Die Inschrift, die unter der weißlichen Farbe hindurchschimmerte, bezeugte es. Es existierte tatsächlich ein »tapissier Teboul« an der im Album angegebenen Adresse. Ich erkannte das T, das P, weiter weg ein B, ein O, ein L. Die Buchstaben bildeten ein Monogramm, wie ein halb ausgelöschtes Siegel, über einem ehemaligen Laden, von dem nur die Auslage übrig war, ein Gemisch aus Blech, Betonplatten und einem marmornen Absatz. Auf dem Schaufenster klebte Werbung für eine Musikschule in schreienden Farben. Der Ort diente jetzt als Garage. Ein Schild verkündete: »Motorradstellplatz zu vermieten«.

Da es keinen Bus gab, war ich zu Fuß vom Alten Hafen gekommen. Oben auf dem Hügel, nach einem halbstündigen Anstieg in der größten Hitze, triefte mein Hemd vor Schweiß. Das Vallon de Montebello führte zu einem Gewirr noch dörflich wirkender Gassen. Die Häuser auf beiden Seiten des Weges hatten nicht mehr als zwei Stockwerke. Wegen des aufgegebenen Geschäfts und der geschlossenen Fensterläden schien das kleine graue Gebäude mit der Nummer 53 verlassen. Durch eine Tür, kaum breiter als eine Schießscharte, konnte man zu den Wohnungen gelangen, die wahrscheinlich winzig und niedrig waren. Über der Gegensprechanlage standen zwei Namen, und es waren nicht die richtigen.

Ich drückte auf einen Knopf, dann auf den anderen. Niemand öffnete mir. Monsieur Teboul wohnte nicht mehr dort. Da er nicht in den Gelben Seiten stand, wusste ich nicht, wie ich ihn finden sollte, falls er noch lebte.

Auch ihm hatte Jacob B’chiri ein Etikett gewidmet. Mit seiner luftig blauen Feder hielt er fest, dass er einen Teil des Monats Juli 1972 bei dem Marseiller Polsterer verbracht hatte. Seit mehreren Wochen schon folgte ich seinen Spuren. Ich wiederholte seine Reisen in der Hoffnung, wenn nicht ihn, so doch zumindest einen seiner Bekannten zu treffen. Eine zwangsläufig ältere Person, die zunächst ein wenig überrascht wäre, mir nach einiger Überlegung jedoch geantwortet hätte: »Ach, Jacob, natürlich! Eine Ewigkeit her, dass ich nichts mehr von ihm gehört habe.«

Ich trug eine Liste aller Orte mit mir herum, an die er sich begeben hatte, und hakte sie nach und nach ab. Auf einem Zeichenblatt hatte ich auch seinen komplizierten Weg von Rom nach Paris über die Schweiz und Israel rekonstruiert. Die Etappenstädte waren rot umrandet. Schwarze Kurvenlinien verbanden sie miteinander. Pfeile markierten die Richtung. Seit meiner Kindheit habe ich gern Karten gezeichnet. Ich kann sie stundenlang betrachten. Ein in gepunkteten Linien eingezeichneter Weg erzählt eine Geschichte. Ein Plan hilft, Schätze auszugraben. Die Welt kann erst erfasst werden, wenn sie auf einer Papierfläche festgehalten ist. Kein In-Worte-Fassen ohne ein In-Fläche-Fassen.

Meine Zeichnung bestätigte nur, was ich schon wusste: Jacob irrte durch ein verzwicktes Labyrinth. Die Schleifen, die er machte, überschnitten sich so oft, dass sie ein unentwirrbares Knäuel mitten in Westeuropa bildeten. Aus diesem gestaltlosen Krickelkrakel ergab sich ein weiterer Hinweis: Unser Rumtreiber kreiste ständig um Marseille. Das war sein Heimathafen, der Schnittpunkt all seiner Ellipsen, das Zentrum, von dem aus er wirkte. Dorthin kehrte er unfehlbar zurück und fand jedes Mal jemanden, der ihn aufnahm. Meist in den östlichen und südlichen Vierteln. In Lodi, Saint-Jean-du-Désert, hinter dem Krankenhaus in La Timone, in La Valbarelle oder noch weiter weg, in Richtung Madrague und Calanques. Bei seiner Ankunft im Vallon de Montebello kannte er die Stadt schon gut. Seinem Bilderkalender zufolge verbrachte er dort seinen fünften Aufenthalt in zwei Jahren.

In der Sprache der Hetzjagd bezeichnet man mit »Kenntnissen« die Spuren eines gejagten Tiers, Rehspuren, Wildschweinpfade. Hier wie überall sonst fand ich nichts dergleichen. Keine Spur von Jacob B’chiri. Ich hatte ihn im Verdacht, dass er auch seinen Polsterer hatte verschwinden lassen. Alle, deren Existenz er erwähnte, fielen durch eine Art Ansteckung demselben Vergessen anheim.

Auf der Messingtafel an der Rue Sylvabelle 99 gab es auch keinen Guetta oder Saada, die beiden, die ihn zwei Jahre früher, am 10. November 1970, beherbergt haben sollten. Das Gebäude im Haussmannstil, bürgerlicher als das vorige, setzte mir dieselbe stumme Gleichgültigkeit von mit dem Kärcher gereinigten Hausteinen und Doppelfenstern entgegen. Von der Nachbarschaft war keine Hilfe zu erwarten. Alles war geschlossen, einschließlich der Kirche.

Ich überquerte die Place de la Castellane und erreichte den Cours Gouffé, eine platanengesäumte Avenue. In der Nr. 50 erinnerte sich niemand an Benjamin Lombroso, den ersten Einwohner Marseilles, der ihm Gastfreundschaft gewährt hatte. »Wo kommt der Mann?«, fragte mich gebrochen ein Elektriker vermutlich slawischer Herkunft, der sich das Erdgeschoss mit einem vietnamesischen Restaurant teilte. Weiter östlich, in der Rue Madon, hatte Elie Illous Reifen verkauft. Ausgeflogen, wie die anderen. Seine Werkstatt war einem vor kurzem gebauten und bereits heruntergekommenen verputzten Wohnheimgebäude gewichen.

Würde ein halbes Jahrhundert genügen, um all Ihre Wegmarken zu vernichten? Um jede Zeile Ihres Adressbuchs auszuradieren und sogar die Erinnerung an die Namen darin zu löschen? Überall, wo ich hinging, stieß ich auf Leere. Ich durchstreifte die Stadt von einem Ende zum anderen und fand mich am selben Punkt wieder, Unbekannten gegenüber, Leuten auf Durchreise, austauschbaren Orten, Mauern und nichts dahinter. Eine herrenlose Welt, in der alles fortbesteht und nichts mehr zu jemandem gehört. Fast freute ich mich, eine Abwesenheit aufdecken zu können. Die zeugte zumindest durch ihre Leerstelle von einem vergangenen Leben.

Sicherlich hätte ich im Hafengebiet beginnen sollen. Das passte besser zu jemandem, der immer auf dem Sprung war. Der Zugang zur Rade war durch Nagelsperren, Kameras und Schranken geschützt. Die nächstgelegene Einfahrt zum Bassin du Président-Wilson war seit Jahren aus Sicherheitsgründen gesperrt, was das Personal zu einem langen Umweg Richtung Norden zwang. Gerade als ich das Absperrgitter des einstigen Eingangs erreichte, machten sich zwei Seayard-Mitarbeiter in ihren fluoreszierenden Westen daran, darüber zu klettern. Die Kletterer kamen vom Essen und kehrten auf dem kürzesten Weg zur Arbeit zurück. Der Ältere der beiden scherzte oben auf dem Gitter: »Was tut man nicht alles, um arbeiten zu gehen!« Sie hatten auf der anderen Straßenseite in der Bar de l’Océan zu Mittag gegessen. Ein Lokal für Männer, die dem Rhythmus der Rollkräne unterworfen waren — ein eher geruhsames Tempo, der fast sommerlichen Stimmung nach zu urteilen, die zu der Zeit über den Docks lag.

An dem Tag begleitete mich meine Freundin. Bei unserer Ankunft hoben alle Gäste in der Laube den Kopf in unsere Richtung, vollkommen synchron, überrascht wahrscheinlich vom Auftauchen einer Frau, obendrein in einem roten Kleid, in einer ganz und gar männlichen und warngelben Umgebung. Von der Terrasse aus sah man eine erstarrte Lego- oder Playmobillandschaft und jenseits davon ein am Pier festgemachtes Containerschiff. Kein anderes Schiff weit und breit. Der Quai mit dem Liegeplatz 25, den Jacob B’chiri als Anlegestelle der Zim Lines genannt hatte, war leer. So wie immer, meinen Tischnachbarn zufolge. Sie arbeiteten im danebengelegenen Hafenbecken und sahen dort nie Waren, geschweige denn Menschen ankommen oder abfahren. »Manchmal ankern dort Schiffe, man weiß nicht warum«, sagte einer.

Putz, Stahlbeton, bereits abgewirtschaftete Neubauten, bescheidene Innenräume, eine Werkstatt, eine Garage, reizlose, wie mit dem Lineal gezogene Straßen, weit weg vom Meer und seinen Rokokovillen, weit weg vom Zentrum und der Küstenstraße, weit weg von allem. Wieso war er in Marseille? Nicht als Tourist jedenfalls. Dafür eignete sich auf seiner langen Reiserei nur ein einziger Ort: Die Avenue de Montredon 155 barg einen riesigen Park, den man von der Straße aus nicht vermutete. Der Garten hob sich vom eintönigen Grau der Umgebung ab. Hohe Pinien und grüne Eichen, weite Wiesen mit fettem Gras, schilfbestandene Seen, Stechpalmen- und Wacholderbüsche, nadelübersätes Unterholz, all das neben den Stränden Pointe Rouge und Prado. Und am Ende einer geraden Allee Pfade in Serpentinen, die auf ein Wirrwarr aschfarbener Felsen mündeten.

Dort wohnte Jacob B’chiri drei Monate lang: im Juni, Juli und August 1972. Als ich das las, hielt ich es für einen Irrtum. Er schrieb, dass er im selben Zeitraum im Vallon de Montebello sei. Sicherlich fuhr er zwischen beiden hin und her? Dieses Mal vertraute er — aber was genau? seine Post, sein Gepäck, seine Person? — der Obhut des OPEJ, des Hilfswerks für jüdische Kinder an. Das Hilfswerk, das Ende des Krieges gegründet worden war, um den Waisenkindern der Shoah zu helfen, und seine Arbeit später auf aus Algerien oder anderswoher zurückgeholte Jugendliche ausweitete, mietete bis 1988 eines der drei Anwesen des Landguts Montredon. Es war ein Zufluchtsort mit Internat und Schule, ein Raum der Freiheit in einer hinreißenden Natur und im Sommer, also zu der Zeit, als Jacob dort war, eine Ferienkolonie.

Ein Kiesweg führte zu einer Stadtvilla mit Zinkdach, wie man sie im Pariser Westen findet. Aus dem Inneren drang Lärm wie auf dem Pausenhof, ein Gemisch aus Gelächter und Tränen. Das Gebäude gehört heute der Stadt, als Ferienzentrum nimmt es weiterhin Kinder zwischen drei und zwölf Jahren auf, die jetzt aus dem Viertel stammen. Ein Aushang mit dem Tagesprogramm am Eingangsgitter kündigte Wasserspiele, chinesisches Karaoke und für die Älteren einen Maskenworkshop an, der den damaligen Besucher möglicherweise hätte interessieren können.

Seinem Logbuch zufolge hat Jacob B’chiri gerade seinen letzten Sommer in der Provence erlebt. Mitte September hält er sich eine oder zwei Wochen in Israel auf und kehrt mit dem Schiff nach Marseille zurück, wo er aber nicht bleibt. Am 2. November 1972 ist er in Paris. Er lässt sich im Barbès-Viertel nieder, in der Rue Doudeauville 102. Dort wohnt er mit Simon Bismuth zusammen. Schluss mit den Zickzacks durch Europa. Auch wenn er weiter bei diesem oder jenem kampiert, verlässt er die Seineufer nicht mehr. Ab dem 15. November lebt er in Chaville, in der Nähe des Waldes von Meudon. Danach wohnt er, wenn man seinen Aufzeichnungen glauben darf, eine ganze Weile in der Rue de Turenne 134 im Marais, dann kurz in der Rue Baudoin 10 im 13. Arrondissement, bevor er in die Rue Saint-Denis 163 auf dem rechten Seineufer wechselt. Im März 1974 zieht er in ein neoklassizistisches Gebäude aus den 30er Jahren in der Rue Émile-Allez 8, in der Nähe der Porte de Champerret. Das ist seine letzte bekannte Adresse.

Andächtig hatte ich vor jeder Station seines Umherreisens verharrt, in der Hoffnung, dort eine Wahrheit zu finden. Der Zugang zu all diesen Gebäuden war durch elektronische Türschlösser geschützt. Ich gab mich damit zufrieden, sie von der Straße aus zu beobachten, und versuchte nicht, hineinzukommen, als könnte der Anblick eines verhängten Gerüsts, eines afrikanischen Frisiersalons, dreier an einem Ständer vergessenen Fahrradleichen, einer auf einer Vortreppe sitzenden Frau oder eines abgezehrten Blumentopfs auf einem Balkon mir auch nur das Geringste mitteilen. Es waren bloße Fassaden, Bühnenbilder mit nichts dahinter, ähnlich wie die schwarzen Löcher im Zentrum von Galaxien, die die Materie einsaugen.

Ich war hinter einem Völkchen her, das es nur auf dem Papier gab. Kein Bismuth in der Rue Doudeauville, kein Badarau in der Rue Baudoin. Auch keine Joelle Recca in der Rue Saint-Denis. Ein Psychoanalytiker in der Nähe hatte denselben Nachnamen, aber mit nur einem »c«, erklärte er mir am Telefon, ohne aufzulegen. Wegen seines Berufs? Die Geschichte interessierte ihn. »Dieser Jacob hatte ja Ausdauer. Er war, wenn ich recht verstehe, ein ewiger Wanderer.« Für den Fall der Fälle gab er mir die Adressen von weiteren Mitgliedern seiner Familie. »Sie können sie in meinem Namen anrufen.« Er war bereit, mich bei Gelegenheit wiederzusehen. Warum nicht in seiner Praxis? »Um sich etwas länger zu unterhalten«, sagte er. »All diese Elemente sind sehr rätselhaft.«

Die Rue Carnot in Chaville überquert die Eisenbahnlinie und führt zu einem Wald. Die Hausnummer 34 war nur ein Parkplatz und gehörte zum Bahnhof nebenan. Doch dort, in diesem Riss im Gewebe der Stadt, hielt Jacob sein Treffen mit einer gewissen Évelyne Löewenguth am 15. November 1972 ab. Durfte man ihm noch glauben? Natürlich tauchte die Dame in keinem einzigen Register auf, die mit wenigen Klicks erreichbar sind. Doch der Name war mir vertraut. Bestand eine Verwandtschaft zwischen ihr und dem Geiger Alfred Loewenguth? Er dirigierte früher ein Jugendorchester in Sceaux. Der Maestro war schon lange tot. Sein Nachfolger an der Spitze des Orchesters glaubte, dass ich mich irrte: »Ich glaube nicht, dass es in der Familie eine Évelyne gab.« Er wusste nicht, wer mir weiterhelfen konnte. »Es gibt nicht mehr viele Loewenguths.«

Wenn man unsichtbar bleiben will, gibt es nichts Besseres als ein Bataillon von Gleichnamigen. Es existierte ein Jean-Claude Audigier, aber nicht in der Rue de la Quarantaine 2bis in Lyon, sondern in Vals-les-Bains in der Ardèche, wo er sich als Wünschelrutengänger, Magnetiseur und Fachmann für Radiästhesie betätigte. »Für alle Anliegen, besonders bei verirrten Tieren, schreiben Sie mir bitte unter Beilage eines Fotos und eines frankierten Umschlags«, erklärte er auf seinem Anrufbeantworter. In meinem Brief fasste ich die Geschichte in ein paar Zeilen zusammen. »Vielleicht sind Sie diesem Jacob B’chiri 1971 begegnet. Wenn das der Fall ist, könnte ich Sie dann anrufen?« Zwei Wochen später rief er mich an. Sein Ton war schmetternd, fast feierlich: »Ich habe Ihren Brief erhalten. Das bin nicht ich!« Er habe nie im Großraum Lyon gewohnt und der Mann war ihm vollkommen unbekannt. Schnell wechselte er das Thema und sprach von sich. Er erzählte mir, wie er mit seiner Rute aufbrach, auf der Suche nach einer Quelle, einem entlaufenen Hund und manchmal sogar nach einer verschwundenen Person. Ich war in Versuchung, seine paranormalen Fähigkeiten zu nutzen, aber er bot mir kein einziges Mal an, mir zu helfen. Der Fall, den ich ihm unterbreitete, lag wohl außerhalb seines Arbeitsgebietes.

Auch Jean Pillet stand im Telefonbuch. In diesem Fall war eine Verwechslung unmöglich. Er wohnte tatsächlich an der auf einer der ersten Seiten des Albums angegebenen Adresse, in Quincié-en-Beaujolais, Saint-Nizier 24. »Er ist verstorben«, antwortete mir seine Witwe. Und das schon vor über vierzig Jahren. Sie hatte sich nie durchgerungen, die Angaben im Telefonbuch zu ändern. »Jacob, sagen Sie? Sind sie sich beim Regiment begegnet? Anders kann man sich doch nicht kennenlernen.« Ihr Ehemann hatte Wein angebaut, wie sein Vater vor ihm. Nach dem Militärdienst hatte er ihr Dörfchen in den Hügeln nie mehr verlassen. »Warten Sie mal, in welcher Kaserne war er noch gleich? Es gibt so viele davon. Das ist alles so lange her.« Sie ging nicht davon ab. Nur die Armee konnte sie zusammengebracht haben. Plötzlich entschuldigte sie sich, als wäre ein Schleier herabgefallen. Nein, ganz sicher, dieser Mann sagte ihr nichts. »Ich sehe nicht, wer das sein soll«, erklärte sie mit festerer Stimme. Und empfahl mir einen anderen Weg. Es gab einen Cousin, der auch Jean Pillet hieß. Ein Geschirrhändler in Beaujon. »Aber er ist tot.«

Ihr Mann machte seinen Wein nicht selbst. Er brachte seine ganze Ernte in die Kooperative. Also kein Weinkeller, den man besichtigen, oder Flaschen, die man kaufen konnte. Er hatte keinerlei Verbindungen zu Kunden, verließ sehr selten sein Dorf und hatte natürlich nie in den Reihen der israelischen Verteidigungskräfte gedient, besser bekannt unter dem Akronym Tsahal, doch manchmal stellte er für die Weinlese Leute ein. Seine Witwe erinnerte sich an keinen Saisonarbeiter namens Jacob.

Da ich beständig hinter einem Gespenst her war, zweifelte ich schließlich sogar an seinen Reisen. Ohne den auf ein paar Initialen reduzierten Laden von Monsieur Teboul hätte ich am Ende alles für falsch gehalten: die Freunde, die ihn beherbergten, die Pensionen, die Hotels, die Daten, die Telefonnummern. Diese ganze Globetrotterexistenz. Lauter Phantasmen, Schimären.

Zumindest die Namen hatte er nicht erfunden. Es gelang mir, einige in alten Telefonbüchern der 70er Jahre in der Bibliothek für Post- und Telekommunikationswesen in der Rue Pelleport zu finden. Bismuth, Badarau, Illous … Die anderen hatten wohl keinen Telefonanschluss. Auch die Adressen stimmten überein. Hier und da nannten die Mikrofilmseiten den Beruf: »Zuschneider von Lederkleidung«, »Vulkanisierer«, »Damenkonfektionsschneider«. Alte, im Verschwinden begriffene Berufe, die mich an den von Monsieur Teboul erinnerten, den Polsterer aus dem Vallon de Montebello. Hatte Jacob B’chiri bei ihnen gewohnt, mit ihnen gegessen oder hatte er sie nur um ihre Dienste gebeten? War er ihr Freund oder einfach ein Kunde?

Meine Nachforschung kam nicht voran und die Produzentin wurde langsam ungeduldig. »Neuigkeiten von John Doe?« Zwei Wochen später: »Rekapitulieren wir mal, wo wir stehen?« »Wir müssen jetzt vorankommen.« Auch der Smiley am Ende für die humorvolle Note änderte nichts an einer gewissen Gereiztheit in ihren Nachrichten. Auf die Texte, die ich ihr schickte, etwas ausgeschmückte Berichte meines Scheiterns, die aber meiner Meinung nach die Basis eines Drehbuchs bilden konnten, erhielt ich keinerlei Kommentar. Sie wollte Jacob, tot oder lebendig.

Ich blieb davon überzeugt, dass sein Album den Schlüssel enthielt. Es versetzte mich in einen fast hypnotischen Zustand. Ich konnte es stundenlang in Augenschein nehmen wie ein indisches Mandala, um endlich seinen Sinn zu verstehen. Seine mehreren hundert Gesichter erinnerten mich an die letzte Szene der Lady von Shanghai, des Films von Orson Welles, wo die Protagonisten in einem Spiegelkabinett bis in den Tod miteinander kämpfen, ohne zu wissen, ob sie auf den anderen schießen oder nur auf dessen Spiegelbild. Auch hier musste man, um zu ihm zu gelangen, jeden Spiegel zerschlagen, hinter dem er sich versteckte.

Ich weiß nicht mehr, ob das Foto von selbst herausfiel oder ob ich es aus Unachtsamkeit herauslöste, als ich das schützende Transparentpapier anhob. Es war das erste der Serie. Das, mit dem er sein Album hatte beginnen wollen. Das, auf dem er in Anzug und Krawatte posierte und seine weißen Zähne zeigte. Auf der Rückseite sah ich handschriftliche Anmerkungen auf Hebräisch und davor ein Datum. Aus Neugier drehte ich das folgende Foto um und entdeckte auf der Rückseite dieselbe kantige, das Foto füllende Schrift. Ich drehte drei weitere um, vorsichtig, mit dem Daumen, und achtete darauf, die Seite nicht zu zerreißen, doch ohne Erfolg, dann jubilierte ich: noch eine Botschaft auf der Rückseite des untersten Photos. Er hatte seine kleinen Mitteilungen kreuz und quer verstreut.

Bis zu diesem Augenblick konnte er jeder sein: ein Spion, Schauspieler, Vagabund, Fabulierer, ein Schnulzensänger, Amateurfotograf, Adept der Teleportation, ein hybrides Wesen, halb Mensch, halb Maschine. Natürlich hoffte ich, endlich die Varianten seiner Mimik, seine Obsessionen, seine Versteckspiele, seine Vorliebe für Geheimnisse und Scheinwerferlicht zu verstehen, diesen Appetit auf das Hell-Dunkel, ich hatte nur die Qual der Wahl. Aber vor allem anderen wollte ich — einfach nur, wenn ich das so sagen kann — wissen, wer er war.