Da du dich kennst, zumindest ein bisschen besser, zögerst du, dein Zimmer zu verlassen. Du wohnst erst einige Stunden dort, und schon ist es ein Teil von dir. Wenn du könntest, würdest du es wie eine Schildkröte ihren Panzer auf deinem Rücken transportieren. Du suchst deine auf dem ungemachten Bett herumliegenden Sachen zusammen, setzt vor dem Spiegel über dem Waschbecken ein fröhliches Gesicht auf und durchquerst die Eingangshalle, ohne gesehen zu werden. Du hast den Schlüssel behalten. In deiner Neigung, dir jeden Ort anzueignen, an dem du deine Zelte aufschlägst, hast du ihn lieber bei dir, außerdem gibt es niemanden, dem du ihn aushändigen, noch irgendein Schlüsselbrett, an dem du ihn aufhängen könntest. Die Unterkünfte in der Casa Gizzi haben eher etwas von möblierten Wohnungen als von einem Hotel. Der Komfort ist bescheiden. Keine Klimaanlage, kein Fernseher. Der Ort ist dir wegen seiner Ruhe und Diskretion empfohlen worden und wegen der Lage am Fuß des Quirinalhügels, dem Herzen des italienischen Staats. Zudem verfügt das schöne, massige, ockerrotfarbene Eckgebäude über zwei getrennte Eingänge, was sich als sehr nützlich erweisen kann.

Du verlässt es durch die Hintertür zur Via Raffaele Cardona, eine schmale steinerne Verkehrsader mit gleichförmigen Fassaden. Du schlängelst dich zwischen zwei schräg parkenden Autos hindurch. Deine Schritte hallen auf dem Pflaster wider. Gegenüber siehst du eine Trattoria mit heruntergelassenem Eisengitter und einen Palazzo in mittelalterlichem Stil mit doppelten Spitzbogenfenstern, der als Schauplatz für ein fellinisches Fest dienen könnte. Du zweigst rechts oder links ab, was einerlei ist, denn beide Wege treffen sich nach der Trennung wieder und bilden eine Raute um eine von Pinien und Zypressen beschattete Grünanlage, einen staubigen Garten, der in einen großen Parkplatz verwandelt wurde und ohne einen dir ersichtlichen Grund japanische Touristen anzieht.

Es ist heiß, denn es ist noch Sommer. Wahrscheinlich trägst du dein weißes Hemd und deine Ray-Ban. Man könnte dich fast für einen Italiener halten. Du bist nie wirklich, was du vorgibst zu sein. Um dich herum rauchen alle, und du machst keine Ausnahme. Die Zigarette hängt dir im Mundwinkel. Du bewegst dich vorsichtig. Zwei- oder dreimal drehst du dich um, als hättest du dich verirrt. »Senso unico«, heißt es an jeder Straßenecke. Rom ist eine Stadt voller Einbahnstraßen, ein unabänderlich in die Vergangenheit zielender Pfeil. Du folgst keinem der Schilder auf deinem Weg, stellst du, sicher mit leiser Bosheit, fest. Wenn man dich irgendwohin schicken will, bist du stets in Versuchung, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen.

Du bist gerade erst angekommen und schon wieder auf dem Sprung. Deine Existenz passt in einen kleinen schwarzen Koffer aus Kunstleder, und du machst dir bei jedem Aufenthalt die Mühe, ihn auszupacken. In zwölf Tagen wirst du in Basel sein, eine Woche später das Beaujolais durchqueren. Du versuchst, irgendwo zu landen, aber weißt nicht wo. Du passt nirgendwohin und fühlst dich überall fremd. Alles erscheint dir kurzlebig. Alles zieht vorbei wie ein Schatten. Aber hast du gemerkt? Wenn du dich in deinen Automaten flüchtest, wirfst du keinen Schatten hinter dir, du wirkst zweidimensional, als wärest du eins mit der Wand. Selbst dort, deinem Spiegel gegenüber, verhältst du dich wie ein Fremder. Du entdeckst dich, du bist dein eigener Zeuge, du stattest anderen in dir einen Besuch ab. Selbst eingesperrt geht deine Reise weiter.

Du achtest auf das geringste Detail. Du musterst die kleinen Luken im Zwischengeschoss der Häuser, schätzt die Höhe der Laternen über der Straße, bemerkst zwei Insassen in einem parkenden Auto, nimmst zur Kenntnis, dass es keine Telefonzelle gibt, und beobachtest von weitem einen Polizisten, der vor einem offiziellen Gebäude döst. Du interessierst dich für alles, und nichts hält dich auf. Du bewunderst die Säulen einer Barockkirche, ohne dir die Mühe zu machen, davor stehen zu bleiben. Trotz der frühen Stunde scheinst du es eilig zu haben. Du lässt Botschaftsgebäude hinter dir, die aussehen wie Baisertorten, und zu deiner Linken Ministerien, so imposant wie Kasernen. Du bewohnst ein Viertel von verschlafenen Wachhäuschen und wankenden Fahnen.

Vielleicht bist du auf der Hut. Du weißt, dass das ganze Land ins Wanken geraten ist. Das liest du an den neuen Basreliefs der ewigen Stadt ab, an den nachts mit Schablonen auf die Mauern gesprayten Graffiti, die wie Schlachtrufe klingen: »Calabresi Assassino Torturatore«. Der Name jenes Polizeikommissars sagt dir nichts, aber du begreifst, dass die Zeit der Schlächter und Mörder erst begonnen hat. Seit einigen Monaten explodieren hier und da Bomben, verwaiste Bomben, die niemand für sich reklamiert und die ein kommendes Militärregime nach dem Modell südamerikanischer Diktaturen vorbereiten sollen, aber auch das weißt du nicht. Banken werden gesprengt. Züge entgleisen. Selbst über den glitzernden Terrassen der Via Veneto hängt ein Geruch nach Pulver. Mit dem Dolce Vita ist es aus und vorbei.

Lautes Knallen lässt dich zusammenzucken. Ein Reflex. Noch ein Erbe deines einstigen Lebens. Bei der kleinsten Detonation fährst du zusammen, spürst einen Stich in der Brust. Es sind bloß Motorradfahrer, die im Rudel vorbeiknattern. Sie rasen durch Rom, als ginge es um ihr Leben. Du setzt deinen Weg fort und beeilst dich, die Blitze zu vertreiben, die dich jedes Mal durchfahren, wenn ein Ereignis altes Leid beschwört.

Nach zehn Minuten Fußweg gelangst du endlich zur Via Leonida Bissolati, eine breite, leicht kurvige, von großen Bürogebäuden gesäumte Prachtstraße. Beim Anblick eines Trupps Carabinieri, die in voller Kampfmontur an der Kreuzung die Stellung halten, befürchtest du einen Zwischenfall, etwas Ernstes. Hinter ihnen erkennst du ein Mäuerchen, Palmen und eine schöne, cremefarbene Villa mit dem Sternenbanner davor. Dieses Aufgebot ist nur für die Botschaft der Vereinigten Staaten da. Da fallen dir die Plakate wieder ein, die zur Demonstration gegen den bevorstehenden Besuch von Präsident Richard Nixon aufrufen.

Noch ein paar Schritte und du betrittst ein ebenso imposantes wie strenges Gebäude, neoklassizistische, wahrscheinlich mussolinische Architektur, das den Sitz mehrerer Fluggesellschaften beherbergt. Du trittst aus dem Lift, drückst auf eine Klingel, näherst dich dem Mikrophon der Sprechanlage und nennst deinen Namen, welchen auch immer. Ein Wächter öffnet die gepanzerte Tür und lässt dich eintreten. El-Al verbarrikadiert sich überall. Hier noch stärker als anderswo.

Das Gegenteil hätte dich gewundert. Du befindest dich im Auge des Orkans, an dem Ort, wo alles begann. In Rom hatte die Gesellschaft ihre erste — und bis jetzt einzige — Flugzeugentführung erlebt. Das war zu erwarten. Der Flughafen Fiumicino hat einen üblen Ruf. »Der schlimmste in Europa«, heißt es beim fliegenden Personal. Zur Stunde des Massentourismus hat er nur zwei Rollbahnen, die im rechten Winkel zueinander verlaufen. Kaum aus dem Boden gestampft, ist er schon zu klein, und Verspätungen und annullierte Flüge häufen sich. Streikendes Personal, verlorenes Gepäck und der Rest entsprechend. Du sorgst dich vor allem um die Sicherheit. Eine frei zugängliche Terrasse, die auf das Rollfeld hinausgeht, ungenügende Kontrollen und natürlich kein einziger Metalldetektor. Das italienische Terminal ist durchlässig wie ein Sieb. Der ideale Ort für einen Angriff.

Du kennst die Geschichte des Flugs 426 nach Tel Aviv sicher in- und auswendig. Start um einen Tag verschoben wegen eines Schadens, die Maschine drei viertel leer, da die meisten Passagiere lieber früher mit Alitalia geflogen sind, das Eindringen von zwei Schnurrbärtigen ins Cockpit, der Flugkapitän, der glaubt, es mit Betrunkenen zu tun zu haben, bis zu dem Schuss in die Luft, die Deckenlampe explodiert, der betäubende Lärm, Glassplitter, die Pistole im Nacken des Copiloten, weitere Schreie, diesmal aus der Kabine, die Handgranate, die ein dritter Komparse schwenkt, der vor den Augen der entsetzten Passagiere im Gang steht, den fiebrigen Finger am Abzug, in der anderen Hand den Entsicherungsring, die in schlechtem Englisch ausgestoßenen Drohungen und dann das sich neigende Flugzeug, das einen anderen Kurs einschlägt, nach Süden, Richtung Alger, die brutale Landung, das Warten am Ende einer Rollbahn, die Triage der Geiseln nach Pass und Klang ihres Namens, wieder die Angst, die Gefangenschaft, die wochenlangen, von Gerüchten unterbrochenen Palaver und schließlich die Freilassung unter den Blitzlichtern der Fotografen.

Israel musste sechzehn arabische Häftlinge freilassen. Die Volksfront zur Befreiung Palästinas bricht in Jubel aus. Die Operation, von einem ihrer Kommandos in der Nacht vom 22. auf den 23. Juli 1968 ausgeführt, ist der Beginn einer neuen Ära. Seitdem schwören die Chefs der bewaffneten Gruppe nur noch auf Flugzeugentführungen. Sie zielen immer höher, immer weiter. Der Himmel gehört ihnen. Was gibt es Besseres als ein Linienflugzeug oder einen internationalen Flughafen, wenn man mit wenig Aufwand Terror stiften will? Der Krieg in der Economy Class, den sie über den Wolken führen, bedeutet maximale Wirkung. Funkelnde Luftstrahltriebwerke werden zu fliegenden Bomben oder mobilen Gefängnissen. Boardinghallen verwandeln sich in Schießplätze und Reisende in Tauschobjekte oder Kanonenfutter.

Im Moment, als du nach Italien fliegst, macht die zivile Luftfahrt die schwerste Krise ihrer Geschichte durch. Die palästinensischen Kämpfer haben eine DC-8 der Swissair, eine Boeing 707 der TWA und einen Jumbojet der Pan Am gezwungen, auf einen Asphaltstreifen mitten in der Wüste niederzugehen, und halten dort vierhundert Passagiere gefangen. Um ihren Drohungen größeres Gewicht zu verleihen, haben sie die drei Flugzeuge mit Dynamit in die Luft gesprengt. Eine Boeing von El-Al aus Amsterdam hätte dasselbe Schicksal ereilt, wenn nicht ein Sicherheitsmann in Zivil mit einer Beretta Kaliber 22 dazwischengegangen wäre — von nun an gibt es einen auf jedem Flug der israelischen Gesellschaft. Und wenn der Pilot nicht den Reflex gehabt hätte, in den Sturzflug zu gehen, um die beiden Luftpiraten aus dem Gleichgewicht zu bringen? Wer weiß? Du hättest an Bord sein können.

Der Tod geht dir voraus, er folgt dir, er begleitet dich vielleicht schon. Bist du Vittorio Olivares begegnet? Ein Italiener, katholisch, um die dreißig. Als du nach Rom kommst, arbeitet er für British Airways, im Büro nebenan. Bald wird er von El-Al angeworben, als einfacher Angestellter. Ein junger Libanese wird ihn an der Straßenecke Via Venti Settembre töten. Zwei Schüsse in den Rücken, mitten in der Menge, aus einer in einem Koffer versteckten halbautomatischen Pistole mit Schalldämpfer. Offenbar soll der Mörder ihn mit seinem israelischen Vorgesetzten verwechselt haben.