Ich startete nicht bei null. Ganz im Gegenteil sogar. Ich rang mit dem unendlich Vielen. Der Mann, den ich suchte, agierte durch Anhäufung. Er errichtete Berge. Statt der Nachwelt ein unbeschriebenes Blatt zu übergeben, hinterließ er ein unentwirrbares Durcheinander. Nicht die kleinste Leerstelle. Auf jedem Blatt eine Anhäufung, als verströme er seine eigene Überfülle. Er vervielfachte die Hinweise oder auch Fallstricke, künftige Generationen in die Irre führende Trompe-l’Œils. Wer weiß? Er überschüttete seine unwahrscheinlichen Leser mit auf den ersten Blick unbedeutenden Details, die zusammengesetzt ein riesiges Puzzle zu bilden schienen.

Da ich nicht zu seiner Identität vordringen konnte, zu jenem Etwas, das ihn von allen anderen unterschied, glaubte ich, ein Stückchen seines Zivilstands in Händen zu halten. Am Anfang und am Ende des Albums klebten auf Vor- und Nachsatzblatt große, rechteckige Etiketten, ähnlich denen, mit denen früher Schiffskoffer vollgeklebt waren. Ein Name und Vorname wiederholten sich immer wieder: B’chiri Jacob. In dieser Reihenfolge. Gefolgt von jeweils unterschiedlichen Adressen.

»B’chiri Jacob c/o Casa Gizzi, via R. Cadorna 29, Roma (Italien)«. »B’chiri Jacob c/o Kaufmann Lutz, Inn. Margarethenstr. 22, 4051 Basel (Schweiz)«, »B’chiri Jacob c/o Pillet Jean, 24, Saint Nizier, Quincié-en-Beaujolais, 69 (Frankreich).« Und so weiter. Den Mann hielt es nicht an einem Ort.

Der Unbekannte setzte überall seinen Namen hin, als nähme er seine künftige Anonymität vorweg. Bis zum Gehtnichtmehr schrieb er ihn auf jede Vignette, ohne je den Apostroph zwischen dem ersten und dem zweiten Buchstaben seines Nachnamens wegzulassen. In der folgenden Zeile vertraute er ihn mit einem diskreten »c/o« der Obhut seiner jeweiligen Gastgeber an. Wie ein Paket. Eine, wie man ahnt, sperrige und schwer zu tragende Last, zudem zerbrechlich und mit Wachsamkeit und Vorsicht zu behandeln. Denn offenbar war es dieser Name, dieses Gepäck und Etikett, das an jedem von uns klebt, den er mit seinen mehrdeutigen Selbstporträts und seinen erratischen Reisen befragte.

Der seine klang jüdisch-arabisch. Im Internet gab es einen Yacoub Bchiri, geschrieben ohne Auslassungszeichen. Auf einer Website namens harissa.com fand sich eine eindringliche Würdigung dieses »wohlbekannten« Mitglieds der jüdischen Gemeinde Tunesiens. Vorsänger und Lautenspieler in einer Person, gehörte er zu jenen, die alljährlich die große Pilgerfahrt zur Ghriba leiteten, der Synagoge von Djerba. In der übrigen Zeit sang er bis zu seinem Tod 2008 auf jüdischen wie muslimischen Hochzeiten. Er war ein Spaßmacher auf Festen, eher ein Komiker, der sich über gewisse Aspekte des Ehelebens lustig machte, wie der Titel eines seiner größten Erfolge, jedenfalls der am häufigsten zitierte, nahelegt: »Welch armer Mann, dessen Frau unhöflich ist.«

Das konnte nicht dieselbe Person sein. Außer der Tatsache, dass er seine Insel offenbar nie verlassen hatte und seine Ehre daransetzte, in der Öffentlichkeit die traditionelle tunesische Kleidung zu tragen — auf den wenigen verfügbaren Videos trägt er stets Weste und Pluderhose und hat eine Chechia aus roter Wolle auf dem Kopf —, zeigte der Sänger aus Djerba nur eine sehr vage Ähnlichkeit mit dem Fotoautomatenabonnenten und musste auch sehr viel älter gewesen sein als er (mindestens dreißig Jahre).

Der mit dem kostbaren Apostroph versehene Namensvetter dagegen hatte keinerlei Spuren im digitalen Gedächtnis des Planeten hinterlassen. Das wunderte mich kaum bei einem Mann, der die Gegenwart, die Momentaufnahme, das Flüchtige zu kultivieren schien. Geschäftig wie der weiße Hase von Alice im Wunderland konnte er nicht länger stillhalten als die vier Minuten, die ihm sein Automat aufzwang. Wo immer er auch hinging, war er lediglich auf Durchreise.

Ein Vorname ist die Vorstufe eines Schicksals. Er hieß wie der Sohn von Isaak und Rebekka, wie der dritte Patriarch, derjenige, der in der Bibel aus den mütterlichen Eingeweiden hervorkam, indem er sich an die Ferse seines Zwillings Esau klammerte. Jakob ist das Neugeborene, das nicht erwartet wird. Er verkörpert einen Eindringling, einen Illegalen, ein Schlitzohr, einen Usurpator, der zu einer List greift, um den Bruder zu verdrängen und ihm für ein Linsengericht sein Erstgeburtsrecht zu rauben. Er symbolisiert auch Flucht und Exil. Sein Traum vom Ausbrechen wird zur Leiter, die bis zum Himmel reicht. Marc Chagall hat ihn auf mehreren Bildern als ewigen Juden gemalt, mit einem Sack auf dem Rücken, einem Weltensack, der alles enthält, was ihn ausmacht, sein ganzes Erbe.

Auch er kam nie zweimal an denselben Ort. Er zog ständig um, lernte neue Menschen kennen, wechselte das Viertel, die Stadt, das Land. Sobald er sich bei jemandem aufhielt, notierte er sorgfältig mit blauer Tinte das Datum, oben rechts, in einer eifrigen, fast kindlichen Schrift. Manchmal fügte er eine Telefonnummer oder einen Beruf hinzu. Zuweilen hielt er sogar das Stockwerk oder die Hausnummer fest. Sein Fotoalbum war sein Reisetagebuch. Er verzeichnete darin alle Personen und Institutionen, die ihn zwischen 1970 und 1974 aufgenommen hatten.

Man konnte ihm folgen, seinen Weg mit der Genauigkeit eines GPS rekonstruieren.

Als er am 15. September 1970 in Rom ankommt, steigt er in der Casa Gizzi in der Via Raffaele Cadorna 29 im Quirinal-Viertel ab. Am 24. September überquert er die Alpen und übernachtet in einer Herberge im höher gelegenen Teil von Basel, Kaufmann Lutz, Inn. Margarethenstraße 22. Am 5. Oktober kurzer Halt in einem Dorf im Beaujolais, wo er einen gewissen Jean Pillet trifft. Er setzt seinen Weg nach Süden fort, fährt das Rhônetal hinab und trifft am 1. November bei Benjamin Lombroso ein, der am Cours Gouffé 50 in Marseille wohnt. Danach Rückkehr in die Schweiz, Rue de la Colline 16, Genf, zu einem gewissen Charles-Michel Vogt. Nicht lange. Vier Tage darauf ist er wieder in Marseille. Ein längerer Aufenthalt diesmal, Zeit, die Gastfreundschaft von zwei Claudes zu genießen, mit Nachnamen Guetta und Saada, in der Rue Sylvabelle 99, und die von Aimée und Elie Illous in der Rue Madon 11.

Im April 1971 verzeichnet er seine Anwesenheit in der Rue Mouraud 46—48, im 20. Arrondissement von Paris. Dort empfängt ihn eine ganze Familie: Jasmine, Dany, Gaëlle, Goussa und Lala Bittan. Im selben Monat besucht er Jocelyne Balouka in der Rue des Écoles 68, Gebäude Nr. 3 in Aubervilliers, und davor oder danach begrüßt er Jean-Claude Audigier, Rue de la Quarantaine 2bis in Lyon. Im August desselben Jahres wieder ein Abstecher in die Schweiz, die ihn ganz offensichtlich lockt. Er wohnt bei einem Herrn Benno Speishandler in Sankt Gallen, in der Nähe des Bodensees. Dann? Acht Monate lang nichts. Bleibt er diese ganze Zeit im Land der Alemannen? Unmöglich zu sagen. Am 17. April 1972 taucht er in der Wohnung von Nissim und Rina Lhaik wieder auf, Avenue Jules-Crosnier 20 in Genf. Als diese endlose helvetische Parenthese sich schließt, fährt er wieder nach Marseille und rührt sich bis zum folgenden Herbst nicht mehr weg.

Auf den ersten Blick entsprach dieser Weg keinerlei geographischen Logik. Keine gerade Linie, lauter Kreise. Unser Backpacker kehrte ständig wieder um. Er schien seinen Weg zu suchen. Er schweifte ab, bewegte sich ohne offenkundiges Ziel fort, nahm sich Zeit. Seine Grand Tour, die eher einem Herumstreunen, einem Spaziergang glich als einer ewigen Wanderschaft, umfasste vierundzwanzig Etappen in dreieinhalb Jahren. Ein Aufbruch alle sieben Wochen also.

Dieser Wohnsitzlose war nie allein. Er wohnte manchmal im Hotel, meistens bei Privatpersonen. Mit einer Ausnahme.

Am 14. September 1972 erwähnte er niemand außer sich selbst. Er befand sich weit entfernt von seinen üblichen Rundreisen, tausende Kilometer von Europa entfernt. »B’CHIRI JACOB 109/1 KIRYAT CHARÊT, RAANANA (ISRAEL)«, hatte er mit besonderer Sorgfalt geschrieben. Diesmal kein »care of«, kein Hinweis auf einen Dritten, als wäre diese Adresse in Großbuchstaben die seine. War er womöglich ganz einfach nach Hause zurückgekehrt? Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass er als Tourist in Ra’anana war, einem friedlichen Fleck im Nordosten von Tel-Aviv, das in den Reiseführern kaum erwähnt wird, so bar jeder Sehenswürdigkeit ist es. Kam er, um mit der Familie Jom Kippur zu feiern? Ich prüfte es schnell in einem Kalender nach. Das Versöhnungsfest fiel in diesem Jahr auf Montag, den 18. September. Ja, das passte.

Was auch immer die Gründe für seine Reise nach Ra’anana waren, wieder bleibt er nicht lange. Elf Tage später ist er wieder im Hafen von Marseille. »Liegeplatz 25 — Zim comp.«, notiert er. Höchstwahrscheinlich verließ er in La Joliette ein Passagierschiff der Zim Lines, der israelischen Schifffahrtslinie, die nach dem Krieg heimlich Überlebende der Shoah nach Palästina brachte, wie etwa die Exodus, die im Hafen von Sète in See stach, ein Viertel Jahrhundert zuvor. Alles lässt vermuten, dass Jacob B’chiri gerade die umgekehrte Fahrt hinter sich gebracht hat.

Noch eine Spur, die zu erforschen ist. Welche Verbindung hatte er zu Israel? Wenn er auch kein Einwohner war, so muss er doch die Staatsangehörigkeit besessen haben. Warum sonst die wiederholte Aufforderung, »im Falle eines Unfalls« das Konsulat in der Rue Rabelais zu benachrichtigen? Ganz offensichtlich nahm der jüdische Staat einen wichtigen Platz in seinem Leben ein. Er rechnet mit dessen Schutz, überquert das Mittelmeer an Bord eines seiner Schiffe und benutzt auch seine Flugzeuge. Woher ich das weiß? Von den Etiketten. Er benutzt immer dieselben orangegeränderten Aufkleber mit dem Logo von El-Al, der israelischen Fluggesellschaft. Diese andere große staatliche Transportgesellschaft muss ihm die Selbstklebeetiketten vor jedem Flug zur Verfügung gestellt haben. War er ein treuer Kunde? Teil ihres Personals?

Jedes Mal, wenn ich sein Heft öffnete, glaubte ich, darin etwas Neues zu entdecken. Manchmal hatte er Lust, sich mit einer Kopfbedeckung zu zeigen. Mitten auf einer Seite tauchte er mit einer Kapuze auf, mit einem Motorradhelm oder einer Mütze, die der unseres Musikers aus Djerba ziemlich ähnlich war. Ich sah darin bloß Koketterie oder einen Witz, dabei leistete er mir damit vielleicht eine Hilfestellung. Gab mir Schlüssel zur Erklärung in die Hand. Das ist das Problem mit derlei Nachforschungen: Man neigt dazu, den kleinsten Elementen Bedeutung zu verleihen. Alles erhält einen Sinn, einschließlich der winzigsten Details.

Auf einem seiner letzten Fotos protzte er außer mit seinem kleinkarierten Blazer, zu dem er bemüht ein gestreiftes Hemd trug, mit einer Schirmmütze, die ich zuerst für eine — weitere — Verkleidung hielt. In Verbindung mit seiner Zivilkleidung ließ sie ihn wie einen beschwipsten Piloten oder Postangestellten aussehen. Ein vergoldetes, wahrscheinlich kupfernes Abzeichen schmückte seine Kopfbedeckung. Da ich über kein Instrument zur Vergrößerung verfügte, musste ich mich mit einem dicken Glas als Lupe bewaffnen. Ich erkannte ein doppeltes Eichenblatt, möglicherweise auch einen Lorbeerkranz, und in der Mitte einen sechszackigen Stern.

Das erinnerte mich an ein anderes Foto des Albums, sepiafarben und mit gezacktem Rand, was für die Arbeit eines Profis sprach, nicht die eines Automaten. Es muss in einem Studio aufgenommen worden sein. Jacob B’chiri wirkte darauf ein paar Jahre jünger. Seine Haltung, mit dem pausbäckigen, fast runden Gesicht, gebändigten Haaren, geschlossenen Lippen und einem verlorenen Blick in die Ferne, wirkte steifer als gewöhnlich. Er trug ein grobes sandfarbenes Hemd. Über der rechten Brusttasche war eine Spange aufgenäht. Und an seinen Epauletten hing wieder der Davidstern, umgeben von einem Kreis. Ich erkannte die Uniform der israelischen Armee.

Ich hielt ihn für einen Schauspieler, einen Künstler, einen Kontemplativen, einen sanften Träumer. Und fand mich vor einem Soldaten.

Und was sollte man über seine Entkleidungssession denken? Die einzige, wo er nicht sein Gesicht, sondern den Bauchnabel zeigt. Er steht, hinter seinem gefältelten Vorhang, die Hose aufgeknöpft, die Jacke offen und der Bauch frei. Mit der linken Hand zieht er das Hemd hoch, mit der Rechten am Gummi seines Slips mit Eingriff. Seine Finger zeigen auf eine breite Narbe am Unterleib. Handelt es sich um eine Kriegswunde oder, prosaischer, um die Spuren einer Blinddarmoperation? Und warum ein solches Spektakel an einem öffentlichen Ort, wo er Gefahr läuft, wegen Exhibitionismus belangt zu werden?

Eine weitere erstaunliche Szene: Ausnahmsweise ist Jacob B’chiri einmal nicht allein. Er posiert mit einem anderen jungen Mann, der ihm seltsam ähnlich sieht. Fast sein Doppelgänger. Der gleiche längliche Kopf, die gleiche hohe Stirn, die gleiche Adlernase, die gleiche leicht getönte Brille. Sie sitzen nebeneinander in perfekter Symmetrie, beide gleich gekleidet und frisiert, wie zwei Brüder, die ihr Auftreten als Zwillinge oder als Doubles kultivieren, bereit, sich zu verwandeln, den Platz des anderen einzunehmen. Wie in gründliche Vorbereitungen vertieft, blickt das Duo in etwas, das eine Straßenkarte zu sein scheint.

Sein Album enthielt noch eine zweite Gruppenaufnahme, auf der er, wie erwartet, wieder den ganzen Platz einnahm. Mit nach vorn gerecktem Kopf zeigte er hier sein marmornes Lächeln direkt vor dem Auslöser und verbarg demonstrativ zwei andere Individuen, die sich hinten in der Kabine zusammendrängten, Brillenträger, von denen man hinter seinen verstrubbelten Haaren nur ein einzelnes Brillenglas und die Ecke eines Gesichts sah. Indem er den ganzen Platz für sich beanspruchte, ihn mit seiner Silhouette ausfüllte, vermittelte Jacob B’chiri eine deutliche Botschaft — aber wem? In dem Gespann, das er an diesem Tag bildete, war er der Chef.

Die über sein Album verstreuten Kieselsteinchen führten mich in eine andere Richtung. Multiple Identitäten, ausgesprochene Freude an der Verkleidung, mehr oder weniger maskierte Komplizen, das Fehlen von Spuren im Internet, als wären sie absichtlich gelöscht worden, ein Schwarm von Strohmännern, ständige Adressänderungen, lauter mögliche Verstecke, ein Leben als Globetrotter, häufige Hin- und Rückreisen in die Schweiz, das Paradies für Geheimnisse, ein von Geheimagenten aller Art geschätztes neutrales Gelände. Zu dieser schon langen Liste kamen noch die Militär-, vielleicht sogar Kriegsvergangenheit — eine von seltsamen Narben im Gesicht und auf dem Bauch genährte Hypothese —, Aktivitäten unbestimmter Art, mutmaßlich Erfahrung im sensiblen Bereich der Luftfahrt, ein von der Angst vor einem unerwarteten, vielleicht verhängnisvollen Ereignis geprägtes Leben, enge Verbindungen zu Israel, einem Land, das besonders in jenen Jahren Ziel von Flugzeugentführungen und Bombenanschlägen war … Als ich all dieses Belastungsmaterial aufzählte, hatte ich das Gefühl, eine Verweisungsverfügung zu verfassen. Das Nichts, das ihn umgab, schien plötzlich gewollt. Ein klug ins Werk gesetztes Manöver. War der Blitzlichtstammgast ein Mann des Schattens? Ein Individuum mit hundert Gesichtern, also keinem?

Die Idee gefiel der Produzentin. Sie wollte aus Jacob B’chiri unbedingt einen Spion machen. »Der Typ muss für den Mossad gearbeitet haben!«, rief sie genüsslich, sobald er auf einer beliebigen Seite mit seiner Ray-Ban auftauchte. Sie war bereit, ihm jede Art von Heldentaten zuzuschreiben. Die Periode, die er auf seine Weise in Serie setzte, eignete sich so gut dafür. Zu Beginn der 70er Jahre bewegte er sich auf dem neuen Schlachtfeld der bewaffneten palästinensischen Gruppen. In Italien, der Schweiz, in Frankreich kreuzten sich seine Schritte mit denen von Luftpiraten, Bombenlegern, Geiselnehmern. Er hätte einer der Rächer der elf israelischen Athleten sein können, die im September 1972 bei den Olympischen Spielen in München ermordet worden waren. Ein Killer, angesetzt auf die Auftraggeber des Massakers. Oder aber dank seines eher orientalischen Aussehens und seiner unbestreitbaren Talente als Schauspieler und Maskenbildner ein verdeckter Ermittler, ein Maulwurf.

Er war weit davon entfernt, Verdächtigungen zu entkräften — er verstärkte sie. Er spielte damit. Es machte ihm Spaß, den perfekten Geheimagenten zu mimen. Und natürlich einen, der von seinem nächsten Auftrag — wenn er ihn denn annimmt — an einem höchst harmlosen Ort erfährt, in einem Fotoautomaten zum Beispiel, indem er auf die Taste eines kleinen versteckten Tonbands drückt. Seitenscheitel, die Augen hinter den obligatorischen schwarzen Gläsern verborgen, eng geschnittener Flanellanzug mit zwei Knöpfen, schmalem Revers und leicht abgeschrägter Tasche und dazu eine schmale anthrazitgraue oder königsblaue Krawatte. Man bekam Lust, ihm »Viel Glück, Jack!« zuzurufen. Auf anderen Bildchen schien er dagegen einen der bekanntesten Terroristen der Epoche nachzuahmen, Ilich Ramírez Sánchez, genannt Carlos, mit dem dichten Schnurrbart südamerikanischer Guerilleros, großer Sonnenbrille mit ovalen Gläsern und sportlichen breiten Schultern. Der zufriedene Ausdruck, der wie gewöhnlich auf seinem Gesicht lag, wirkte diesmal fast drohend.

»Findest du nicht, dass er auch ein bisschen was von Mike Brant hat?«, fragte die Produzentin bei einem unserer ersten Treffen.

Dem Sänger?

Angesichts meiner Ratlosigkeit insistierte sie und erinnerte an den tragischen Tod des Stars mit der goldenen Stimme ungefähr zur selben Zeit. »Vielleicht gibt’s da was auszugraben«, sagte sie. Ein israelischer Schnulzensänger auf dem Gipfel seines Ruhms, der unter merkwürdigen Umständen zu Tode kommt, durch einen Sprung aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung, ein auf sein Image reduzierter Mann, vom Starsystem oder anderen, schändlicheren Anlässen in den Selbstmord getrieben, ein Hauch von Skandal, von Geheimnis. Sie malte sich einen in den Seventies verankerten Film aus, eine Mischung aus Schlaghosen, langen Haaren, psychedelischer Szenerie, Popmusik und Geheimaktionen. Rocky Jacob sozusagen. Alles, um eine zwar nicht langweilige, aber doch an Entwicklungen arme Geschichte zu würzen. Schwierig, in einer Metallkiste Spannung aufzubauen.

Würde da ein Offizier des Nachrichtendienstes durch sein Fotoalbum enttarnt? Von diesem Gedanken ausgehend kann man sich alles Mögliche vorstellen. Da ist Jacob B’chiri, ein ehrenwerter Berichterstatter, der sich größere Bekanntheit wünscht und dem nichts Besseres einfällt, als seine Verstecke und sukzessiven Identitäten zu notieren. Sein grünes Buch in Gestalt einer Beichte wäre sein Kriegstagebuch, sein Büro der Legenden das Äquivalent des Raums, wo Bruce Wayne zu Batman wird. Mal sehen, welchen Latexanzug ziehe ich heute Nacht an? Oder aber ein Kriegerdenkmal. Der Spion, der sich liebte, soll zu seinem Ruhm hunderte von Büsten aufgestellt haben.

Endlich sprang der Teufel aus seiner Kiste. Er mauserte sich zu einem modernen Helden, passte in die Regeln einer Fernsehserie, war zugleich stark und verletzlich, auf ein Ziel ausgerichtet und mit unüberwindlichen Hindernissen konfrontiert, in der Auseinandersetzung mit einem unsichtbaren Feind und vor allem mit sich selbst. Wie könnte man den Bruch in dieser Persönlichkeit nicht erkennen? Hinter seiner zwanghaften Freude spürte man Verstörung. Sein Überfluss in allem verriet einen Mangel. Seine Manie, seinen Namen und sein Gesicht zu sammeln, erzeugte ein merkwürdiges Gefühl von Abwesenheit.

Es muss Winter gewesen sein. Die Brille war in die Stirn geschoben, er hatte die Lammfelljacke und einen dicken beigen Rollkragenpullover an. In einem Akt von Selbstreferentialität — dem x-ten (jedes seiner Porträts war schon ein Werk im Werk) — schwenkte er quasi direkt vor seiner Nase das Passfoto eines Mannes, der einen Kaftan mit rundem Kragen und ein bis zum Hals zugeknöpftes weißes Hemd trug. Diesmal lächelte Jacob B’chiri nicht. Ich hatte den merkwürdigen Eindruck, dass er mich um etwas bat. Es war, als reklamierte er eine Bindung, eine Verwandtschaft mit jenem Phantom, das aus den Tiefen der Vergangenheit auferstanden war, und riefe mich zum Zeugen an, indem er sagte: »Schau uns an!«