen Zollgebäude.

Er lebt sowohl vom Sperrmüll wie vom Trödel. Seine Dienste bietet er trauernden Familien an, in Scheidung lebenden Paaren, Unternehmern, die Konkurs gegangen sind, fast immer betrübte Leute, die gezwungen sind, in mehr oder weniger kurzer Zeit reinen Tisch zu machen. Seine Tätigkeit besteht darin, Leere zu schaffen. Er stellt Leerstand her, unbesetzten Raum, der wieder in Besitz genommen, verkauft, vermietet oder für andere Nutzung bestimmt werden kann. Mit Hilfe seiner kräftigen Arme eliminiert, beseitigt, entreißt, dreht und wendet er methodisch, ihm entgeht kein Raum, keine Fläche. Wie ein eiliger Tatortreiniger tilgt er in wenigen Stunden jede menschliche Spur.

Man schimpft ihn Aasgeier, weil er das Unglück anderer ausbeute, dabei ist er in Wirklichkeit ein Retter, ein Erlöser. Er nimmt, was verworfen, verbannt, zur Auflösung und zum Tod verurteilt ist, ganz wie man eine Seele erlöst. Er verleiht Altem, Überholtem, Versifftem und Kaputtem wieder Bedeutung. Auf seinen Auslagen haben die Dinge, in welchem Zustand auch immer, eine zweite Chance.

Mit deinem brüchigen Leder und deiner Sammlung von Masken hättest du es verdient, zwischen den afrikanischen Statuen zu thronen, die in der Mitte des Platzes postiert sind. Auch du bist von einem Geist bewohnt, vielleicht stärker noch als jene Fetische, die mit Nussbeize künstlich älter gemacht wurden — wenn sie ihre Schwärze nicht dem Rost eines Kamins in der Banlieue zu verdanken haben.

Dein neuer Besitzer hat dich nicht ausgesucht. Er hat dich zufällig erhalten, als Beigabe einer Fracht. Was deine Originalität ausmacht, was dich von der Masse unterscheidet, interessiert ihn wenig. Er ist nicht hinter dem Ungewöhnlichen her, dem gewissen Etwas, das einen Sammler oder Antiquitätenhändler verführen könnte. In seiner Branche steht er am Anfang der Kette, bei den Grossisten. Er überlässt es anderen, in seinem Zeug die seltene Perle zu finden oder das unscheinbare Ding, das in einem anderen Kontext, meist als Ergänzung einer Serie, plötzlich einen Wert gewinnen kann.

Er kennt sie gut, die Trödler auf der Suche nach dem guten Geschäft, dem Glücksfall, dem versteckten Schatz, all diese halb heimlichen Käufer, die sich für schlauer halten als die anderen, als wären sie die Einzigen, die den inneren Wert der Dinge beurteilen könnten, einer Ware, die ohne ihn für das Nichts prädestiniert wäre, aber, aus dem Schlick gezogen, in seinen Händen fast ex nihilo erschaffen wird. Im Morgengrauen, wenn die ordnungsgemäß im Handelsregister eingetragenen Profis, zu denen er gehört, ihre Ware ausladen, sieht er sie anrücken mit suchendem Blick, und zuweilen die Ellenbogen ausfahren, um die Ersten zu sein. Er erkennt sie an der Art, wie sie den Nippes anfassen und in der Hand wiegen, ihn mit den Fingern streicheln und wenden, in der Hoffnung, einen Stempel oder eine Signatur zu entdecken.

Schau! Da haben wir gerade einen. Noch ein Flohmarktjäger, Trödelmarkt- und Auktionshausparasit. Was er sucht, sind tote Erinnerungen, Spuren, die man zurücklässt, zugleich persönliche und allgemeingültige Erinnerungsstücke. Besonders schielt er nach Familienalben, der Anonymität zurückgegebenen privaten Aufnahmen, die auf niemanden mehr verweisen und jedem gehören könnten. Bilder von meist dürftiger Ästhetik und voller Klischees. Schnappschüsse von glücklichen Augenblicken, zugleich einmalig und gewöhnlich, fast austauschbar. Die Reise nach Venedig, die Taufe des Kleinen, das Auspacken der Weihnachtsgeschenke, das Grillen im Garten. Jedem Ritual seine Postkarte.

Zwangsläufig erregst du seine Aufmerksamkeit. Die tannengrüne Farbe fängt den Blick, selbst wenn sie ganz unten in einer Kiste liegt. Der Typ bleibt stehen, schlägt die erste Seite auf, will sich einen Eindruck verschaffen und entdeckt die Aneinanderreihung deiner mehreren hundert Gesichter. In diesem Fall kein Essen bei Kerzenschein, keine Gondelfahrt, kein Sonnenuntergang und kein heißer Sand. Passfotos, warum nicht? Zumindest mal was anderes. Er unterdrückt wahrscheinlich seine Verwunderung und beeilt sich, den geforderten Preis zu bezahlen. Es war richtig von dir, dich sichtbar zu machen, dich zu verkleiden oder selbst zu ergründen, dich durch dieses Spiegeltheater neu zu erfinden. Du wolltest dich verlängern. Ist geschafft. Du beginnst ein x-tes Leben.